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"Das Blut ruft nach dem Blute"

Korsika, die Insel der Schönheit zwischen Autonomie und Vendetta

Rosemarie Gratz veröffentlichte im "Freitag" eine Analyse über die historischen Wurzeln der gegenwärtigen Auseinandersetzungen auf der französischen Mittelmeerinsel Korsika ("Wie vom Erdboden verschluckt"). Wir dokumentieren Teile daraus:


Von Rosemarie Gratz

Dieser Prozess ließ sich am ehesten mit Floskeln des Kalibers reflektieren, da wollte einer "den Teufel mit dem Satan austreiben". Die Rede ist vom "Fall Bonnet", bei dem gerade erstmals in der Geschichte der Französischen Republik ein Präfekt wegen des "Befehls zur Brandstiftung" zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Tat- und Gerichtsort war Korsika, der verurteilte Bernard Bonnet hatte als höchster Vertreter des Staates auf der Insel gedient.

Da sind zunächst die Clans der Petri und Casanova, der Rossi und Santoni, der Pasqua und Orsini, die auf Korsika seit Jahrhunderten miteinander verwandt und verschwägert sind und am liebsten alles untereinander regeln. Und dann wäre da noch diese Aufsässigkeit gegen Paris, die der Arroganz einer selbstgewissen Metropole viel verdankt. Erst in allerjüngster Zeit erfahren korsische Sprache und Kultur durch den französischen Staat wieder eine gewisse Förderung. Erst nach einem Vierteljahrhundert der Bombenwerfer und alle möglichen Staatsgebäude sprengender "Unabhängigkeitskämpfer". Allerdings ist, was einst als deren politischer Anspruch galt, längst von Mafiastrukturen durchsetzt.

Hier nun also sollte Präfekt Bonnet Ordnung schaffen. Und zur Unordnung gehörten die kleinen Strandlokale - Paillote genannt -, die in aller freiester Auslegung der freien Marktwirtschaft ohne behördliches Einverständnis an einen gut besuchten Strand gesetzt wurden. Einige Berühmtheit genoss das Chez Francis, in dem so vorzüglich gekocht wurde, dass die Gäste per Schnellboot bis aus Saint-Tropez kamen. Dem Wirt wurde ein Abrissbefehl zugestellt. Noch einer. Und noch eine allerletzte Frist - er ignorierte alles. Da brannte seine Paillote in einer Aprilnacht des Jahres 1999 ab, und die Floskel vom "Biedermann und den Brandstiftern" bot sich, den Vorgang zu beschreiben, denn zwei Gendarmen mussten mit Verbrennungen ins Hospital, außerdem hatten sie ein dienstliches Funksprechgerät am Tatort vergessen. Eben "dümmer als die Polizei erlaubt". Der Skandal war perfekt, als die Täter in Uniform zu Protokoll gaben, sie hätten auf Befehl gehandelt. Daraufhin wuchs der Skandal die Befehlsleiter empor, bis zum Präfekten, dem obersten Dienstherren aller Ordnungshüter im Departement. Eine veritable Pariser Regierungskrise war die Folge. Danach zeigte sich das Kabinett Jospin gewissen Autonomieforderungen der Insel gegenüber geneigter. Und der Präfekt, der mit kriminellen Mitteln den Rechtsstaat durchsetzen wollte, stand als Sündenbock vor Gericht.

Nach dem Urteil, gegen das die Bonnet-Anwälte in Berufung gingen, erhob ihr Mandant schwere Vorwürfe gegen Mitarbeiter von Premierminister Lionel Jospin: Dessen Entourage hätte seine "außergewöhnlichen Maßnahmen in außergewöhnlicher Lage" gebilligt. Jospins Getreue konnten sich daran vor Gericht freilich nicht erinnern.

Blut ruft nach dem Blute

Korsika wird gern "Insel der Schönheit" genannt. Den Namen gaben ihr schon die Griechen und meinten damit eine raue Schönheit, die sich archaischer Traditionen rühmt. Eine davon heißt "Vendetta" - zu deutsch: Blutrache. ...

Allerdings blieb die Vendetta stets internen Fehden vorbehalten. Gegen die Obrigkeiten lehnten sich die armen Bauern und Fischer weniger auf. Es änderte sich für sie über die Jahrhunderte ja auch kaum etwas, ob sie von den Genuesern regiert wurden oder seit Ende des 18. Jahrhunderts von den Franzosen, nachdem kurz vor der Revolution 1789 Ludwig XVI. die Insel gekauft hatte.

Erst Mitte der 20. Jahrhunderts gab es auf dem Eiland der armen Fischer und Bauern etwas zu holen, denn nach dem Ende des Krieges in Algerien musste Präsident de Gaulle den von dort vertriebenen Franzosen - den pieds noirs - eine neue Existenz bieten, um sie ruhig zu stellen. Viele hatten in Algerien Weinbau betrieben. Was lag also näher, als sie in vertrautem Mittelmeerklima auf Korsika anzusiedeln. Das sorgte in Ajaccio für erheblichen Unwillen, die Staatsmacht in Paris hatte die Korsen nicht groß gefragt. Als dann 1976 auch noch einer dieser neu siedelnden Winzer mit Panschereien den guten Ruf des korsischen Weinbaus bedrohte, war das der berühmte Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Junge Burschen besetzten einen Weinkeller in Aleria. Die Polizei rückte an. Es wurde geschossen. Es gab zwei tote Polizisten. Das - so wird bis heute erzählt - sei die Geburtsstunde des bewaffneten Kampfes gewesen, mit dem zunächst die FLNC entstand, die Nationale Korsische Befreiungsfront. Zu ihren ersten Anhängern zählte der damals gerade 16jährige Francois Santoni, der im August vergangenen Jahres erschossen wurde - zu ihren ersten Anführern gehörte der etwas ältere Alain Orsoni. Die Waffenbrüder waren nicht zimperlich, als Erben der Vendetta sorgten sie dafür, dass plastiquer als neues Verb ins insulare Vokabular geriet - abgeleitet vom Substantiv Plastiksprengstoff, dem bevorzugten "Handwerkszeug" des FLNC.

Damit wurden staatliche Gebäude ebenso in die Luft gejagt wie im Bau befindliche Ferienanlagen, wenn diese nach dem Eindruck des FLNC-Maquis die Insel verschandelten und daran nur Leute vom "continent" verdienten. Irgendwann um das Jahr 1990 bekamen die Waffenbrüder Streit. Aus dem FLNC wurden drei verschiedene Gruppierungen, jeweils ein bewaffneter Arm im Untergrund und ein legaler in der Politik. Besonders heftig bekämpften sich fortan FLNC-canal historique, deren politischer Flügel A Cuncolta Naziunalista von Francois Santoni geführt wurde, und FLNC-canal habituel, der unter dem Kommando von Alain Orsoni stand. Es gab Tote zuhauf auf beiden Seiten. Die Anführer waren Mitte der neunziger Jahre sämtlich untergetaucht.

Märtyrer des Maquis

Als die Journalistin aus Paris, neugierig geworden durch die Berichte von maskierten Untergrundkämpfern, die bei Nacht in einen Wald zur Pressekonferenz laden, auf der Insel nach kompetenten Gesprächspartnern sucht, stößt sie zunächst nur auf Anrufbeantworter, auf denen sie Fragen hinterlassen kann. Wobei klar ist, dass sich auf einer so kleinen Insel schnell herumspricht, wenn da eine herumschnüffelt. An einem Sonntag im Dezember wird ihr schließlich auf die Frage nach einem Weg über die Berge von der Hotelwirtin ein Pfad gewiesen, der nach einigen Serpentinen direkt zu einem Gehöft führt. Davor eine Art Grabstein mit dem Bild eines jungen Mannes und dem Text "Guidu Orsoni, Märtyrer für die korsische Sache, ermordet am 17.06.83". Orsoni, das ist eine der Nationalistenfamilien, zu der die Journalistin bisher vergeblich Kontakt gesucht hat. Als sie am Abend in der Herberge von ihrem Erlebnis erzählte, erfährt sie nun, zufällig bei einem Zweig dieser Familie eingekehrt zu sein, weshalb der Hinweis auf besagte Tour wohl nicht zufällig kam.

Sie steht also am Grabstein und fotografiert, als ein junger Mann aus dem Gehöft näher kommt. Ob er den Toten kenne? Sicher, es war ein Cousin. Warum er ermordet wurde? Weil er Nationalist war, antwortete der junge Mann. Dann erscheint eine Frau um die 50 im Morgenmantel in der Tür. Meine Mutter, sagt der junge Mann, geht ihr vom Besuch berichten und kehrt mit einer Einladung zurück. Es folgten ein Frühstück mit sehr gutem Café und eine Besichtigungstour durch Ölmühle und Haus. Ja, sie seien Orsonis, und wenn die Journalistin mehr über den toten Guidu - den Bruder von Alain Orsoni - erfahren wolle, solle sie doch seine Mutter fragen, die Bürgermeisterin des kleinen Ortes Vero.

Clans und "Gangsterisation"

Ein Anruf und die nächste Einladung. Bei der Mutter des Nationalistenführers kommen dann schnell die brennenden Fragen auf den Tisch. Und Antworten. Die Nationalisten, sagt Madame Orsoni, wollten keine Trennung von Frankreich, eher "eine Art Föderalismus so ähnlich vielleicht wie in Deutschland". Bomben seien die Folge davon, dass der Staat die politischen Probleme nicht löse. Ihr noch lebender älterer Sohn Alain habe mit seiner MPA bereits eine Politik ohne Bomben versucht.

Leider, meint Madame Orsoni, würden die Mittel, die Frankreich und die EU einsetzten, in zu wenige Hände gelangen. Das sei aber Fehler der Korsen selbst, denen immer noch nicht beizubringen sei, eigenverantwortlich zu handeln. An dieser Stelle ist von den Clans die Rede. Es fällt das Wort "gangsterisation": "Wenn einer ein Restaurant hat und das läuft nicht mehr so gut, weil nebenan ein anderer mit seinem Restaurant die Gäste anzieht, dann regelt man das zuweilen mit einer Bombe."

Und der Tod ihres Sohnes Guidu? Da sprächen manche Leute von einem "Mafiakrieg": Guidu Orsoni wollte an jenem 17. Juni 1983 mit dem Auto nach Porte Vecchio, wo er nie ankam. Wie vom Erdboden verschluckt. Die Brüder Orsoni waren gerade dank einer Amnestie von Präsident Mitterrand aus dem Gefängnis entlassen worden. Die Polizei verhaftete kurz darauf 14 Leute unter dem Verdacht, Guidu entführt zu haben. Am 7. Juni 1984 drang dann ein Kommando der von Bruder Alain geführten FLNC in das Gefängnis von Ajaccio ein und tötete zwei der mutmaßlichen Mörder von Guidu. Madame Orsoni: "Das Blut ruft nach Blut." Vendetta, Frankreich 1984.

Zurück zum Mord an Francois Santoni im August 2001 und zur Frage: Wem nützt es, wenn ein ehemaliger Bombenleger, der Gewalt abgeschworen hat, zum Schweigen gebracht wird? Nach dem Tod des Korsen gab der konservative Figaro seine Antwort mit der Schlagzeile "Der Plan von Jospin ist zu Tode getroffen". Der Regierungschef hatte versucht, Korsika mit offenen Verhandlungen über ein neues "Statut für die Insel", das auf weitgehende Autonomierechte hinauslief, zu befrieden. Seine rechtsbürgerlichen Vorgängerregierungen waren mit ihrer Politik der Geheimverhandlungen - bei denen Santoni einer der Partner war - gescheitert.

Der jetzige, nach dem Sitz von Lionel Jospin "Matignon-Prozess" genannte Lösungsansatz war stets heftig umstritten, so dass die Versuche des eben verurteilten Ex-Präfekten Bonnet, die Verantwortung für seine ungesetzlichen Mittel direkt auf Paris abzuwälzen, denkbar ungelegen kamen und Wasser auf die Mühlen der konservativen Opposition leiteten. Dabei gehörte Francois Santoni zweifellos zu den lautesten Kritikern der Pariser Ideen. Er argwöhnte, da würden Gelder fließen, aber wieder nur in die Taschen einiger weniger Leute. Wie weit sich hier wirklich ein Saulus zum Paulus gewandelt hatte oder wie weit die Beleidigung eines von den Entscheidungen verdrängten Mannes eine Rolle spielte - man wird es wohl nicht mehr erfahren.

Aus: Freitag 06, 1. Februar 2002


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