Kuba bewegt sich
Die Öffnung und der Wandel auf der Karibikinsel sind sichtbar - mehr Privatwirtschaft und mehr Debatten
Von Dario Azzellini, Havanna *
Gestern wurde Kubas Einkammerparlament
neu gewählt. Der Volkskongress
hat wenig reale Macht. Pro
Kandidat gibt es einen Sitz und damit
keine Überraschungen. Doch jenseits
der institutionellen Strukturen ist die
Karibikinsel derzeit durchaus im
Wandel begriffen.
Die Meinungen zum Wandel in
Kuba gehen auseinander: »Gar
nichts«, antwortet der Chauffeur
auf die Frage, was sich geändert
hat, wortkarg. Er drückt auf dem
CD-Player der Autoanlage herum
und wechselt die Musik. Offensichtlich
ist er nicht zum Reden
aufgelegt. Dass Kuba im Wandel
begriffen ist, zeigt sich für Außenstehende
indes schon am Taxi: ein
schwarzer Neuwagen mit Schiebetüren
und einer Klimaanlage,
die das Wageninnere trotz tropischer
Außentemperaturen fast auf
Gefrierschrankniveau herunterkühlt.
Ein Blick nach draußen zeigt
weitere Veränderungen: Auf den
Straßen herrscht für kubanische
Verhältnisse regelrechter Autoverkehr.
Neuwagen machen ein
gefühltes Drittel des Fuhrparks
aus. Und auf den Straßen von Miramar,
etwas außerhalb von Havanna,
sind beim Vorbeifahren
sofort zahlreiche kleine Restaurants
und Läden zu sehen, die
letztes Jahr noch nicht da waren.
Der Grund für die Kuba-Reise
ist das »X. Internationale Arbeitstreffen
Emanzipatorischer Paradgimen«. Eine Konferenz, die von
linken regierungsunabhängigen
Basiskräften organisiert wird und
alle zwei Jahre stattfindet. Im
zentralen Versammlungssaal des
Gewerkschaftshauses, das für die
Konferenz zur Verfügung gestellt
wurde, hängen an den Wänden
Transparente und Fahnen. Auf einem
lila Banner verkündet eine
Basisorganisation aus Nicaragua
ihre Solidarität mit Kuba, auf einem
handgeschriebenen Plakat
steht »Revolutionär sein heißt Häretiker
sein«. »Solidarität mit den
chilenischen Studierenden« verkündet
ein anderes Plakat, wieder
ein anderes drückt Solidarität mit
dem erkrankten venezolanischen
Präsidenten Hugo Chávez aus. Diverse
Plakate und Transparente
verkünden feministische Positionen,
andere wiederum Solidarität
mit den Zapatistas aus dem mexikanischen
Chiapas. Ausdruck der
Vielfalt Lateinamerikas.
Am Ausgang des Saals und
draußen stehen Tische, auf denen
linke Bücher und Zeitschriften,
DVDs, Postkarten, Aufkleber und
mit Parolen bedruckte T-Shirts
feilgeboten werden. Es sieht aus
wie auf jedem linken Basiskongress
in Lateinamerika. Für die
kubanischen Teilnehmer und
Teilnehmerinnen ist das aber keineswegs
gewöhnlich.
Die Atmosphäre ist ausgelassen,
überall bilden sich kleine
Gruppen und diskutieren angeregt
miteinander. Etwa 400 linke Aktivisten
und Intellektuelle aus Lateinamerika,
den USA und dem
Baskenland sind in diesem Jahr
gekommen. Die Konferenz wird
wesentlich von der Forschungsgruppe
GALFISA (Sozialphilosophie
und Wertelehre in Lateinamerika)
des Philosophieinstituts
der Universität von Havanna und
vom »Centro Martin Luther King«
organisiert. Unterstützung erhalten
sie von diversen linken akademischen
Organisationen und Bewegungsnetzwerken
aus Lateinamerika
sowie dem Baskenland.
Allein dass eine Konferenz auf Kuba
nicht von offiziellen Regierungsinstitutionen
organisiert ist,
ist schon eine Besonderheit. Doch
auch das Format, die Inhalte und
die Gäste der Konferenz zeugen
von den in Kuba stattfindenden
Veränderungen.
Am ersten Abend wird die
Konferenz mit Berichten verschiedener
Frauen aus den Basisräten
des Zentrums Havannas eröffnet.
Doch statt von allen erwarteten
langatmigen Lobeshymnen auf
Regierung, Staat und Sozialismus,
sprechen die Frauen eine nach der
anderen von den Schwierigkeiten
im Alltag. Eine Frau berichtet davon,
keine anständige Wohnung zu
haben und auf der Suche nach
Verbesserung seit Jahren von allen
Behörden abgewiesen zu werden.
Die schonungslosen Berichte
der kubanischen Frauen, die zugleich
keinen Zweifel daran lassen,
dass sie die kubanische Revolution
unterstützen, sind so ungewohnt,
dass die Internationalistin, die am
nächsten Konferenztag den Abend
noch einmal zusammenfasst, glatt
vergisst, die kritischen Töne zu erwähnen.
In meiner Diskussionsrunde
geht es um Volksmacht und Partizipation.
Aktivisten aus dem Umfeld
der Zapatistas in Mexiko, von
den Naza-Indianern in Kolumbien
und aus Basisräten aus Venezuela
nennen ihrer Ansicht nach notwendige
Elemente für einen partizipativen
Sozialismus: lokale
Selbstverwaltung, Arbeiterkontrolle,
demokratische Partizipation
an Entscheidungen, die Erarbeitung
von eigenen Lösungen auf der
Grundlage der eigenen Kultur und
vieles mehr. Die Diskussion kommt
in Gang. Pablo, Mitte 60, eine ansehnliche
Karriere im kubanischen
Verwaltungsapparat hinter sich,
greift die Frage der Arbeiterkontrolle
auf und betont, wie wichtig es
sei, gerade jetzt auf Kuba dies zu
diskutieren und umzusetzen. »Unser
großes Problem ist die Bürokratisierung
auf Kuba, wir brauchen
mehr Selbstverwaltung.« Es
hapert offenbar in der Praxis: »Eigentlich
haben wir ja verschiedene
Ebenen, auf denen eine direkte
Einflussnahme der Bevölkerung
auf ihre Belange stattfinden soll,
aber es funktioniert kaum und anstatt
zu garantieren, die Meinung
der Bevölkerung in die Regierungsinstanzen
zu tragen, geschieht,
wenn überhaupt etwas
geschieht, eher das Gegenteil«, so
Esther, eine Akademikerin Mitte
50 aus Havanna. Pablo fügt hinzu:
»Staat und Revolution
sind eigentlich
ein Widerspruch,
auch wenn wir in absehbarer
Zeit nicht auf den
Staat verzichten
können angesichts
der internationalen
Verhältnisse. Daher
stellt sich die
zentrale Frage, wie
wir mit diesem
Widerspruch umgehen,
damit er nicht die Revolution
zunichtemacht.« Aus marxistischer Sicht
eine banale Feststellung, doch für
Kuba und jeden anderen parteiorientierten
Staatssozialismus eine
bis vor kurzem noch unaussprechliche
Erkenntnis. Der kubanische
Staatsapparat ist indes weit
davon entfernt, so unbeweglich zu
sein wie von außen häufig dargestellt.
In der Landwirtschaft sind Genossenschaften
bereits seit einigen
Jahren eingeführt worden. Auch
wenn die Partizipation der Beschäftigten
noch zu wünschen übrig
lässt und die Eingriffe des
Staates in die Genossenschaften
von ihrer begrenzten Selbstverwaltung
zeugen, ist dies ein bedeutender
Schritt. Lange Zeit galten
Genossenschaften auf Kuba als
kleinbürgerlich.
Nach der jüngsten Öffnung Kubas
für die Privatwirtschaft veröffentlichte
die kubanische Soziologin
Camila Piñeiro Harnecker 2011
einen Sammelband zu Genossenschaften
im Verlag des unabhängigen
»Centro Martín Luther
King«. Harnecker, Tochter des Revolutionsführers
Manuel Piñeiro
»Rotbart« und der chilenischen
Soziologin Martha Harnecker –
wollte mit anderen in diesen wichtigen
Zeiten des Umbruchs neben
dem individuellen Unternehmertum
auch Erfahrungen kollektiver
Unternehmenspraktiken als Option
anbieten. Die erste Auflage von
2000 Exemplaren war innerhalb
von nicht einmal drei Monaten
ausverkauft. Der Staat wurde aufmerksam
und nahm das Buch in
das offizielle Programm eines
staatlichen Verlages auf. Seit einem
Jahr diskutiert die kubanische
Regierung nun auch die Umwandlung
von verschiedenen Dienstleistungsstrukturen,
vor allem von
Restaurants und Cafés, und ihre
Übergabe an die Beschäftigten.
In jeder Pause bilden sich auf
dem Kongress Trauben um die
Büchertische, die linke Literatur
feilbieten, die sonst auf Kuba nicht
zu finden ist. Ana, Agraringenieurin
aus Kuba, entdeckt auf einem
Büchertisch die spanische
Ausgabe von Marina Sitrins Buch
zu »Horizontalität: Stimmen der
Volksmacht in Argentinien«. In
dem Buch berichten Stadtteilversammlungen
und besetzte Betriebe
über ihre basisdemokratischen
Organisationsformen und den
Aufbau von Alternativen. Ana ist
ganz begeistert: »Das kann ich gut
einsetzen bei meiner Arbeit auf
dem Land!« Sie arbeitet mit ländlichen
Gemeinschaften und mit einigen
der neu eingerichteten landwirtschaftlichen
Genossenschaften.
Die anwesende Autorin Marina
Sitrin, selbst Aktivistin von Occupy
Wall Street, schenkt Ana ihr
Buch. So handhaben es die meisten
anwesenden internationalen
Gäste mit den Kubanern und Kubanerinnen,
deren Peso-Löhne umgerechnet selten mehr als 25
bis 30 US-Dollar betragen.
Mit ihren regulären Monatslöhnen
können staatliche Angestellte
auf Kuba zwar das Notwendige
zum Leben kaufen und sind
angesichts der Leistungen in den
Sektoren Bildung, Kultur, Sport
und Gesundheit auch nicht aus
dem sozialen Alltag ausgeschlossen,
»Extras« lassen sich damit jedoch
nicht bezahlen. Doch die Extras
werden immer häufiger.
Staatliche Geschäfte und sogar
kleinere »Einkaufszentren« bieten
zunehmend importierte Waren
und Lebensmittel gegen konvertierbare
Kubanische Peso (CUC)
an. Ein CUC entspricht einem USDollar
und ist derzeit etwas mehr
Wert als 24 reguläre kubanische
Pesos. Hunderttausende Kubaner
und Kubanerinnen haben als
Selbstständige, sogenannte cuentapropistas,
ihr eigenes Geschäft
begonnen. Säfte und Sandwiches
werden aus dem Wohnzimmer
heraus oder durch die Gitter der
Eingangstüren verkauft. Obst- und
Gemüsehändler bieten ihre Waren
auf Märkten und in Eckläden an,
überall entstehen neue »Paladares
«, wie die Privatrestaurants genannt
werden.
Beim Spaziergang durch Havanna
fallen kleine Geschäfte ins
Auge, aber auch Lebensmittelhändler
mit Karren und Straßenstände
mit Büchern, Wasserhähnen,
Technikausrüstung und sogar
kopierten Filmen, TV-Serien und
Musik-CDs. Besonders viele
Händler verkaufen importierte
Kleidung und Modeaccessoires.
»Es hat sich viel geändert, aber
für mich ist alles gleich geblieben«,
stellt Daniela nüchtert fest. Sie arbeitet
als Ärztin in einer Klinik, ist
45 Jahre alt und lebt mit ihrem
Ehemann und ihrer Mutter. »Meine
Arbeit ist die gleiche, mein
Schichtplan ist gleich geblieben
und mein Gehalt ist unverändert.
Ich sehe, das ständig neue Geschäfte
und Restaurants eröffnen,
ich kann mir aber nichts davon
leisten.« Daniela ist bedingt durch
ihre Arbeit immer wieder mal im
Ausland, sie reist zu Kongressen
und Konferenzen, kürzlich war sie
in Frankfurt am Main. So wie vielen
anderen Kubanern auch käme
es ihr niemals in den Sinn, nicht
nach Kuba zurückzukehren.
»Grundsätzlich halte ich Sozialismus
für die richtige Gesellschaftsform.
Und auch wenn ich finde,
dass einiges in Kuba anders laufen
müsste, um weiter in Richtung Sozialismus
zu gehen, ich will nicht
woanders leben. Und ich will auch
keinen anderen Beruf ausüben, ich
finde es wichtig und richtig, Ärztin
zu sein«. Doch so wie viele andere
hoch qualifizierte staatliche Angestellte
fragt sich auch Daniela insgeheim,
was sie denn falsch gemacht
hat, wenn Privilegien nun
käuflich sind und Engagement für
die Gesellschaft den Zugang eher
behindert.
Die sozialen Unterschiede
wachsen rasant zwischen Stadt
und Land, zwischen Selbstständigen
und Angestellten, zwischen
Berufen mit Kontakt zu Touristen
und solchen ohne. So ziehen es
manche hoch ausgebildete Akademiker
nun doch lieber vor, ein eigenes
Geschäft aufzubauen, anstatt
in ihrem Beruf zu arbeiten.
»Ich weiß nicht, ob diese ganze
Öffnung für die Privatwirtschaft
gut ist«, gibt Malev zu bedenken.
Malev, Brite mit asiatischen Eltern,
ist erst seit wenigen Wochen in
Havanna. Er ist seiner kubanischen
Freundin Niuska gefolgt, die
er während ihres Studiums in
Barcelona kennengelernt hatte.
»Einerseits besteht nun auch hier
Zugang zu vielen Gütern, die für
uns schon lange zum Alltag gehören,
andererseits spaltet dies die
Gesellschaft. Kurzfristig blieb Kuba
vielleicht nichts anderes übrig,
aber langfristig …« Die Bedenken
sind Malev ins Gesicht geschrieben.
Am Tag meines Abflugs aus
Kuba tritt die neue Reiseregelung
in Kraft. Nun können alle Kubaner
und Kubanerinnen einen Pass erhalten
und reisen, wenn sie die
Konditionen der Länder erfüllen,
die sie besuchen wollen. Eine Woche
später geht der von Venezuela
initiierte lateinamerikanische Gemeinschaftssender
TeleSUR in Kuba über Antenne auf Sendung –
als erster offiziell zu empfangender
Auslandssender. Das Kuba sich
gerade rasant verändert, steht außer
Frage.
* Der Autor ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Universität
Linz mit Schwerpunkt Lateinamerika
und soziale Transformation.
Aus: neues deutschland, Montag, 04. Februar 2013
Zurück zur Kuba-Seite
Zurück zur Homepage