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Wandel "ohne Eile, aber ohne Pause"

Die Essenz der Reformen lautet: Mehr Eigenverantwortung, weniger Belastung für den Staat

Von Harald Neuber *

Seit fünf Jahren ist in Kuba Raúl Castro an der Regierung. Einer neuen Kultur in der Politik sollen nun wirtschaftliche Neuerungen folgen.

Es sind in Kuba mitunter Details, die auf größere Veränderungen schließen lassen. Als am vergangenen Dienstag in Ciego de Ávila, rund 400 Kilometer östlich von Havanna, die Feierlichkeiten zum 58. Jahrestag des Sturms auf die Moncada-Kaserne stattfanden, saß Staats- und Regierungschef Raúl Castro in der ersten Reihe. Der langjährige Verteidigungsminister trug eine weiße Guayabera, ein regionaltypisches Leinenhemd, und ließ seinem Stellvertreter José Ramón Machado Ventura den Vortritt. Der Unterschied zum Stil des Revolutionsführers Fidel Castro war deutlich, der in Uniform mitunter über Stunden hinweg emotionale Reden über Kuba und die globale Lage hielt.

Machado Ventura beschränkte sich auf aktuelle Punkte. Die Regierung sei tagtäglich damit befasst, wirtschaftspolitische Neuerungen umzusetzen, die auf dem Parteitag im April beschlossen worden waren. Unter der Leitung des Vizepräsidenten des Ministerrates, Marino Murillo, würden die »Leitlinien«, so der Name des umfassenden Dokuments, in Gesetze gefasst. Am kommenden Montag werden die 600 Abgeordneten der Nationalversammlung in Havanna zusammentreffen, um die Bestimmungen zu debattieren und abzusegnen.

Der laufende Prozess ziele darauf ab, »definitive Lösungen« für »alte Probleme« zu finden. »Dem Volk sagen wir das deutlich: Es kann versichert sein, dass wir, wie es einmal hieß, ohne Eile, aber auch ohne Pause voranschreiten«, sagte Machado. Der wirtschaftspolitische Wandel werde systematisch vorangetrieben, ohne sich – wie in den Jahren der Notwirtschaft nach 1990 – mit »Flicken- und Improvisationspolitik« über Probleme zu retten. Zugleich rief Machado die Bevölkerung zu einem Mentalitätswandel auf. Es gehe darum, die Passivität und die Erwartungshaltung in staatliche Zuwendungen zu überwinden. Auch gegen bürokratische Hürden bezog der Regierungsvize klar Stellung. In der Kommunistischen Partei müssten die Vorurteile gegen das private Unternehmertum überwunden werden.

Erste Zahlen zum wirtschaftspolitischen Wandel liegen bereits vor. In den Städten haben demnach 320 000 Menschen Lizenzen für selbstständige Tätigkeiten in 178 Berufen beantragt, an 140 000 Kubanerinnen und Kubaner wurde Ackerland zur Bestellung übergeben. Dennoch sind die wirtschaftlichen Effekte der Neuerungen noch nicht erkennbar. Einen Schub soll die Verabschiedung neuer Gesetze und Regelungen durch die Nationalversammlung am Montag bringen.

Auf einer Tagung des Ministerrates wurde unlängst bereits der Verkauf von Autos und Wohnungen legalisiert. Bislang konnten die Wohnungen – allesamt in staatlichem Besitz – nur getauscht werden. Nun können auch Auslandskubaner und Ausländer mit Aufenthaltsgenehmigung Wohnraum kaufen und verkaufen. Durch diese Reform auf dem Wohnungsmarkt soll der illegale Handel mit Wohnraum beendet werden. Ebenso wie beim Kleinunternehmertum erhofft sich die Regierung davon Steuermehreinnahmen und eine Abkehr vom kostenintensiven Versorgungsstaat bei gleichzeitiger Kontrolle: Auch künftig kann niemand mehr als eine Wohnung besitzen.

Die wirtschaftspolitischen Veränderungen bedeuten auch einen kulturellen Wandel des kubanischen Sozialismus. In dem Maße, wie ein neuer Binnenmarkt aufgebaut wird, will sich der Staat aus der Versorgung zurückziehen. Betroffen ist davon unter anderem das seit 1962 bestehende System der Bezugsmarken, der »Libreta de Abastecimiento«. Auch die Freiwilligenarbeit, die seit 1977 etwa von Studierenden in der vorlesungsfreien Zeit verrichtet wurde, wurde unlängst abgeschafft.

Die Essenz der Reformen lautet: Mehr Eigenverantwortung, weniger Belastung für den Staat, der sich auf seine zentralen Aufgaben konzentrieren soll. Flankiert wird der Prozess – auch mit Blick auf eine landesweite Konferenz der regierenden Kommunistischen Partei Anfang kommenden Jahres – von einer weitreichenden Debatte. Es gehe darum, den Staatszentralismus und die hemmende Bürokratie innerhalb des Sozialismus zu überwinden, schreibt etwa Olga Fernández Ríos vom Philosophischen Institut der Universität Havanna, die für »demokratischere Methoden und mehr Beteiligung der Bevölkerung« wirbt. Vor dem Hintergrund der entstehenden Privatwirtschaft kritisiert Fernández Ríos die Gleichsetzung von staatlichem und sozialem Eigentum. Der Staat müsse die Kontrolle über die Produktionsmittel, die Infrastruktur und das Agrarland behalten, schreibt sie in einem Essay. Es sei jedoch nicht die Aufgabe des Staates, die Bevölkerung zu versorgen, zumal Subventionen unabhängig von der sozialen Lage der Empfänger, vom Standpunkt der sozialen Gerechtigkeit gesehen, fragwürdig sei. »Die Arbeitsleistung muss wieder als Hauptweg der persönlichen und sozialen Entwicklung anerkannt werden«, fordert Fernández Ríos. Raúl Castro wird dieser Auffassung beipflichten.

Castro folgt auf Castro

31. Juli 2006: Die Abendnachrichten geben Fidel Castros Erkrankung bekannt. Sein Bruder Raúl Castro Ruz, Erster Vizepräsident des Staats- und des Ministerrates und Verteidigungsminister, übernimmt die Staatsgeschäfte provisorisch.

29. März 2007: Fidel Castro publiziert seine erste Reflexion. Seitdem meldet er sich regelmäßig in der kubanischen Tagespresse mit Reflexionen zu Wort.

19.2.2008: Fidel Castro erklärt seinen Rückzug von den politischen Ämtern.

24.2.2008: Wahl Raúl Castros zum neuen Vorsitzenden des Staats- und des Ministerrates

13.12.2008: Erste Auslandsreise Raúl Castros nach Venezuela; Vereinbarung über enge Zusammenarbeit mit Präsident Hugo Chávez.

16.4.2011: VI. Parteitag der Kommunistischen Partei; Revolutionsführer Fidel Castro (84) gibt seinen Posten als Parteichef (Erster Sekretär des ZK) offiziell an Staatschef Raúl Castro (79) ab. Verabschiedung eines Paketes von über 300 wirtschaftspolitischen Reformmaßnahmen.



* Aus: Neues Deutschland, 30. Juli 2011


Ziel ist der Abbau von Nahrungsmittel-Importen

Maria Elena Salar und Dilcia García über die Agrarreform in Kuba, ein Kernstück von Raúl Castros Reformprogramm **

ND: Kuba befindet sich mitten in einem wirtschaftlichen Reformprozess, der mehr Effizienz und Selbstversorgung gewährleisten soll. Dennoch muss Ihr Land nach wie vor 80 Prozent der Nahrungsmittel importieren. Weshalb vermindert sich die Abhängigkeit von den Einfuhren nicht?

Maria Elena Salar: Weil die Verteilung von fruchtbarem Boden an Kleinbauern mit dem Dekret 259 erst Mitte 2008 verfügt wurde und ein solcher Prozess länger braucht, um einen gesamtwirtschaftlichen Effekt zu erzielen. Viele der neuen Bauern verfügen noch nicht über die notwendigen Materialen und wir haben in Kuba ein enormes Problem mit der eingeschleppten Schadpflanze Marabú. Oft muss das Ackerland erst gesäubert werden. Das Wichtigste ist die Zielvorgabe: Produktion für den Binnenmarkt und der Abbau der Importe. Das hängt auch damit zusammen, dass die Bezugsmarken abgeschafft werden sollen. Das kann natürlich nicht von heute auf morgen geschehen. Aber es wird in dem Maße geschehen, wie der Binnenmarkt die Bedürfnisse der Bevölkerung decken kann.

Dilcia García: Die Idee ist, künftig nicht mehr Lebensmittel oder die produzierende Wirtschaft staatlich zu subventionieren, sondern die bedürftigen Menschen. Das ist der große Unterschied zum langjährigen System der Bezugsmarken, das eine allgemeine und flächendeckende Subventionierung vieler Güter bedeutete. In dessen Genuss kamen alle Kubanerinnen und Kubaner, unabhängig von ihrer sozialen Lage.Nun geht es darum, dieses System zu diversifizieren. Der Aufbau einer eigenen Nahrungsmittelproduktion ist dabei zentral. Und es ist eine strategische Frage der Wirtschaftspolitik.

Laut einer Meldung der Nachrichtenagentur AIN sind 77 Prozent des Ackerlandes bereits an Produzenten vergeben. Müsste sich nicht schon ein Effekt zeigen?

Salar: Wie gesagt, die Produktion braucht mehrere Jahre, um anzulaufen. Zumal der Vergabeprozess noch läuft und viele Produzenten das neue Handwerk erst lernen müssen. Wir sind in dieser Hinsicht in einer Umbruchphase: Erst wenn die Produktion von Nahrungsmitteln im Land stabil ansteigt, können die Importe gesenkt werden.

Welche Rolle spielt der Mangel an Produktionsmitteln und Arbeitsgerät?

Salar: Das ist natürlich ein großen Problem, das auch mit der US-Blockade gegen Kuba zusammenhängt.

García: In Kuba setzen wir auch wegen dieser externen Probleme auf den Ausbau der lokalen Märkte. Das heißt, es soll an Ort und Stelle für das unmittelbare Umfeld produziert werden. Produktion, Verarbeitung und Konsum finden nach dieser Idee in unmittelbarer Nähe statt. Dieses Konzept hat sich in den Städten bewährt, wo die Produktion in Gärten angekurbelt wurde. Und nun wird diese lokale Produktion auf die stadtnahen Bereiche ausgeweitet, quasi die grünen Gürtel um die Städte. Der Vorteil dessen ist ja auch, dass keine Ressourcen durch unnützen Transport von Waren verbraucht werden.

Kuba hat sich in den vergangenen Jahren stärker in die regionalen Märkte Lateinamerikas und der Karibik integriert, vor allem in das Staatenbündnis ALBA. Wie wirkt sich diese neue Kooperation aus?

Salar: Das ist in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft eine entscheidende Hilfe. Vor allem – was die Kooperation mit Venezuela betrifft – bei der Versorgung mit Treibstoff. Das betrifft übrigens nicht nur Kuba, sondern auch die Dominikanische Republik und andere Länder, die über keine oder unzureichende eigene Erdölvorkommen verfügen. Der neue solidarische Handel ist für die gesamte Region eine große Chance. Aber natürlich versuchen die USA, diese Integration permanent zu stören.

García: Kuba trägt zu dieser Entwicklung bei, indem Fachleute in vielen verschiedenen Bereichen ausgebildet werden. Es sind ja nicht nur unsere Ärzte, die im Ausland Hilfe leisten. In Kuba werden tausende Mediziner und Fachleute anderer Bereiche ausgebildet, damit sie später in ihren Ländern beim Aufbau der Wirtschaft helfen. Kurz: Es geht nicht nur um einen solidarischen Handel, sondern auch um gegenseitige Hilfestellung beim Aufbau nachhaltiger Wirtschaftsstrukturen.

** Dilcia García und Maria Elena Salar (Projektleiterin) gehören der Kubanischen landwirtschaftlichen Vereinigung für Tierproduktion ACPA an. (ACPA=Asociación Cubana de Producción Animal.)

Aus: Neues Deutschland, 30. Juli 2011



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