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"Ich will mit deinem Leben tauschen!"

Kuba setzt strategisch und geschickt auf den Tourismus als Devisenbringer. Die Bevölkerung sieht dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge

Von Martin Ling, Havanna *

Seit dem Zusammenbruch des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe ist die Devisenbeschaffung für Kuba dringlicher denn je, um den hohen Importbedarf zu stillen. Seit 1990 setzt die mit Sonne, schönen Stränden und Landschaften überreichlich gesegnete karibische Insel auf den massiven Ausbau des Tourismus. Mit beträchtlichem wirtschaftlichen Erfolg. Gesellschaftlich ist die Forcierung des Geschäfts mit einkommensstarken Ausländern eine Gratwanderung, wird das Land doch mit Konsummustern konfrontiert, die mit dem Alltag der Kubaner nichts zu tun haben.

Die Quintessenz des kurzen Dialogs spricht Bände: »Woher kommst du?«, fragt Alexandre. »Aus Deutschland«, antworte ich. »Ich will mit deinem Leben tauschen!«, meint der Mittzwanziger, der in der Altstadt von Havanna das Gespräch sucht. »Du willst ins kalte Deutschland?« »Nein, ich will nicht das Land tauschen, sondern nur das Leben, einen vernünftigen Lohn erhalten, damit ich nicht mehr ausländische Touristen um Geld für Milchpulver anhauen muss.«

Die tägliche Jagd nach dem CUC

Milchpulver gibt es wie viele Güter selbst des täglichen Bedarfs nur gegen den Peso Convertible (CUC) und nicht für den Peso Cubano, in dem die Kubaner überwiegend ihr Gehalt beziehen. Der CUC löste 2004 den 1993 aus der Not legalisierten US-Dollar als Zweitwährung ab. Der Lebensstandard einer kubanischen Familie hängt heute weitgehend vom Zugang zum CUC ab. Wer wie 60 Prozent der Bevölkerung keine Überweisungen von im Ausland lebenden Verwandten erhält, muss sich seine CUC anderweitig besorgen, denn das Warenangebot, das es für den kubanischen Peso gibt, ist arg eingeschränkt. Ein schneller Dank nach Erhalt des Milchpulvers im Laden und Alexandre ist mitsamt seiner Freundin flugs entschwunden. Ob sie das Milchpulver wirklich selbst brauchen oder aber mit einem informellen Milchpulverhandel ihr Einkommen aufbessern, lässt sich schwer sagen. Sicher ist, dass Milchpulver knapp und teuer ist. Für viele Kubaner in den touristischen Gebieten ist die Jagd nach dem CUC Alltag.

Zu den touristischen Hauptattraktionen Kubas gehört fraglos die Altstadt Havannas, die 1982 von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Um ihren Erhalt und die Sanierung kümmert sich die staatliche Habaguanex, benannt nach einem Taino-Ureinwohner, der vor der Eroberung durch Spanien das Gebiet um Havanna kontrollierte. Ihre Einkünfte erzielt die 1994 gegründete Gesellschaft aus dem Betrieb von Hotels. 45 Prozent fließen in die Altstadtsanierung, 35 Prozent in soziale Projekte und 20 Prozent in die eiserne Reserve. 35 Prozent der Altstadt sind inzwischen überholt, wie lange die Komplettsanierung noch dauern wird, wagt niemand zu prognostizieren und der Restaurationsbedarf beschränkt sich ohnehin nicht auf die Altstadt. Im danebenliegenden Havanna Zentrum nagt ebenfalls an vielen Gebäuden der Zahn der Zeit.

In der Altstadt von Havanna finden sich so neben stilvoll hergerichteten Häuserblocks jede Menge Häuser im Zerfallsprozess mit vernagelten Fensterläden, großflächig bröckelndem Putz und mit Holzpfählen notdürftig abgestützten Balkonen bis hin zu kompletten Ruinen.

Sehenswert ist die Altstadt wie ganz Havanna indes allemal, schließlich ist die Metropole - 1519 gegründet - eine der ältesten Städte der Welt und atmet Geschichte. Aus Havanna brach einst der Konquistador Hernán Cortés auf, um das Reich der Azteken zu erobern. Alexander von Humboldt schaute auf seiner Amerikareise gleich zwei Mal vorbei.

Amaryllis wohnt mit ihrer Großfamilie einschließlich einer 103-jährigen Urgroßmutter schon seit vielen Jahrzehnten in der Altstadt und führt aus freien Stücken durch Haus, Hinterhaus und Hinterhof, alles bescheiden, aber auf extreme Armut deutet nichts hin. Viele Kubaner hatten die Hoffnung, dass mit dem als pragmatisch geltenden Raúl Castro sich wirtschaftliche Öffnung und vor allem eine Verbesserung der materiellen Versorgungssituation vollziehen würde. Bisher sei davon wenig zu spüren, meint Amaryllis, die die Entwicklung in Kuba auf eine lakonische Formel bringt: »Immer wenn wir denken, dass es aufwärts geht, geht es abwärts.« Dass Raúl Castro nach seiner offiziellen Amtsübernahme im Februar 2008 noch im selben Jahr mit drei schweren Hurrikans konfrontiert wurde, die Schäden von 10 Milliarden US-Dollar (15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes) verursachten, hat den Reformbemühungen sicher keine Flügel verliehen.

Tourismus boomt gegen den Trend

Im Aufschwung ist derweil nach wie vor der Tourismus. Selbst 2009, als die Weltwirtschaft wie die Reisebranche in die Rezession trudelte, verzeichnete Kuba gegen den Trend ein Wachstum von 3,5 Prozent bei den Besucherzahlen, wie Tourismusminister Manuel Marrero bei der Tourismusmesse FIT Cuba ausführte. Die 30. Auflage der Messe fand vom 3. bis 8. Mai in Havanna statt, genauer gesagt in El Morro, der alten, zum Schutz gegen Piraten erbauten Festung. Doch ein wenig Wasser musste Marrero in den Wein gießen: Die 2,4 Millionen Menschen, die 2009 auf die Karibikinsel strömten, spülten elf Prozent weniger in die Kassen als im Vorjahr: rund zwei Milliarden Dollar. Nichtsdestotrotz hat sich der Tourismus längst zum wichtigsten Devisenbringer der Insel gemausert und in dieser Rolle Nickel und Kobalt abgelöst.

Sonne, Son und Cocktails

Die FIT Cuba ließ keinen Zweifel daran, dass Kuba die Erfolgsgeschichte Tourismus fortschreiben will. 1900 Teilnehmer zeigen den hohen Stellenwert, den die Destination Kuba inzwischen genießt. Waren es in den 80er Jahren keine 200 000 Besucher pro Jahr, so wird mittlerweile die Zwei-Millionen-Schwelle regelmäßig locker überschritten. Dafür gibt es viele Gründe: Kuba ist sicher, die Einheimischen sind freundlich, die Sonne scheint nahezu unentwegt und ist so omnipräsent wie Cocktails auf Rum-Basis und die kubanische Musik rund um den Son. Zudem haben die allermeisten Hotels längst gehobenen Standard, der vor allem im Preis-Leistungs-Verhältnis keinen Vergleich scheuen muss. Mangel gibt es für Touristen nicht.

Bei Kubas Bevölkerung hingegen ist oft Schmalhans Küchenmeister: Mit den extrem billigen Lebensmitteln, die der Staat in den Bodegas gegen Vorlage der Libreta (Heftchen) verteilt, kommt man nicht weit. In den Heftchen wird notiert, was jede Familie im Monat an subventionierter Nahrung kaufen darf: ein paar Pfund Reis, ein paar Pfund weißen und braunen Zucker, Getreide, Öl, Kaffee, Eier und hin und wieder Fleisch oder Fisch. Mehr als zwei Wochen, so die Faustregel, kommt man damit nicht hin. Den Rest muss man sich auf den Bauernmärkten hinzukaufen, gegen CUC und zu relativ hohen Preisen. Ein Kilo des bei Kubanern äußerst beliebten Schweinefleischs kostet umgerechnet 1,40 Euro - bei Monatslöhnen von 15 bis 20 Euro kein Pappenstiel.

Kubaner, die im Tourismus arbeiten, werden direkt mit dem Gegensatz zwischen dem touristischen Leben im Überfluss und ihren Alltagserfahrungen zuhause konfrontiert. Yolania äußert sich zurückhaltend auf die Frage, ob dieser krasse Gegensatz für eine Gesellschaft, die seit der Revolution 1959 Egalität als einen wesentlichen Grundpfeiler des sozialen Zusammenhalts verankert hat, nicht ein Problem sei. »Es ist nicht einfach, aber so ist eben das Leben.« Und sicher würde man gerne auch selbst mal reisen, allein um die Fremdsprachenkenntnisse vor Ort überprüfen zu können, fügt sie verlegen hinzu. Für die meisten Kubaner ist das freilich Wunschdenken.

So auch für einen Straßenkünstler, der auf der FIT Cuba auftritt. Er stellt sich dem deutschen Besucher vor: »Ich heiße Eric, nicht Erich wie Honecker.« Honecker ist nach wie vor einer der bekanntesten deutschen Politiker auf der Karibikinsel, verdanken deutschsprachige Kubaner ihre Kenntnisse doch meist Aufenthalten in der DDR während seiner Amtszeit. Eric selbst war dafür viel zu jung, er spricht nur spanisch und in Raúl Castros Kurs sieht er keine nennenswerte Änderung. »In Kuba läuft alles weiter wie gehabt, das System der zwei Währungen ist das größte Problem.«

Und was Eric besonders stört: »Seit 50 Jahren marschiert Kuba in die eine Richtung und die Welt in eine andere. Vielleicht würden wir ja unseren Kurs aus freien Stücken beibehalten, aber wir haben nicht einmal die Möglichkeit, in andere Länder zu reisen, um uns die Gesellschaftssysteme dort anzuschauen.« Im Gegensatz zu den Touristen, für die Kuba immer eine Reise wert ist - ob Havanna oder der Osten mit Holguín, Las Tunas, Camagüey, der Provinz Granma oder Santiago, dem die FIT Cuba 2010 einen besonderen Stellenwert einräumte.

* Aus: Neues Deutschland, 20. Mai 2010

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