Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Für ein anderes Amerika

"Lateinamerika im Aufbruch" thematisiert den Wandel auf dem Kontinent

Von Benjamin Beutler *

Das Buch »Lateinamerika im Aufbruch« wirft einen kenntnisreichen Blick auf die Erfolge und Perspektiven sowie die enormen Schwierigkeiten und Rückschläge der diversen Linksregierungen in Lateinamerika.

Die Feststellung, dass die Mehrzahl der Staaten Südamerikas noch immer eine intensive Zeit des politischen Richtungswandels durchlebt, ist schwerlich zu bestreiten. Seit der Jahrtausendwende haben eine Reihe neuer Akteure auf demokratische Weise die Hauptrollen ihrer politischen Bühnen übernommen: Hugo Chávez in Venezuela (1999), Luiz Inácio »Lula« da Silva in Brasilien (2002), Néstor Kirchner in Argentinien (2003), Evo Morales in Bolivien (2005), Michelle Bachelet in Chile (2006) und Rafael Correa in Ecuador (2007).

In den Augen ihrer Wähler und laut eigenem Selbstverständnis vertreten sie die Ärmsten der Armen des Kontinents, all jene, die nach dem Ende der vielen Militärdiktaturen die seit Mitte der 80er Jahre von IWF (Internationaler Währungsfonds) und Weltbank verordneten und von den nationalen Eliten dankbar aufgegriffenen »Reformen und Strukturanpassungsmaßnahmen« über sich ergehen lassen hatten. Damals wie heute wurde eine bessere Zukunft versprochen, ein Ausweg aus alltäglicher Armut und Hoffnungslosigkeit, doch vergebens, die berüchtigte Schere zwischen Arm und Reich hatte sich nur noch weiter geöffnet. Deswegen erteilen immer mehr Wähler in Lateinamerika dem neoliberalen Rezept staatlicher Deregulierung -- durch Privatisierung und Liberalisierung zu angeblich mehr Wohlstand -- an den Wahlurnen eine Absage. Die Enttäuschung und der Verlust des Vertrauens in die Politikerschaft hat die Wähler zu einem »Linksruck« motiviert -- oder »verführt«, wie deutsche Massenmedien nahelegen.

Die Herausgeber des im letzten Jahr auf den Markt gekommenen Buches »Lateinamerika im Ausbruch. Soziale Bewegungen machen Politik« interpretieren das völlig anders. »Es handelt sich beim 'Aufbruch' Lateinamerikas keineswegs um einen kurzfristig vorbereiteten 'Coup' linksgerichteter Kräfte, sondern um einen tief sitzenden Wandel im politischen Bewusstsein der Bevölkerungsmehrheiten, der sich in fast allen Ländern Lateinamerikas bereits in den letzten fünfzig Jahren abgezeichnet hat«, so die Hauptthese von Herbert Berger und Leo Gabriel. Begonnen habe dieser Wandel im politischen Denken der Menschen bereits 1970 mit dem Wahlerfolg Salvador Allendes in Chile, doch zeigten der Militärputsch von 1973 und die darauf folgende Diktatur exemplarisch, dass dieser »kontinentale Transformationsprozess« gekennzeichnet sei sowohl von »Erfolgen und Perspektiven« als auch von »enormen Schwierigkeiten und Rückschlägen«. Träger des »Paradigmenwechsels« seien die im Titel genannten sozialen Bewegungen, »zivilgesellschaftliche Bewegungen« aller Art, die sich seit den 60er Jahren von der »politischen Avantgarde« abgewendet hatten. »Organizaciones populares« wie die Landlosenbewegung Brasiliens, das Indígena-Bündnis Ecuadors, die Arbeitslosenbewegung Argentiniens oder Boliviens Bewegung zum Sozialismus (MAS) bildeten über die Jahre ein »Amalgam«, das letzten Endes zu Wahlerfolgen ihrer Vertreter führte.

Kenntnisreich, gut recherchiert, bietet das vorliegende Werk auf knapp 300 Seiten sowohl Kennern als auch Einsteigern die Möglichkeit, sich Gemeinsamkeiten und Unterschiede derzeitiger lateinamerikanischer Emanzipation vor Augen zu führen. Anhand von sechs Länderstudien wird unter anderem auf das gespannte Verhältnis von gewonnener staatlicher Macht und Basisorganisationen eingegangen.

Herbert Berger u. Leo Gabriel (HG.): »Lateinamerika im Aufbruch. Soziale Bewegungen machen Politik«. Mandelbaum Verlag, Wien, 2007, 309 S. 17,80 Euro.

* Aus: Neues Deutschland, 29. Januar 2008


Zurück zur Lateinamerika-Seite

Zur Venezuela-Seite

Zurück zur Homepage