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"Südamerikas Linke bekommt Rückenwind aus Ecuador"

Der uruguayische Publizist Raúl Zibechi begrüßt den Linksruck in Lateinamerika, vermisst aber konstruktive Debatten *


ND: Herr Zibechi, letzte Woche haben Brasilien, Venezuela und fünf weitere Regierungen Südamerikas die »Bank des Südens« endgültig auf den Weg gebracht. Wie bewerten Sie das?

Zibechi: Anscheinend hat sich die Hartnäckigkeit von Hugo Chávez ausgezahlt. Ähnlich wie Néstor Kirchner aus Argentinien will er ja, dass diese Entwicklungsbank die südamerikanische Integration unterstützt und den Weg zu einer gemeinsamen Währung ebnet. Es ist ein Fortschritt, aber einige wichtige Kriterien fehlen noch.

Was muss geschehen, damit die »Banco del Sur« wirklich anders funktioniert als die klassischen kapitalistischen Entwicklungsbanken?

Zuerst einmal muss Brasilien als größte Volkswirkschaft voll mitziehen, und dann muss die Hegemonie des multinationalen finanziellen Sektors gebrochen werden. In Lateinamerika haben die Banken aus Europa und der USA ein sehr großes Gewicht.

Warum macht Brasilien, das in den letzten Monaten gebremst hat, jetzt doch mit?

Finanzminister Guido Mantega gehört zum so genannten Entwicklungsflügel der Arbeiterpartei. Doch das Finanzkapital hat weiterhin ein sehr großes Gewicht in der Regierung Lula und im Parlament. Weitere Fortschritte hängen auch davon ab, ob das Parlament in Brasília den Beitritt Venezuelas zum Wirtschaftsbündnis Mercosur ratifiziert. Das wird nicht einfach.

Liegt das nicht auch an Hugo Chávez selbst?

Ja, er ist eine komplizierte Person. Mal hat er gesagt, er will in den Mercosur, dann wieder, der Mercosur sei überholt. Als sich der brasilianische Senat einmischte, weil Chávez die Lizenz des venezolanischen Fernsehsenders RCTV nicht erneuerte, hätte er schweigen können. Doch er hat die rechten Parlamentarier als »Papageien Washingtons« bezeichnet und ihnen damit Argumente geliefert, mit denen sie Venezuelas Beitritt zum Mercosur verhindern wollen.

Wie beurteilen Sie denn die neuere Entwicklung in Venezuela unter Hugo Chávez?

Einerseits gibt es eindeutige Bewegung weg von Neoliberalismus: Außenpolitisch baut Chávez die Verbindungen zu anderen Ländern des Südens aus, nicht nur in Lateinamerika oder der Karibik, sondern auch zu China, Iran und anderen. Im Inneren treibt er den Wandel voran, im Gesundheits- oder Bildungsbereich. Arbeitsgruppen zu Wasser oder urbanen Landrechten haben reale Macht bekommen, es werden Gemeinschaften gebildet, Volkskomitees in den Städten.

Und andererseits...

... gibt es diese Institutionalisierung des bolivarianischen Prozesses. Chávez' Einheitspartei läuft auf eine Wiederholung der kommunistischen Parteien hinaus. Was den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« betrifft, müsste man doch zuerst einmal Bilanz ziehen über den realen Sozialismus, die enormen Fehler analysieren, die begangen wurden, und dann eine Debatte darüber führen, was wir heute unter Sozialismus verstehen. Sonst reproduzieren wir das, was wir schon kennen: zentralisierte Macht und staatliches Eigentum.

Ende September haben die Ecuadorianer einen Verfassungskonvent mit klarer linker Mehrheit gewählt, Präsident Rafael Correa bittet die Erdölmultis kräftig zur Kasse. Was bedeutet das für Südamerika?

Die Strömung der antineoliberaleren Regierungen wird gestärkt, neben Chávez in Venezuela und auch jene von Evo Morales in Bolivien - und das zu einem Zeitpunkt, an dem Bolivien eine sehr heikle Situation durchlebt. Dort ist der Verfassungskonvent steckengeblieben, die Regierung zeigt erste Verschleißerscheinungen.

Correa hat auf den »Fehler« der bolivianischen Regierung hingewiesen, weil die sich mit der Opposition auf einen Zwei-Drittel-Modus für die Verabschiedung der neuen Verfassung geeinigt hatte. Hat er damit Recht?

Ja, die mächtige Oligarchie von Santa Cruz und die USA wollen Morales Grenzen setzen. Das hat nicht so viel mit dem Verfassungskonvent zu tun. Vielmehr soll das Andenhochland, wo die sozialen Bewegungen am stärksten sind, regelrecht umzingelt werden, um Morales zurückzudrängen. Evos Regierung ist die »volkstümlichste« in der ganzen Region, wegen der Herkunft des Präsidenten, aber auch wegen der Stärke der sozialen Bewegungen.

Wie geht die Regierung Morales mit dem Konflikt um?

Ich sehe keine klare Position. Offenbar hat die Opposition die politische Initiative. Ihr ist es ähnlich wie schon einmal in Venezuela gelungen, Hunderttausende zu mobilisieren, im Fall Boliviens mit der Forderung nach Autonomie. Sie kanalisiert die Ressentiments der Mittelschicht gegen die Indígenas. Diese Situation ist ungelöst. Anders als in Venezuela, wo Chávez die Opposition besiegt hat, ist es in Bolivien noch nicht zu den härtesten Auseinandersetzungen gekommen.

Gibt es in Ecuador ähnliche Spannungen?

Seit dem ersten Indígena-Aufstand im Juni 1990 durchlebt Ecuador eine Phase sehr großer Instabilität, mit dem Höhepunkt im Jahr 2000. Rafael Correa ist auch das Ergebnis dieser Volksaufstände. Jetzt ist er durch das Wahlergebnis gestärkt worden. Wenn die Linke keine allzu radikalen Reformen versucht, dann steigen die Chancen für eine stabile Periode. Aber das hängt auch von der Rechten ab, vor allem von der Oberschicht der Küstenstadt Guayaquil. Wenn die ähnlich reagiert wie die Oligarchie von Santa Cruz in Bolivien, kann es zu einer großen Konfrontation kommen. Von außen kommt die Gefahr einer Destabilisierung hinzu - durch den »Plan Colombia«, die repressive Antidrogenpolitik der USA, die sie auf Ecuador ausweiten wollen.

Welche Impulse für die linke Debatte könnten aus Ecuador kommen? Alberto Acosta, der demnächst den Verfassungskonvent anführen wird, hatte ja als Erdölminister Umweltfragen in einem nie gekannten Ausmaß betont...

Ein Sozialismus des 21. Jahrhunderts muss auf einer anderen Energieökonomie aufbauen. Weg vom Erdöl und vom Erdgas, viel rationaler, diversifizierter, mit erneuerbaren Energien. Außerdem müsste dieser Sozialismus eine Basis in den indigenen Kulturen haben, denn in Lateinamerika waren es vor allem die Indígenas, die die Umwelt erhalten haben. In Ecuador schützen sie den Regenwald Amazoniens. Sie führen die Prozesse gegen Texaco und andere Multis. Wir müssen zu einer Art »Ökoindosozialismus« kommen.

Doch die meisten lateinamerikanischen Linksintellektuellen scheinen nur in ihrem Element, wenn es gegen die Rechte geht...

Der Militarismus der Regierung Bush, ihre Einmischung in Venezuela und in Kuba, das sind reale Probleme, ebenso der deutliche Rechtstrend der lateinamerikanischen Oberschichten - Felipe Calderón in Mexiko oder Álvaro Uribe mit dem Plan Colombia. Bei solchen harten Feinden wächst die Neigung, auch härter zu werden. Andererseits fehlen Debatten, Analysen, Studien. Uns, die wir etwas anderes versuchen, wird flugs vorgeworfen, wir folgten den extravaganten Ideen eines Antonio Negri. Wer wie die Zapatisten davon redet, »die Revolution zu machen, ohne die Macht zu ergreifen«, der wird gleich als Utopist, als Spinner abgetan.

Wer ist dafür in erster Linie verantwortlich?

Viele - etablierte Mächte ebenso wie ein wichtiger Teil der Intellektuellen selbst. Der Brasilianer Emir Sader meint zum Beispiel, wer sagt, Lula und Chávez verfolgten zwei Projekte, der schreibe die Spaltung Lateinamerikas herbei. So eine defensive Reaktion ist verständlich, wenn sie von Präsidenten kommt, die jeden Tag Probleme zu lösen haben, aber Intellektuelle müssen doch diskutieren! Diese Haltung, die Unterschiede zu vertuschen, weil man doch den Imperialismus bekämpfen müsse, ist schrecklich. Von vier, fünf Jahren wurde hier mehr gestritten. Gerade findet ein intellektuelles Rollback statt.

Hat das etwas mit falsch verstandener Solidarität mit den eigenen Genossen an der Regierung zu tun? Diese Art der Lähmung gibt es ja nicht nur in Brasilien, sondern auch in Uruguay in Bezug auf die linke Regierung der Frente Amplio (Breite Front).

Ja. Es herrscht eine Art Korpsgeist, eine defensive Haltung, die im Ergebnis die Leute entpolitisiert. Es ist wie damals in Osteuropa, die fehlende Debatte, die fehlende Kritik, fehlende Ideen führen zu Entpolitisierung. Es geht aber auch anders. Eduardo Galeano sagt, ich kritisiere die Regierung Uruguays, damit sie besser regieren kann. Doch die meisten halten den Mund, weil es ja gegen die Rechte gehen soll.

* Aus: Neues Deutschland, 17. Oktober 2007


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