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"Wir erlernten die Kunst des Krieges mitten im Kampf"

Erinnerungen an Che Guevara. Fidel Castro im Gespräch mit Ignacio Ramonet *

In seiner im Mai 2006 in Kuba erschienenen Autobiographie »Cien horas con Fidel« (Hundert Stunden mit Fidel) äußert sich der kubanische Revolutionsführer im Gespräch mit dem spanisch-französischen Journalisten und ATTAC-Mitbegründer Ignacio Ramonet auch über seine langjährige Freundschaft mit Che Guevara.
Die Tageszeitung "junge Welt" veröffentlichte eine gekürzte Fassung des siebten Kapitels - was wir im Folgenden ebenfalls dokumentieren.



Nachdem Sie zwei Jahre auf der Isla de Pinos im Gefängnis verbracht haben, gehen Sie ins Exil nach Mexiko. Bei Ihrer Ankunft treffen Sie das erste Mal auf Ernesto Che Guevara. Ich hätte gerne gewußt, unter welchen Umständen Sie ihn kennenlernten.

Ich liebe es, über Che zu sprechen, wirklich.[1] Man kennt die Reisen Ches aus der Zeit, als er in Argentinien studierte. Die Motorradreisen durch sein Land [2], später durch andere lateinamerikanische Länder wie Chile, Peru und Bolivien [3]. Vergessen wir nicht, daß es in Bolivien im Jahr 1952, nach dem Militärputsch von 1951, eine starke Arbeiter- und Bauernbewegung gegeben hat, die einiges erreicht hat mit ihrem Kampf.[4]

Wir kennen die Reise, die Che kurz vor seiner Abschlußprüfung in Medizin mit seinem Freund Alberto Granado unternommen hat, während der sie verschiedene Krankenhäuser besuchten und später in einer Leprastation im Amazonasgebiet als Ärzte arbeiteten [5]. Che hat viele Länder in Lateinamerika bereist; er war in den Kupferminen von Chuquicamata in Chile, wo die Arbeiter ein hartes Los haben; er durchquerte die Atacama-Wüste, besuchte die Ruinen von Machu Picchu in Peru, befuhr den Titicacasee und hat sich in all diesen Ländern immer sehr für das Leben der Einheimischen interessiert. Auch in Kolumbien war er und in Venezuela, und das Erlebte beschäftigte ihn sehr. Schon als Student hatte er sich für den Marxismus und Leninismus interessiert. Schließlich kam er nach Guatemala, als das mit Árbenz [6] passierte.

Der Präsident Jacobo Árbenz hatte Anfang der 50er Jahre sehr fortschrittliche Reformen in Guatemala eingeleitet.

Ja. Es gab eine wichtige Agrarreform, im Zuge derer große Bananenplantagen, die einem bedeutenden US-Unternehmen gehört hatten, an die Bauern verteilt wurden. Die Militärs stürzten die Regierung mit Hilfe der Vereinigten Staaten, und diese Agrarreform wurde umgehend vereitelt. Wenn man damals auch nur von einer Agrarreform sprach, wurde man sofort als Kommunist verteufelt.

In Guatemala haben sie es getan, und ebenso wie in anderen Ländern reagierten die Mächtigen sofort. Die Nachbarn im Norden aktivierten all ihre Institutionen, die auf solche Fälle spezialisiert sind, und begannen augenblicklich mit der Durchführung konterrevolutionärer Aktionen, um den gewählten Präsidenten, Jacobo Árbenz, mit Hilfe eines Feldzuges im Grenzgebiet und der Komplizenschaft mit Militärführern aus der alten Armee zu stürzen.

Nach unserem fehlgeschlagenen Sturm der Moncada-Kaserne schaffen es einige unserer Kameraden, aus dem Land zu fliehen. Antonio »Ñico« Lopez [7] geht mit einigen anderen nach Guatemala. Dort trafen sie auf Che, der die bittere Erfahrung des Sturzes von Jacobo Árbenz durchlebte. Sie lernten sich kennen, und er ging mit ihnen nach Mexiko.

Lernte Ihr Bruder Raúl Che vor Ihnen kennen?

Ja, denn Raúl war einer der ersten, der Kuba in Richtung Mexiko verließ. Sie beschuldigten ihn, Bomben gelegt zu haben und andere Dinge, und ich sagte ihm, daß er verschwinden müsse. Im Gefängnis hatten wir die Idee entwickelt, von Mexiko aus erneut einen bewaffneten Angriff zu starten. Das war eine Tradition in Kuba. Raúl ging nach Mexiko und lernte dort über unsere Kameraden, die bereits vor Ort waren, Che kennen. Nun, damals war er noch nicht Che, sondern Ernesto Guevara, aber da die Argentinier sich gegenseitig mit »Che!« ansprechen, nannten die Kubaner ihn plötzlich nur noch »Che«, und so wurde er schließlich bekannt.

Ich konnte meine Ausreise noch ein wenig hinauszögern, denn ich war nicht in unmittelbarer Gefahr; aber ich konnte in Kuba nicht mehr in Erscheinung treten, und so kam auch für mich der Augenblick, nach Mexiko zu gehen. Einer der Gründe war natürlich auch, so schnell wie möglich die Rückkehr vorzubereiten. In den Wochen nach unserer Freilassung hatten wir eine intensive Kampagne zur Verbreitung unserer Ideen gestartet, mit dem Ziel, das Bewußtsein der Menschen zu schärfen. Wir hatten unsere eigene revolutionäre Organisation neu strukturiert – die Bewegung des 26. Juli – und bewiesen, daß es unmöglich war, den Kampf mit legalen und friedlichen Mitteln fortzusetzen.

Und Che sympathisierte mit Ihren Ideen?

Er war bereits Marxist. Obwohl er keiner Partei angehörte, war er zu dieser Zeit bereits ein überzeugter Marxist. Dort in Mexiko war er in Kontakt mit Ñico Lopez, einem der Anführer unserer Bewegung. Er kam aus der Orthodoxen Partei und war ein sehr guter, bescheidener Genosse, radikal und mutig. Ich hatte ihm viel über Marxismus erzählt, und er war von diesen Ideen überzeugt. Er hatte an dem Angriff auf die Kaserne von Bayamo teilgenommen. Was mich am meisten mit Che verband, war die Übereinstimmung unserer Vorstellungen.

Haben Sie gleich bei Ihrem ersten Treffen gespürt, daß Che anders ist?

Ihm gehörten die Sympathien der Menschen. Er war eine dieser Personen, die man sofort ins Herz schloß, aufgrund seiner Natürlichkeit, seiner einfachen, freundschaftlichen Art und all seiner Tugenden. Er war Arzt und arbeitete in einem Zentrum des Sozialversicherungsinstitutes, wo er irgendwelche Untersuchungen machte. Ich weiß nicht, ob es um kardiologische Dinge ging oder um Allergien – Che war ja Allergiker.

Er litt unter Asthma.

Unsere kleine Gruppe in Mexiko mochte ihn sehr. Raúl hatte bereits Freundschaft mit ihm geschlossen, und ich lernte ihn kennen, als ich nach Mexiko kam. Er war damals 27 Jahre alt. Er selbst erzählte später [8], daß wir uns an einem Abend im Juli 1955 in der Calle Emparan in der Hauptstadt Mexikos kennengelernt hatten, im Haus einer Kubanerin: María Antonia González. Seine Sympathie war nichts Außergewöhnliches nach dieser langen Reise durch die Länder Südamerikas und all dem, was er auf seinem Weg erlebt hatte bis zu der bitteren Erfahrung in Guatemala, wo er Zeuge der US-amerikanischen Invasion wurde. Er wußte von unserem Kampf in Kuba, er wußte, wie wir denken. Wir kamen an, ich sprach mit ihm, und er schloß sich uns ohne zu zögern an.

Er wußte, daß es auch in unserer Bewegung Kleinbürger gab und daß wir zu einer Revolution der nationalen Befreiung aufbrachen, einer antiimperialistischen Revolution. Es gab noch keine Anzeichen dafür, daß es eine sozialistische Revolution werden würde, aber das war für ihn kein Hindernis, sich an Ort und Stelle mit uns zu verbünden.

Er will an diesem Abenteuer teilhaben.

Das einzige, was er sagt, ist: »Wenn die Revolution in Kuba siegreich verlaufen ist, dann verbietet mir nicht, nach Argentinien zu gehen, um auch dort für die Revolution zu kämpfen. Das ist mein einziger Wunsch.«

In seinem Land?

Ja, in seinem Land. Das sagte er mir. Unsere politische Arbeit hatte damals bereits einen starken internationalistischen Charakter. Was sonst wäre unsere Unterstützung in Bogotá gewesen oder der Kampf gegen Trujillo, die Verteidigung Puerto Ricos, die Forderung nach der Rückgabe des Panama-Kanals, die argentinische Hoheit über die Falklandinseln und die Unabhängigkeit der europäischen Kolonien in der Karibik? Wir waren keine Anfänger mehr. Che vertraute uns voll und ganz. Ich sagte: »Einverstanden«, und mehr gab es dazu nicht zu sagen.

Nahm er an Ihren militärischen Übungen teil?

Er nahm an einem Taktik-Kurs teil, den ein spanischer General für uns abhielt. Alberto Bayó [9], geboren 1892 im kubanischen Camagüey, vor der Unabhängigkeit. In den zwanziger Jahren hatte er in Marokko für die Luftwaffe gekämpft und später als republikanischer Offizier im spanischen Bürgerkrieg, bevor er nach Mexiko ins Exil ging. Che hat an all diesen Unterrichtseinheiten teilgenommen, und Bayó nannte ihn seinen »besten Schüler«. Beide waren Schachspieler und spielten dort in dem Camp, wo sie vor ihrer Festnahme waren, jeden Abend Schach.

Bayós Lehren konzentrierten sich im wesentlichen darauf, wie eine Guerilla sich verhalten sollte, um eine Belagerung zu durchbrechen, ausgehend von seinen Erfahrungen mit der marokkanischen Guerilla von Abd-el-Krim im Rif-Krieg, wo sie die spanischen Belagerungen durchbrochen hatten. Er arbeitete keine weiterführende Strategie aus, denn es kam ihm nicht in den Sinn, daß sich eine Guerilla in eine Armeee verwandeln und diese Armee die andere besiegen könnte – was für uns ein ganz wesentlicher Gedankengang war.

War es das, was Sie tun wollten?

Wenn ich von einer Armee spreche, dann meine ich damit, daß wir eine Kraft entwickeln mußten, die in der Lage war, die Armee zu schlagen. Das war unsere stärkste Motivation, als wir nach Mexiko gingen. Die großartigen Leistungen, die wir in den ersten Monaten des Kampfes in der Sierra Maestra mit einer kleinen Gruppe vollbracht hatten, bestärkten uns darin.

Sie wollten also die Guerilla in eine Armee verwandeln und eine neue Art von Krieg führen?

Es gibt zwei Arten, Krieg zu führen: den konventionellen, regulären Krieg und den irregulären Krieg. Wir arbeiteten eine Theorie aus, um uns Batistas Armee entgegenzustellen, die über Flugzeuge, Panzer, Kanonen und Kommunikationsmittel verfügte. Wir hingegen hatten weder Waffen noch Geld. Dennoch mußten wir eine Möglichkeit finden, die Diktatur niederzuschlagen und die Revolution in Kuba durchzuführen. Der Erfolg krönte unsere Idee. Ich will nicht behaupten, daß es nur verdienstvolle Leistungen gab; auch der Zufall spielte eine große Rolle. Egal, ob man Fehler macht oder alles so perfekt wie möglich läuft, es wird immer unvorhersehbare Dinge geben; ein winziges Detail kann tödlich sein. Eine bestimmte Information, die man bekommen oder eben nicht bekommen hat. Denken Sie daran, wie schmerzhaft es für mich war, über die Ereignisse zu sprechen, die zum Scheitern unserer so gut organisierten und vorbereiteten Offensive zur Eroberung der Moncada-Kaserne geführt haben. Und später werden wir über die dumme Überraschung sprechen, deren Opfer wir bei der Landung mit der »Granma« wurden. Wie viele wertvolle Menschenleben hätte man nicht unter diesen oder jenen Umständen retten können?

In Mexiko trainierten viele unserer Kameraden mit Bayó, während ich mich um die organisatorischen Aufgaben und die Beschaffung von Waffen kümmern mußte. Außerdem trainierte ich die Leute auf dem Schießplatz. Ich hatte viel zu tun und somit keine Möglichkeit, an den Kursen Bayós teilzunehmen.

Nahm Che regelmäßig an den Kursen teil?

Ja, sowohl an den theoretischen Kursen als auch an den Schießübungen. Er war ein sehr guter Schütze. Unsere Schießübungen fanden auf einem Platz in der Nähe der Hauptstadt statt. Das Land war im Besitz eines alten Kameraden von Pancho Villa, und wir hatten es gepachtet. Bei der Landung verfügten wir über 55 Gewehre mit Zielfernrohren. Wir trainieren das sekundenschnelle Schießen mit Hilfe von Schafen, die in zweihundert Meter Entfernung von uns hin- und hersprangen. Wir konnten auf 600 Meter Entfernung einen Teller zerschießen. Unsere Leute waren sehr gute Schützen. Wir stellen einen Mann auf einer Entfernung von 200 Meter auf und plazierten eine Flasche neben ihm. Dann zielten wir mit dem Fernrohr und schossen mit großer Präzision. Hunderte von Schüssen gaben wir ab. (...)

Che hatte zu diesem Zeitpunkt keinerlei Kampferfahrung?

Nein, gar keine.

Und dort lernt er alles?

Er lernt und übt, aber er ist eigentlich als Truppenarzt bei uns, und er war ein hervorragender Arzt, der sich um unsere Kameraden kümmerte. Ich spreche von einer besonderen Qualität, die ihn auszeichnet. Unter all seinen Qualitäten ist es diejenige, die ich am meisten schätzte: Che litt unter Asthma. In der Nähe der mexikanischen Hauptstadt gibt es einen Vulkan, den Popocatépetl, und er versuchte jedes Wochenende, diesen Vulkan zu besteigen. Er bereitete seine Ausrüstung vor – dieser Berg ist sehr hoch, mehr als 5 000 Meter und oben liegt immer Schnee – und begann mit dem Aufstieg. Obwohl er sich wahnsinnig anstrengte, kam er nie bis zum Gipfel, weil sein Asthma ihn daran hinderte. Aber am folgenden Wochenende versuchte er wieder, den »Popo«, wie er ihn nannte, zu besteigen – und kam nicht an. Kein einziges Mal erreichte er den Gipfel des Popocatépetl. Aber er stieg immer und immer wieder auf, um es erneut zu versuchen und hätte sein ganzes Leben damit verbringen können. Es war eine heroische Anstrengung, die er vollbrachte, obwohl er diesen Gipfel niemals erreichte. Das sagt sehr viel über seinen Charakter aus. Über seine geistige Stärke und seine Beständigkeit.

Ein starker Wille ...

Am Anfang waren wir eine sehr kleine Gruppe, und immer, wenn ein Freiwilliger für eine bestimmte Aufgabe gesucht wurde, war Che der erste, der sich anbot.

Eine andere Eigenschaft Ches war sicherlich seine prophetische Voraussicht, die sich beispielsweise zeigte, als er mich bat, ihm nach dem Sieg der Revolution nicht – aus Gründen, die durch den Staat bedingt sind – die Rückkehr in sein Geburtsland zu verwehren, wo er für die Revolution kämpfen wollte.

Er wollte nach Argentinien zurückkehren?

Ja. Und später, in unserem Krieg, da mußte ich ihn sehr oft zurückhalten, um ihn zu schützen, denn wenn ich ihn all das hätte tun lassen, was er tun wollte, hätte er das sicherlich nicht überlebt. Er zeichnete sich von Anfang an durch all diese Dinge aus. Immer, wenn irgendwo ein Freiwilliger für eine schwierige Mission gesucht wurde, wenn es darum ging, ein paar Waffen zu retten, damit sie nicht in die Hände des Feindes fielen, war Che der erste, der sich freiwillig meldete.

Er meldete sich freiwillig für die gefährlichsten Missionen?

Ja, er war immer der Erste. Er war außergewöhnlich wagemutig und hatte keinerlei Angst vor Gefahr. Aber häufig schlug er auch sehr schwierige und riskante Dinge vor, und ich mußte dann ganz klar »Nein« sagen.

Setzte er sich zu vielen Gefahren aus?

Sehen Sie, Sie schicken einen Mann in einen Hinterhalt. Dann in einen zweiten, dritten und einen vierten. Irgendwann, beim fünften oder sechsten Mal vielleicht, dann ist es wie Kopf oder Zahl; im Nahkampf mit einem Zug oder Trupp sterben Sie so wie beim Russischen Roulette.

War es ein Problem, daß er kein Kubaner war?

In Mexiko hatten wir ihm die Verantwortung für ein Camp übertragen, und einige fingen an, sich zu beschweren, daß er Argentinier sei, und haben ziemlichen Ärger mit mir bekommen. Ich werde aber keine Namen nennen, denn später haben diese Leute gute Arbeit geleistet. Ja, das war in Mexiko. Hier im Krieg war er Arzt, aber weil er sehr mutig war und die Voraussetzungen dazu mitbrachte, haben wir ihn später zum Anführer einer Kolonne gemacht, wo er sich aufgrund all seiner Qualitäten besonders auszeichnete. Niemand hat das in Frage gestellt.

Menschliche, politische oder militärische Qualitäten?

Menschliche und politische. Als Mensch, einfach als ein außergewöhnlicher Mensch. Er war zudem sehr gebildet und hochintelligent und verfügte auch auf militärischem Gebiet über große Qualitäten. Che war ein Arzt, der zum Soldaten geworden war und doch keine Sekunde aufgehört hat, Arzt zu sein. Wir haben sehr viele Schlachten zusammen geschlagen. Manchmal vereinte ich die Truppen der beiden Kolonnen, um eine mehr oder wenige große oder komplizierte Operation durchzuführen, wo wir mit einem Hinterhalt oder unvorgesehenen Bewegungen der feindlichen Kräfte rechnen mußten.

Als Revolutionäre erlernten wir die Kunst des Krieges mitten im Kampf und entdeckten, daß unser Feind stark war an seinen Standorten, aber schwach in der Bewegung. Eine Kolonne von 300 Mann wird von einem oder zwei Trupps angeführt, die vorausziehen: die anderen schießen nicht im Kampf oder schießen ausschließlich in die Luft, um Lärm zu machen. Sie sind nicht in der Lage, diejenigen zu sehen, die auf ihre Vorhut schießen. Dieses wichtige Prinzip machten wir uns zunutze: den Feind dann anzugreifen, wenn er am schwächsten oder am verletzlichsten war. Hätten wir ihre Stützpunkte angegriffen, hätte es immer Tote in unseren Reihen gegeben. Wir hätten Munition verbraucht und das Ziel nicht immer einnehmen können, während der Feind verschanzt war und mit mehr Sicherheit und Information vorgehen konnte. Wir entwickelten alle möglichen Taktiken. Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen, aber wir haben gelernt, gegen einen weitaus stärkeren Gegner zu kämpfen (...).

In Mexiko wurden Sie einmal verhaftet. (...) Che war zum Zeitpunkt der Festnahme nicht bei Ihnen?

Nein. Che wurde in dem Camp verhaftet, wo wir trainierten. Auf der Santa Rosa Ranch in Chalco, die ganz am Rande der Stadt liegt. Sie hatten Hinweise auf diesen Ort erhalten und waren auf der Suche nach ihm. Eines Tages sagte mir ihr Anführer: »Wir kennen Ihr Trainingslager bereits.« Es war wie ein Spiel oder eine Art Herausforderung. Sie hatten lange gesucht, und ich weiß nicht, wie sie uns auf die Spur kamen. Sie hatten Informationen von irgend jemandem, daß es in der Gegend um Chalco seltsame Manöver einer Gruppe von Kubanern gegeben hätte, und sagten mir auf das Gesicht zu, wo die Ranch ist. Ich wußte, daß sich dort etwa 20 unserer Leute aufhielten und daß sie bewaffnet waren. Nachdem mir klar wurde, daß sie den genauen Aufenthaltsort kannten, sprach ich den Leiter der Bundespolizei an: »Ich möchte Sie um etwas bitten. Erlauben Sie mir, mit Ihnen dort hinzugehen, um eine Konfrontation zu vermeiden.« Er war einverstanden. Wir kamen dort an, und ich bat sie, mich allein zu lassen. Ich sprang über das Tor und ging auf die anderen zu, die voller Freude waren, weil sie dachten, ich sei freigelassen worden. Ich rief: »Bleibt stehen, bewegt euch nicht!« Dann erklärte ich ihnen, was passiert war.

Hier wird Che verhaftet. Einige waren draußen auf dem Land oder außerhalb des Hauses und konnten sich retten. Bayo war einer von ihnen. Er war nicht dort und wurde folglich nicht festgenommen. Kurioserweise hatte er einige Wochen vorher 20 Tage lang gefastet, um seine Willensstärke zu trainieren und auszuprobieren. Er war ein Spartaner. Während des Spanischen Bürgerkrieges hatte er eine Expedition zu den Balearen geleitet, konnte sie aber nicht von den Franquisten befreien. (...)

Dieser Spanier, der in Kuba geboren und auf den Kanarischen Inseln aufgewachsen war, war bis zu seinem Tod ein Genie und eine Persönlichkeit.

Und er wurde nicht verhaftet?

Nein. Bayo wurde nicht verhaftet, weil er gerade nicht anwesend war. Aber sie beschlagnahmten Dutzende von Waffen, die wir dort aufbewahrt und mit denen wir trainiert hatten, wobei das nicht die besten und die präzisesten waren. Diese Gewehre hatten keine Zielfernrohre. Auf der Ranch gab es eine kleine Milchproduktion, und wir stellten Ziegenkäse her. Die Produktion wurde von unseren freundlichen Nachbarn verwaltet und war die Tarnung für unser Ausbildungslager.

Aber die Polizei war, wie schon gesagt, einigen Hinweisen nachgegangen, hatte den Ort gefunden und Che verhaftet.

Waren Sie im Gefängnis zusammen?

Ja, wir waren fast zwei Monate zusammen im Gefängnis. Wann brachte uns Che in Schwierigkeiten? Sie holten ihn ab, um ihn zu befragen, und auf die Frage: »Sind Sie Kommunist?« antwortet Che: »Ja, ich bin Kommunist.« Daraufhin schrieben alle mexikanischen Tageszeitungen, daß Kommunisten es darauf abgesehen hatten, die Demokratie auszulöschen, und Sie können sich nicht vorstellen, was sie sonst noch alles schrieben. Sie bringen Che vor den Staatsanwalt, wo sie ihn befragen und er fängt auch noch an, mit ihnen über Stalin zu diskutieren, über den Personenkult und die Kritik an Stalin. Können Sie sich das vorstellen? Che vertieft in eine Grundsatzdiskussion mit der Polizei, dem Staatsanwalt und den Einwanderungsbehörden über die Fehler Stalins. Das war im Juli 1956, und im Februar desselben Jahres hatte es die Chruschtschowsche Kritik an Stalin gegeben [10]. Er verteidigte die offizielle Position des sowjetischen Parteikongresses. Che sagt ihnen: »Ja, sie haben hier und da Fehler gemacht«, und verteidigte seine Theorie und seine kommunistischen Ideen. Stellen Sie sich das mal vor! Für ihn als Argentinier war das in diesem Augenblick sehr gefährlich. Ich bin fest davon überzeugt, daß es in solchen Situationen, wenn das ganze Projekt gefährdet ist, am besten ist, den Feind in die Irre zu führen und ihm falsche Informationen zu geben. Auf der anderen Seite konnte man Che, der von der epischen Literatur des Kommunismus sehr stark beeinflußt war, keinen Vorwurf machen, daß er sich in der taktischen Verwirrung versucht hatte. Es hatte auf jeden Fall keinen Einfluß darauf, daß er mit uns nach Kuba reiste.

Wir beide waren die letzten, die gingen. Ich wurde sogar, glaube ich, einige Tage vor ihm freigelassen. In bezug auf die festgenommenen Kubaner intervenierte Lázaro Cárdenas [11] und die Besorgnis, die er ausdrückte, verhalf uns zu unserer Befreiung. Er wurde vom Volk verehrt, und seine moralische Autorität konnte jede Gefängnistür öffnen.

Man sagt, daß Che eher trotzkistische Tendenzen hatte. Hatten Sie auch dieses Gefühl?

Nein, lassen Sie mich Ihnen sagen, wie Che wirklich war. Che hatte bereits, wie gesagt, eine politische Kultur. Natürlich hatte er eine Menge Bücher über die Theorien von Marx, Engels und Lenin gelesen. Er war Marxist. Ich habe ihn nie über Trotzki sprechen hören. Er verteidigte Marx und Lenin, und er kritisierte Stalin. Sagen wir mal, er kritisierte vor allem den Personenkult und die Fehler Stalins; aber über Trotzki habe ich ihn nie sprechen hören. Er war Leninist und in gewisser Weise konnte er auch einige Verdienste Stalins anerkennen. Die Industrialisierung und andere Dinge zum Beispiel.

Ich selbst war tief in meinem Innersten weitaus kritischer in bezug auf Stalin und die Fehler, die er begangen hatte. Ich bin der Meinung, daß er die Verantwortung dafür trägt, daß die Sowjet­union 1941 von der mächtigen Militärmaschine Hitlers überrollt wurde, ohne daß die sowjetischen Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt worden wären. Er hat viele schreckliche Fehler begangen. Der Machtmißbrauch und die Willkür, mit der er handelte, sind bekannt. Dennoch hat er auch Leistungen vollbracht. Die Industrialisierung der Sowjetunion sowie die Verlagerung und Entwicklung der Militärindustrie nach Sibirien waren entscheidende Faktoren im Kampf der ganzen Welt gegen die Nazis.

Wenn ich all das analysiere, dann respektiere ich seine Leistungen und auch seine großen Fehler. Einer dieser Fehler war die Säuberung der Roten Armee aufgrund einer Intrige der Nazis, womit er die UdSSR kurz vor dem faschistischen Prankenschlag militärisch schwächte.

Er selbst hat sich entwaffnet.

Er hat sich entwaffnet, geschwächt und anschließend unter anderem den verheerenden deutsch-sowjetischen Ribbentrop-Molotow-Pakt unterzeichnet. Mehr werde ich dazu nicht mehr sagen.

Anmerkungen des Herausgebers:
  1. Fidel Castro hat in zahlreichen Texten, Reden und Interviews über Che Guevara gesprochen. Seine wichtigsten Erinnerungen sind in dem Buch »Che in der Erinnerung Fidel Castros« mit einem Vorwort von Jesú Montané zusammengefaßt, Ocean Press, Melbourne, 1998. Eines der wichtigsten und bewegendsten Zeugnisse findet sich in dem von Gianna Miná geführten Interview »Ein Treffen mit Fidel«, Publikation des Staatsrates 1987, Seiten 311-349, erschienen in Spanien unter dem Titel »Es spricht Fidel«, Mondadori 1988, Seiten 345–371 mit einem Vorwort von Gabriel García Marquez.
  2. Siehe »Reise durch das Innere Argentiniens (1950), Teile aus seinem Tagebuch«, und Ernesto Guevara Lynch Mein Sohn Che, Planeta, Madrid, 1981.
  3. Ernesto Che Guevara, Meine erste große Reise (1951–1952): Mit dem Motorrad von Argentinien nach Venezuela, Seix Barral, Barcelona 1994.
  4. Am 9. April 1952 kam es zum Volksaufstand, der dann in die bolivianische Revolution mündete. Er wurde angeführt von der Revolutionären Nationalistischen Bewegung MNR von Victor Paz Estenssoro und der Bolivianischen Gewerkschaft COB (Central Obrera Boliviana) von Juan Lechín. In wenigen Tagen wurde die »Rosca« (die drei großen Familien, denen die Bergwerke und der nationale Reichtum gehörten) gestürzt. Die Streitkräfte wurden zerschlagen; die Gewerkschaften bewaffneten sich und besetzten Land, Unternehmen und Präfekturen bildeten eine Parallelmacht, die indigene Mehrheitsbevölkerung, meist Analphabeten, bekam das Stimmrecht, Bergwerke wurden verstaatlicht und Großgrundbesitz verteilt.
  5. Alberto Granado, Mit Che durch Südamerika, Letras Cubanas, Havanna 1986. Diese Reise war Thema des wunderbaren Films »Motorradtagebuch« von Walter Salles, der im Jahr 2004 mit großen Erfolg ausgestrahlt wurde.
  6. Jacobo Árbenz (1913–1971), Offizier der guatemaltekischen Armee, war einer der Hauptakteure der Revolution im Oktober 1944, dem Volksaufstand, der das diktatorische Regime von Jorge Ubico stürzte, der 14 Jahre lang mit seiner Armee das Land regiert hatte. Er wurde 1951 in einem demokratischen Prozeß zum Präsidenten von Guatemala gewählt. Seine Regierung ordnete per Gesetz eine Agrarreform an, die große US-amerikanische Firmen mit Landbesitz in Guatemala betraf, allen voran die United Fruit Company. Sie denunzierten ihn als »Kommunist«, und die CIA organisierte mit der Zustimmung von Eisenhower und der Unterstützung einiger zentralamerikanischer Diktatoren eine Invasion und einen Staatsstreich gegen Árbenz, der am 27. Juni 1954 gestürzt wurde.
  7. Antonio (Ñico) Lopez Fernandez (1930–1956) war Mitglied der Gruppe, die am 26. Juli 1953 die Moncada-Kaserne angriff. Er schafft es zu entkommen und ersucht die guatemaltekische Botschaft in Havanna um Asyl. Nach der Amnestie für die Angreifer der Moncada kehrt er 1955 zurück und wird Mitglied der Nationalen Leitung der Bewegung des 26. Juli. Nimmt an der Granma-Expedition teil. Er wird am 8. Dezember 1956 in Boca del Toro ermordet.
  8. »Ich unterhielt mich die ganze Nacht mit Fidel und beim Morgengrauen war ich der Arzt für seine geplante Expedition.« Interview Ches mit dem argentinischen Journalisten Jorge Ricardo Masetti im April 1958 in der Sierra Maestra, wiedergegeben in: Jorge Masetti: Die, die kämpfen und die, die weinen (Den Fidel Castro, den ich kennenlernte), Madiedo Verlag, Havanna 1960. In einem anderen Zeugnis dieses Treffens schreibt Che: »Es ist ein politisches Ereignis, den kubanischen Revolutionär Fidel Castro kennengelernt zu haben. Er ist jung, intelligent und selbstsicher und von einer außergewöhnlichen Tapferkeit: ich glaube, wir waren uns beide sympathisch.« Ernesto Che Guevara: Notizen aus dem Zweiten Reisetagebuch, 1955.
  9. Alberto Bayo, Mein Beitrag zur Kubanischen Revolution, Buchdruckerei der Rebellenarmee, Havanna, 1960. Alberto Bayo Giroud ließ sich nach dem Sieg der Revolution in Kuba nieder und starb 1967 im Alter von 75 Jahren in Havanna.
  10. Im Verlauf des XX. Kongresses der Kommunistischen Partei der UdSSR, vom 14.–25. Februar 1956 in Moskau, legt Nikita Chruschtschow einen geheimen Bericht vor, in dem er die Verbrechen Stalins und seine Fehler im Bereich der Landwirtschaft angeprangert.
  11. Lázaro Cárdenas (1895–1970), General der mexikanischen Revolution, von 1934–1940 Präsident Mexikos, förderte eine wichtige Agrarreform und verstaatlichte das Öl im Jahr 1938.
Aus dem Spanischen von Simone Habekost

Quelle: Sonderausgabe der Zeitschrift Juventud Rebelde (Havanna 2006)

* Aus: junge Welt, 15. Juni 2008


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