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Eldorado für EU-Multis

Ausländische Direktinvestitionen in Südamerika und Karibik auf Allzeithoch. Europäische Banken und Konzerne fahren in Wirtschaftskrise saftige Expansionsgewinne ein

Von Benjamin Beutler *

Lateinamerika ist endgültig zum Eldorado globaler Kapitalinvestoren aufgestiegen. Mit 153,5 Milliarden US-Dollar ausländischer Direktinvestitionen hat die Region zwischen Rio Grande und Feuerland 2011 einen »historischen Rekord aufgestellt, der dieses Jahr noch überboten werden könnte«, vermeldet im Mai die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und Karibik (­CEPAL). »Trotz der Unsicherheit, die immer noch die globalen Finanzmärkte regiert, haben die Wirtschaften von Lateinamerika und der Karibik ausländische Direktinvestitionen in hohem Maße angezogen«, äußert sich CEPAL-Chefin Alicia Bárcena zufrieden.

Die jüngsten Zahlen belegen den Trend der letzten 20 Jahre. Insgesamt zehn Prozent aller weltweiten Direkt­investitionen werden heute in lateinamerikanische Unternehmungen wie Staudämme, Goldminen, Erdölfelder, Mobilfunkanlagen und Banken gepumpt. Allein die US-Rating-Agentur Fitch versucht, die Partylaune zu dämpfen. Ein Rückgang der »externen Nachfrage, steigende Angst der Investoren in den Industrieländern und höhere Preisvolatiliät für Rohstoffe« könnte die Perspektiven für 2012 eintrüben, so die Risikoanalysten vergangene Woche. Noch aber spricht das Zahlenwerk eine andere Sprache. Der Run der Investoren auf Länder wie Brasilien (66,7 Milliarden US-Dollar), Mexiko (19,5 Milliarden), Chile (17,3 Milliarden), Kolumbien (13,2 Milliarden) und Peru (7,7 Milliarden US-Dollar) scheint gerade in Krisenzeiten kein Ende zu nehmen. Zwar hatte das Krisenjahr 2009 dem Allzeithoch von 2008 mit über 137 Milliarden US-Dollar Investitionen einen kurzen Dämpfer verpaßt. Doch schon 2010 flossen wieder 120,9 Milliarden US-Dollar.

Moderne Conquista

Ganz vorn dabei in Lateinamerika ist das Big Business der Europäischen Union. Kapital im Wert von über 300 Milliarden US-Dollar haben Firmen vom alten Kontinent seit 2001 über den Atlantik geschickt. Der Großteil ging ins Telekommunikationsgeschäft sowie in den Banken- und Energiesektor von Südamerika. An dieser zunehmend mächtiger werdenden Kapitalfront – 40 Prozent aller Direktinvestitionen kommen aus Europa – reitet das Königreich Spanien an vorderster Linie. Seit der Privatisierungswelle in den 1990er Jahren haben iberische Multis eine Conquista der modernen Art gestartet. Nur die US-Amerikaner haben im selbsterklärten Hinterhof noch mehr Wirtschaftsmacht. 18 Prozent aller ausländischen Investitionen der Region kommen aus dem Norden.

Wie ein Seismograph zeichnet das Allzeithoch der Kapitalströme in Richtung Amazonas die Plattenverschiebung der kriselnden Weltwirtschaftstektonik nach. Stetig nachlassende Kaufkraft und ausgemergelte Staatskassen haben Großunternehmer und Kapitalgeber zum Umplanen bewegt. Alte Märkte in Europa werden verlassen, neue Kontinente erschlossen. Gingen 2007 noch 66 Prozent aller Direktinvestitionen weltweit in Industrieländer, waren es 2011 nur noch 49 Prozent. Dem kriselnden Europa kann das Big Business zunehmend die kalte Schulter zeigen. Neue Mittelschichten in den Millionenstädten von Sao Paulo bis Mexiko-Stadt sehnen sich nach billigen Massenprodukten. Stabile Wachstumsprognosen haben Lateinamerikas Volkswirtschaften zu einem sicheren Hafen werden lassen.

Der Ausverkauf öffentlicher Güter und Staatsfirmen zur Jahrtausendwende hat sich für Europas Privatwirtschaft ausgezahlt. »Für den Telekommunikationsanbieter Telefónica als größtes Unternehmens Spaniens, die Santander-Bank als das zweitgrößte und die Bank Bilbao Vizcaya Argentaria (BBVA) als das viertgrößte in Sachen Kapitalausstattung hat sich Lateinamerika zur Hauptgewinnquelle entwickelt«, bringt die US-Unternehmensberatung Stratfor die Sache auf den Punkt. 2011 haben Santander-Bank und Telefónica über die Hälfte ihrer Gewinne in Brasilien, Mexiko und Chile eingefahren. Allein in Mexiko hat BBVA mehr verdient als in Spanien; über zwei Drittel seines Drei-Milliarden-Gewinns 2011 stammen »aus den alten iberischen Kolonien«, rechnen die Stratfor-Analysten vor.

Zunehmender Geldabfluß

Die Geldströme zeichnen die Größenordnung aktueller Ausweichmanöver in neue Wirtschaftsräume vortrefflich nach. Erhellend ist die Definition ausländischer Direktinvestitionen der Deutschen Bank, die von »Kapitalanlagen im Ausland, die vom Investor aufgrund alternativer Zielsetzungen vorgenommen werden«, spricht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) beschreibt Direktinvestitionen als grenzüberschreitende Expansion von Kapitalanlagen, an deren Ende eine »dauerhafte Beteiligung an einem Unternehmen im Ausland« steht.

Die Risiken dieser Landnahme sind bekannt. »Die wachsende Rückführung von Gewinnen in ihre Herkunftsländer durch die investierenden transnationalen Unternehmen ist eine Tatsache. Die soll uns daran erinnern, daß ausländische Direktinvestitionen nicht nur in eine Richtung fließen«, warnt CEPAL-Präsidentin Bárcena. Wurden in fünf Jahren von 1998 bis 2003 insgesamt Gewinne von 100 Milliarden US-Dollar abgezogen, waren es allein zwischen 2008 und 2010 schon 168 Milliarden US-Dollar.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 29. Mai 2012


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