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Lateinamerika und die globale Finanzkrise: Abgedämpfte Schockwellen

Von Dieter Boris *

Bekanntlich waren viele lateinamerikanische Länder in den letzten Jahren von Währungs- und Finanzkrisen besonders hart betroffen. Die mexikanische Krise von 1994/95, die brasilianische von 1998/99 und die argentinische von 2001/02 waren die wichtigsten. Dieses Mal stehen die Ökonomien Lateinamerikas nicht im Vordergrund des Krisengeschehens. Dennoch zeigte sich bald, dass von einer weltweiten Rezession natürlich auch ein Subkontinent wie Lateinamerika nicht unberührt bleiben konnte. Eine Übersicht von Dieter Boris.

Schon jetzt sind die Aktienkurse an vielen lateinamerikanischen Börsen um 30-50% eingebrochen, der Außenwert einiger wichtiger Währungen hat (seit August) bis Anfang November 2008 erhebliche Rückgänge zu verzeichnen, etwa der brasilianische Real um 25%, der chilenische Peso um 36% oder der mexikanische Peso um 22%.

Stärkster Boom seit 25 Jahren

Die Frage ist, wie tief die lateinamerikanischen Ökonomien dieses Mal betroffen sein werden und ob die Korrekturen an der ultra-neoliberalen Ausrichtung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, wie sie in den vergangenen Jahren von einigen Mitte-Links-Regierungen vorgenommen wurden, eventuell schon erste Früchte tragen werden.

Der mittlerweile vier bis fünf Jahre währende wirtschaftliche Aufschwung zwischen 2003 und 2007 hat ein durchschnittliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 5-6% pro Jahr mit sich gebracht und war daher auch mit einer beträchtlichen Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens verbunden. Diese verdankt sich auch den generell verringerten Bevölkerungszuwachsraten und insbesondere einer verringerten „demographischen Abhängigkeit“, d.h. einer besonders günstigen Relation von arbeitsfähiger und nicht arbeitsfähiger Bevölkerung.

Die Steigerung der Beschäftigung, eine aktivere Politik staatlicher Sozialtransfers sowie der markante Anstieg der Gastarbeiterüberweisungen („remesas“) waren die wesentlichen Determinanten der Zunahme des Pro-Kopf-Einkommens. Die allgemeine Armutsquote konnte in der Expansionsphase von etwa 39 auf rund 31% verringert werden, während die makroökonomischen Ungleichheitsverhältnisse in den meisten Ländern nur geringfügig rückläufig waren.

Die stärkste und längste Boomphase seit über 25 Jahren beruhte vor allem auf günstigen weltwirtschaftlichen Bedingungen, insbesondere auf der sehr vorteilhaften Preisentwicklung auf dem Weltmarkt und der ebenso günstigen externen Finanzierung (über Kredite, Staatsanleihen und Direktinvestitionen). Den größten Einfluss auf die Boomentwicklung hatten die Preise vor allem von Erdgas, Erdöl und mineralischen Rohstoffen, aber auch von Soja, Weizen, in wesentlich geringerem Maße der tropischen Agrargüter. Die Verbesserung der Terms of Trade zwischen 2000 und 2006 entsprach größenmäßig 3,4% des BIP Lateinamerikas. Ohne diesen Terms-of-Trade-Effekt wäre die Leistungsbilanz ab 2005 negativ gewesen.

Zum zweiten war die externe Finanzierungssituation in der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts günstig für die meisten Staaten Lateinamerikas. Die Zinsen sanken bis vor kurzem, und die Risikoaufschläge für Staatsanleihen („spreads“) fielen enorm. Trotz dieser Bedingungen war der Finanzzustrom außer für Brasilien und Kolumbien für einen längeren Zeitraum relativ gering. Die hohen Devisenerlöse und Schuldenrückzahlungen führten zu einem deutlich niedrigeren Schuldenstand als vor 8-10 Jahren. Dieser bewegt sich inzwischen im Durchschnitt bei ca. 20% des BIP – gegenüber etwas über 40 % noch vor etwa 10 Jahren. Die Nettoverbindlichkeiten der größten Ökonomien Lateinamerikas gegenüber dem Ausland lagen 2008 allesamt unter 10% des BIP. Die Involvierung lateinamerikanischer Banken in das moderne, „innovative“ Derivategeschäft, in den Handel mit Zertifikaten und Kreditausfallpapieren (CDS) war offenbar relativ unbedeutend.

Resistenter gegen externe Schocks

Angesichts dieser Situation dürften die Qualität und das Ausmaß der Betroffenheit der meisten lateinamerikanischen Länder eher geringer und vermittelter als bei früheren Währungs- und Finanzkrisen sein. Auch wenn der gesunkene Außenwert vieler Währungen sich nicht schnell erholen sollte und die Aktienkurse sich weiter auf niedrigem Niveau bewegen sollten, wird dies keine katastrophale Wirkungen haben. Exporte würden durch den niedrigen Außenwert der Währung eher begünstigt. Die generelle Abschwächung hat eher inflationsmindernde Effekte, was in den letzten Monaten als wachsendes Problem in nicht wenigen Ökonomien Lateinamerikas, z.B. im ansonsten als musterhaft geltenden Chile, angesehen wurde.

Zweifellos wird es in der unmittelbaren Zukunft zumindest für eine gewisse Zeit zu einem Rückgang der Kapitalzuflüsse infolge hoher Zinsen und größerer Risikoaufschläge kommen; auch die Zuflüsse an Direktinvestitionen werden sich wahrscheinlich in Grenzen halten. In Brasilien sind bereits rückläufige internationale Kreditbeziehungen zu verzeichnen, aber dies wird das inländische Bankensystem kaum negativ berühren. Das Land ist selbst Nettogläubiger gegenüber dem Ausland, so dass auch eine (zeitweise) Abwertung des Real nicht mehr zu einer Chaotisierung der Staatsfinanzen führen muss. Die Tatsache, dass die innere Verschuldung nicht auf US-Dollar lautet bzw. vom US-Dollar entkoppelt ist, macht das Land von Währungsschwankungen relativ unabhängig. Es war vor allem dieser Übertragungsweg, der das Land mehrfach an den Rand der Krise getrieben hatte.

Auch infolge der Einrichtung von Stabilisierungsfonds und aufgrund verschiedener Gesetze über „verantwortliche“ Fiskalpolitik haben die meisten Regierungen, wenn auch nicht explizit eine anti-zyklische, so doch eine sehr vorsichtige Haushaltspolitik betrieben.

Rückläufige „remesas“

Natürlich wird es zu einem Rückgang der „remesas“ (der Gastarbeiterüberweisungen) aus den USA und Europa kommen. Für manche Länder Zentralamerikas oder für Mexiko und Ekuador stellt dieser Posten in der Gesamtbilanz eine erst- bzw. zweitrangige Deviseneinnahmequelle dar. Gerade die in den USA besonders betroffene Baubranche, wo viele Latinos in unqualifizierten Jobs tätig sind, wird diese Einnahmen schrumpfen lassen. Aber auch hier wird es aller Voraussicht nach nicht zu extremen Verwerfungen kommen. Erst im Verein mit anderen Elementen (z. B. Senkung des Erdölpreises, Rückgang der sonstigen Exporte aus dem Maquiladora-Bereich) wird es im Falle von Mexiko zu einem deutlich rezessiven Moment kommen.

So wenig die kurz- und mittelfristigen Folgen der Finanzkrise für die lateinamerikanischen Ökonomien absehbar sind, so sehr ist zu betonen, dass heute aufgrund der veränderten internen und externen Situation die negativen Wirkungen nicht mehr so gravierend wie noch vor 10 oder 15 Jahren sein werden. Auch verschiedene reaktive Maßnahmen der lateinamerikanischen Regierungen, wie z.B. die starke Erweiterung der Interventionsmöglichkeiten der Zentralbank in Brasilien oder die Auflage eines relativ umfangreichen Konjunkturprogramms in Mexiko deuten auf den Willen hin, sich in der Krise nicht vollständig den Unwägbarkeiten der Märkte auszusetzen.

Allerdings sind die Unterschiede in den Ausgangsbedingungen wichtig, z. B. die Tatsache, dass 80% der Exporte Mexikos in die USA gehen, während dies bei Brasilien nur etwa 20% sind. Möglicherweise werden diejenigen Länder, die die deutlichste Abkehr von neoliberalen Maximen vollzogen haben und/oder solche, die mit der US-Ökonomie am wenigsten verflochten sind, mit den geringsten negativen Konsequenzen aus dem Krisenprozess hervorgehen.

* Aus: Sand im Getriebe, Website von attac Österreich; http://sandimgetriebe.attac.at

Der Originalbeitrag erschien im Informationsbrief Weltwirtschaft & Entwicklung (W&E), Nr. 12/2008



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