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"Dies ist die Zeit der Indígenas"

Erstes Treffen der indigenen Völker Amerikas endete mit Forderung nach echter Autonomie

Von Luz Kerkeling, Vícam *

Das Erste Treffen der indigenen Völker Amerikas im nordmexikanischen Bundesstaat Sonora endete mit einer Kampfansage an das kapitalistische System. Regierungen und Konzerne stehen in der Kritik. Echte Autonomie ist die zentrale Forderung.

Vícam, Mexiko. Glühende Hitze, Staub, eine karge, flache Halbwüstenlandschaft und felsige Berge im Hintergrund – vor diesem Szenario trafen sich vom 11. bis zum 14. Oktober über 500 Delegierte von 67 indigenen Nationen, Stämmen oder Völkern zum »Ersten Treffen der indigenen Völker Amerikas« im nordmexikanischen Bundesstaat Sonora. Die Teilnehmer stammten aus zwölf Staaten, darunter Kanada, USA, Mexiko, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Ecuador und Paraguay.

Aufgerufen hatten die in der Gemeinde Vícam lebenden Yaqui-Indigenen, der Nationale Indigene Kongress (CNI) und die Zapatistische Armee zur nationalen Befreiung (EZLN) aus Mexiko. Über 600 Aktivisten von sozialen Bewegungen, weitere Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen und Medienvertreter aus Mexiko und dem Ausland beobachteten die Zusammenkunft. Vor dem Treffen wurden nach Angaben der Tageszeitung »La Jornada« verschiedene Delegationen von Militär- und Polizeieinheiten eingeschüchtert oder aufgehalten, auch ausländische Beobachter wurden observiert.

Yolanda Meza, CNI-Aktivistin der Kumiai-Nation aus dem nordmexikanischen Bundesstaat Baja California Norte, betonte gegenüber ND, dass es sich bei dem Treffen um ein historisches Ereignis handle: »Wir wollen die Kräfte der indigenen Menschen von Amerika und auch der Welt in einer neuen Qualität bündeln. Wir haben festgestellt, dass wir alle sehr ähnliche Probleme haben. In Nord- und Südamerika sind wir massiv von Landraub, Repression und Diskriminierung betroffen. Das führt zu einer immensen Migration. Aber wir wollen nicht weiter abwandern, wir werden nun bleiben und unser Land verteidigen.«

Die Redebeiträge der Delegierten offenbarten die Rücksichtslosigkeit, mit der seit 515 Jahren gegen die Ureinwohner vorgegangen wird. Die in Kanada lebenden Secwepemc schilderten, wie die weißen Eroberer die Ideologie einführten, dass Männer mehr wert seien als Frauen. Sie kritisierten zudem die christlichen Missionare, die bis 1984 die Kinder der Ureinwohner entführten, nach westlichen Denkmustern umerzogen und in vielen Fällen sexuell missbrauchten. In einigen Schulen sollen bis zu 95 Prozent der Kinder vergewaltigt worden sein. Aktuell rufen die Secwepemc zu einem Boykott der olympischen Winterspiele von 2010 in British Columbia auf, weil diese ohne ihre Erlaubnis auf ihren Ländereien veranstaltet werden sollen und unwiederbringliche Zerstörungen verursachen würden. Die Sprecherin der Secwepemc bezog sich wie viele Redner positiv auf den Aufstand der zapatistischen Bewegung in Chiapas und appellierte an die Anwesenden, sich zu vereinen, »als eine große rote Nation auf diesem roten Kontinent«.

»Heute bin ich stolz, dass ich ein Indio bin« – diese Äußerung war vielfach zu hören. Die indigenen Aktivisten haben die Opferrolle endgültig abgelegt – das Wort »Indio«, das sie rassistisch als zurückgebliebene »Bauerntölpel« beleidigt, füllen sie nun mit Würde und vernetzen sich über diese einst oktroyierte Bezeichnung.

Die Delegierten lehnten mit zwei Ausnahmen – Ecuador und Nicaragua – die jeweilige staatliche Indígena-Politik und die nationalstaatlich festgesetzten Grenzen ab. Sie forderten echte Autonomie in den Bereichen Territorium, Naturressourcen, Verwaltung, Wirtschaft, Kultur, Gesundheit und Bildung.

Salvador Campanur, Purhépe-cha-Indígena, unterstrich, dass der CNI nicht mit Regierungen, politischen Parteien oder der Wirtschaft zusammenarbeite: »Wir schließen uns mit den Menschen von unten zusammen, mit den antikapitalistischen Kräften, die gegen dieses System sind, in dem es nur um Profit geht und das Geld eine Gottheit ist«.

Subcomandante Marcos, Sprecher der EZLN, erinnerte an die Dramatik der globalen ökologischen Situation: »Niemals zuvor ist die Zerstörung so groß und so irreparabel gewesen. Was sie jetzt nämlich töten ist die Erde, die Natur, die Welt. Das zerbrechliche Gleichgewicht der Natur, das die Welt Millionen von Jahren in Gang gehalten hat, ist dabei, zusammenzubrechen, doch diesmal für immer. Und da oben wird nichts unternommen, außer Erklärungen in den Massenmedien abzugeben und nutzlose Kommissionen zu bilden. Dort oben, in den Regierungen, gibt es keine Hoffnung.

Palma Aguirre verlas am 14. Oktober die Erklärung von Vícam, die eine neue Etappe im Widerstand der amerikanischen Indígenas verkündet: »Wir erklären vor der ganzen Welt, dass wir unsere Mutter Erde schützen und mit unserem Leben verteidigen werden. Wir als indigene Stämme und Völker dieser Territorien, die von den Invasoren Amerika genannt wurden, haben bis heute Widerstand gegen einen kapitalistischen Eroberungs- und Vernichtungskrieg geleistet, der bereits mehr als 515 Jahre andauert. Doch mit dem Schmerz und dem Albtraum, der durch den entfesselten Kapitalismus verursacht wird, wachsen der Widerstand und die Empörung unserer Völker. Wir manifestieren unser historisches Recht auf freie Selbstbestimmung als Völker, Nationen und Stämme dieses Kontinents. Wir weisen den kapitalistischen Eroberungskrieg, der uns von transnationalen Konzernen und internationalen Fi-nanzorganisationen in Komplizenschaft mit den Nationalstaaten aufgezwungen wird, entschieden zurück. Wir protestieren gegen die Zerstörung und Plünderung der Mutter Erde durch Industrie, Bergbau, Tourismus, Agrar-, Urbanisierungs- und Infrastrukturarbeiten«.

Kulturell umrahmt wurde die Zusammenkunft, die zwischen einer konzentrierten und kämpferischen Atmosphäre hin- und herpendelte, mit Tänzen, Liedern, Gedichten und Filmpräsentationen. So hatte das Treffen auch den Charakter einer großen interkulturellen Feier und wirkte wie ein Aufbruch.

Salvador Campanur äußerte sich dementsprechend optimistisch: »Wir sind überzeugt: Dies ist die Zeit der Indígenas! Wir sind dabei, ein großes Netzwerk zu bilden. Und wir werden siegreich sein!«

* Aus: Neues Deutschland, 23. Oktober 2007


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