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Lateinamerikas indigene Vielfalt ist bedroht

Erster Atlas über Sprachen, Gesellschaft und Kultur zeichnet ein bedenkliches Szenario

Von Benjamin Beutler *

Die Vielfalt auf dem lateinamerikanischen Subkontinent ist in Gefahr. Zu diesem Schluss kommt der »Atlas zur soziolinguistischen Lage der indigenen Völker Lateinamerikas«.

Es ist die erste Publikation dieser Art überhaupt: der »Atlas zur soziolinguistischen Lage der indigenen Völker Lateinamerikas«. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF), Spaniens Entwicklungsbehörde AECID und die »Stiftung Bildung in multilinguistischen und plurikulturellen Kontexten« (FUNPROEIB Andes) haben den Atlas erstellt. Über 26 Prozent der 420 Sprachen, die heute von den 28,8 Millionen Indigenen (sechs Prozent der Gesamtbevölkerung) gesprochen werden, sind vom Aussterben bedroht.

Lob für das Kartenwerk kommt aus Bolivien. »Bisher hatten wir nicht einen einzigen wirklich fundierten Bericht über Zustand und Lage der indigenen Völker was Kultur, Bildung, Linguistik, Wirtschaft, Demographie und Soziales angelangt«, sagt Walter Gutiérrez, Leiter der Abteilung für Interkulturelle Fragen im Erziehungsministeriums seines Landes. Der Atlas, der Informationen von Volkszählungen aus 21 Nationen von Patagonien bis Mexiko zusammenfasst und über 522 indigene Völker verzeichnet, sei ein »nützliches Instrument, um ganzheitliche Politiken zum Schutz der Interessen Indigener« zu planen.

Der Atlas, an dem über 34 Sprachwissenschaftler, Soziologen und Anthropologen in 14-monatiger Arbeit mitwirkten, zeigt ein differenziertes Bild. Indigenität ist ein Sammelbegriff, die ethnische Vielfalt Lateinamerikas komplex. Die Darstellungen überschreiten die Grenzen der Nationalstaaten, was differenzierte Perspektiven eröffnet. Trotz nationaler Trennung haben viele indigenen Gemeinden ihre kulturelle Einheit bewahrt. Oft unterscheiden sich indigene Völker, die auf demselben Staatsgebiet liegen, in größerem Maße als die zweier verschiedener Länder. Etwa in Peru das Volk der Wampis im Amazonasgebiet und die Quechua in den Anden. Enger verbunden fühlen sich die Wampis mit den Shuar aus dem Nachbarland Ecuador, beide Völker teilen dieselbe Sprachfamilie.

Die größte linguistische Vielfalt gibt es mit 247 Sprachen in Brasilien. El Salvador ist das Land mit der geringsten Bandbreite, nur drei Idiome wurden ausgemacht. »In nicht einem Land, das wir untersucht haben, gibt es keine indigene Bevölkerung, nicht einmal in Uruguay«, erklärt Inge Sichra, österreicherische Soziolinguistin und FUNPROEIB-Mitarbeiterin. Das ethnisch vielfältigste Gebiet ist die Amazonasregion (216 Völker), Mittelamerika (77) und das Orinocogebiet (41). In nur vier Staaten (Bolivien, Mexiko, Peru, Kolumbien) leben 87 Prozent aller Indigenen. Quechua, Nahualt, Aymara, Maya und Ki´che sind die größten Gruppen. Mit zwischen 500 000 und einer Million folgen die Mapuche, Mayaq'eqchi', Kaqchikel, Mam, Mixteco und Otomí. »103 indigene Sprachen, ein Viertel aller Gebrauchssprachen, werden in zwei oder mehreren Ländern gesprochen, wobei Quechua ein Sonderfall ist, das in sieben Ländern gesprochen wird«, so Sichra.

21 Sprachen sind akut vorm Aussterben bedroht. Migration wegen wirtschaftlicher Motive oder gewalttätiger Konflikte (Kolumbien) in Städte und Ballungszentren sei der wichtigste Grund für das Aufgeben der Muttersprache. Dieser Trend wird verstärkt durch die Tatsache, dass fast ein Fünftel der indigenen Gemeinden den Gebrauch ihrer Sprache aufgegeben hat. »Es handelt sich um 44 indigene Völker, die als einzige Sprache Spanisch gebrauchen und um 55 Völker, die nur Portugiesisch benutzen«, alarmiert der Atlas. Anlass zur Ausarbeitung des Kartenwerks hatte die Deklaration über die Rechte der indigenen Völker der Vereinten Nationen im September 2007 gegeben.

* Aus: Neues Deutschland, 5. Oktober 2010


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