Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Süden sieht keine Sonne

Lateinamerika im Krisenstrudel. Regionale Wirtschaftskommission CEPAL prognostiziert bis Ende 2009 Außenhandelseinbruch von 25 Prozent

Von Benjamin Beutler *

Erneut bekommen die Volkswirtschaften des südlichen Amerika ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt als Rohstofflieferanten zu spüren. Als das »schlimmste Ergebnis für die Region seit 72 Jahren« bescheinigte diese Woche die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) dem Subkontinent einen historischen Einbruch im Außenhandel. Laut des jüngsten Berichts des UN-Wirtschaftsbüros, der am Dienstag in Santiago de Chile vorgestellt wurde, verzeichnen die Preise auf Ausfuhrgüter wie Agrarerzeugnisse, Mineralien und Öl einen dramatischen Rückgang um 29 Prozent. Dem 500-Millionen-Einwohner-Kontinent seien dadurch bereits erhebliche Verluste entstanden. Demnach würden bis Ende 2009 die Exporteinnahmen um insgesamt 25 Prozent eingebrochen sein, rechnet die Studie vor.

Die Auswirkungen der globalen Wirtschaftskrise auf die zuletzt beachtlich gewachsenen Volkswirtschaften der Region liegen angesichts dieser Zahlen schon heute weit über den Schäden der Krise in Asien (1998) und der lateinamerikanischen Schuldenkrise (1982). Man müsse bis »in das Jahr 1937« zurückgehen, um einen derartigen »Handelsschock« finden zu können, kommentiert Osvaldo Rosales, CEPAL-Direktor für Internationalen Handel, die aktuelle wirtschaftliche Ausnahmesituation. Rückblickend sei in der ersten Jahreshälfte »ähnliches passiert wie in Europa, den Vereinigten Staaten und auch in China, wo der Handel um 25 Prozent einbrach«, so Rosales. Ursächlich für die alarmierende Situation ist neben fallenden Preisen für Exportgüter das gesunkene Exportvolumen. »Wir verkaufen weniger Öl für weniger Geld«, hatte Venezuelas Präsident Hugo Chávez schon am Sonntag in seiner TV-Sendung »Aló Presidente« die Folgen der »kapitalistischen Krise« für den Karibikstaat erklärt. Denn besonders hart getroffen sind derzeit Erdöl- und Mineralien exportierende Staaten wie Venezuela, Ecuador, Kolumbien und Bolivien, wo sich die Terms of Trade (internationale Austauschbeziehungen; Import verteuert sich im Verhältnis zum Export) um etwa 33 Prozent verschlechtert haben. Und auch die Importbilanz ist in den Keller gerutscht -- 14 Prozent weniger Einfuhren bedeuten ein 27-Jahres-Tief für den Kontinent.

Auf etwa 70 Milliarden US-Dollar beziffert das 160-Seiten-Papier des CEPAL zudem den Rückgang des Investitionsstromes aus der übrigen Welt in Richtung Subkontinent. Zugleich gingen die Auslandsüberweisungen von Arbeitsmigranten, die in Europa und den USA ihr Geld verdienen, um zehn Prozent von rund 69 auf 62 Milliarden US-Dollar zurück. In Ländern wie Ecuador oder Haiti tragen diese Geldtransfers erheblich (bis zu knapp einem Drittel) zum Nationaleinkommen bei. Ein derartiger Rückgang hat deshalb katastrophale Auswirkungen in diesen bitterarmen Ländern.

Die Folgen für die Bewohner Süd- und Mittelamerikas sind absehbar. Die Arbeitslosigkeit wächst. Inzwischen wird sie offiziell mit neun Prozent angegeben. Zu den gemeldeten 15 Millionen Menschen ohne Beschäftigung kommen weitere vier Millionen aufgrund fehlender sozialer Sicherungen wie Arbeitslosengeld. »In einer Region mit über 180 Millionen in Armut lebenden Menschen und 70 Millionen Bedürftigen« kündige sich angesichts derartiger Zahlen eine soziale Krise an, so CEPAL-Analystin Alicia Bárcena. Sie warnt vor »dauerhaften Schäden« für Lateinamerika. Die größten Rezessionsopfer sind jedoch Mexiko und Mittelamerika. Sie hängen am stärksten am Tropf der US-amerikanischen Wirtschaft, seitdem sie um die Jahrtausendwende durch den Abschluß von Freihandelsverträgen (TLC) ihre Märkte geöffnet hatten. Besonders ist hier der Tourismus eingebrochen, eine Haupteinnahmequelle in den bei US-Touristen sonst so beliebten Sandstrand-Karibikländern.

Angesichts dieses düsteren Panoramas verwundern optimistische Aussagen prominenter Ökonomie-Gurus, wie des Wirtschaftsnobelpreisträgers Paul Krugman: »Die aktuelle Situation Lateinamerikas ist schlecht, aber die Perspektiven für die nächsten sechs Monate können als gut bezeichnet werden.« Die »globalen Daten« würden auf »den Beginn einer Erholung hinweisen«, so der US-Volkswirt. Er »hoffe« auf das »Ende der globalen Rezession«, was einen Anstieg der Rohstoffpreise und der weltweiten Nachfrage nach sich ziehe. Alles hänge natürlich an der »positiven Entwicklung in den USA, Europa und Japan«, so die beruhigende Prophezeiung. Fazit: So wenig, wie die Wirtschaftsexperten die aktuelle Krise voraussagen konnten, so vage sind nun deren Durchhalteparolen.

* Aus: junge Welt, 28. August 2009


Zurück zur Lateinamerika-Seite

Zurück zur Homepage