Mühselige Reformen
Linksregierungen in Südamerika im Dilemma
Von Marcela Valente, Buenos Aires*
In Südamerika – angeschlagen von den Auswirkungen der neoliberalen Wirtschaftsreformen in den
90er Jahren – wird zunehmend links gewählt. Doch offenbar tun sich auch die neuen progressiven
Regierungen mit Sozialreformen schwer.
Der Bolivianer Evo Morales ist der letzte in der Reihe linker Wahlsieger in Lateinamerika. Alle eint,
dass sie einerseits unter dem Druck stehen, ihren Haushalt zu sanieren, ihre Auslandsschulden zu
bedienen und Sicherheiten zu bieten, die Investitionen anziehen. Anderseits sind da die Wähler, die
das einfordern, was man ihnen versprochen hat: die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, Armut und
Ungleichheit in einer Weltregion, in der die Kluft zwischen Arm und Reich am größten ist.
Doch um den Herausforderungen gerecht zu werden, muss ein Paradigmenwechsel in der
Wirtschaftspolitik erfolgen, meint der Exekutivsekretär des Lateinamerikanischen Rats für
Sozialwissenschaften, Atilio Borón. Der Schwerpunkt müsse auf der sozialen Entwicklung der
Länder liegen. Die Gefahr, dass der Paradigmenwandel Investoren abschrecken könnte, hält der
Experte für äußerst gering. Für Investoren sei ein Binnenmarkt, an dem die gesamte Bevölkerung
partizipiere, interessant.
In Brasilien hat der Amtsantritt des ehemaligen Gewerkschafters und Metallarbeiters Luiz Inácio Lula
da Silva im Januar 2003 große Hoffnungen auf einen sozioökonomischen Wandel ausgelöst. Erfolge
kann die Regierung bei der Bekämpfung der extremen Armut vorweisen. Sie ging im vergangenen
Jahr von 27,26 auf 25,08 Prozent zurück, wie die in Rio de Janeiro angesiedelte Stiftung Getulio
Vargas bekannt gab. In reellen Zahlen ausgedrückt wurden mehr als drei Millionen der insgesamt 40
Millionen Brasilianer, die 2003 als extrem arm eingestuft worden waren, aus dem absoluten Elend
befreit. Doch Lulas Wirtschaftspolitik zeichnet sich durch einen exzessiven Sparkurs aus, um die
Rückzahlung der Außenschulden nicht zu gefährden. In Kombination mit hohen Zinsraten zur
Bekämpfung der Inflation fördert das vor allem die Rezession und kostet Arbeitsplätze.
In Argentinien, wo im Mai 2003 der linksgerichtete Néstor Kirchner das Ruder übernahm, lässt sich
nach Ansicht Boróns zumindest in einigen Bereichen »eine gewisse Bereitschaft erkennen, die
Dinge zu ändern«. Nach der schweren Wirtschafts- und Finanzkrise Ende 2001 war die Armut in der
Bevölkerung auf mehr als 50 Prozent angestiegen, konnte inzwischen aber auf 40 Prozent gesenkt
werden. Dennoch halte sich die Regierung in Buenos Aires strikt an den Washingtoner Konsens,
ohne auch nur den kleinsten Richtungswechsel in der Wirtschaftspolitik zuzulassen, moniert Borón.
Dazu gehören Handelsliberalisierung, Privatisierung, Deregulierung und eine Senkung der
Haushaltsausgaben.
Chile krankt vor allem an einer großen sozialen Ungleichheit – eine Erbschaft der Diktatur von 1973
bis 1990, wie Borón erläutert. Dennoch kann das Land Erfolge bei der Armutsbekämpfung
vorweisen. Die absolute Armut ging seit 1990 von 12,9 auf 4,7 Prozent zurück.
Venezuela verfolgt wirtschaftlich, sozial und politisch einen neuen Kurs und ist bemüht, aus dem
Washingtoner Konsens auszuscheren. Trotz einer Vielzahl von Sozialprogrammen und dem Verkauf
subventionierter Lebensmittel leiden immer noch 17 Prozent der venezolanischen Bevölkerung an
Unterernährung.
Was Morales anbetrifft, hält ihn Borón für fähig, auf sozialer Schiene voranzukommen. Dass der
Weg mühselig sein wird, zeigen die anderen Länder der Region.
* IPS
Aus: Neues Deutschland, 3. Januar 2006
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