Zweite Geburt
Südamerikanisches Wirtschaftsbündnis MERCOSUR festigt sich mit Zollabkommen. Streit mit EU um Inselgruppe
Von André Scheer *
Als »zweite Geburt des Bündnisses« hat Argentiniens Präsidentin Cristina
Fernández am Dienstag (3. Aug.) zum Abschluß des Gipfeltreffens des Gemeinsamen
Südamerikanischen Marktes (MERCOSUR) die Unterzeichnung eines Zollabkommens
zwischen den Mitgliedsstaaten gefeiert. Tatsächlich gilt das Zustandekommen
dieser Vereinbarung als eine faustdicke Überraschung, nachdem die Außenminister
des Blocks am Montag (2. Aug.) die noch bestehenden Differenzen bei den Verhandlungen
nicht hatten ausräumen können. Anschließend zeigte sich auch Brasiliens
Präsident Luiz Inácio Lula da Silva enthusiastisch und feierte die Veranstaltung
als »das beste Treffen der letzten 15 Jahre«. Enttäuscht zeigte sich der
Brasilianer, der von seiner argentinischen Amtskollegin den Vorsitz des MERCOSUR
übernahm, dagegen von den schleppenden Verhandlungen mit der Europäischen Union
über ein Freihandelsabkommen. Vor allem Frankreich sei dafür verantwortlich, daß
die erst im Juni nach sechsjähriger Unterbrechung wieder aufgenommenen Gespräche
nicht vorankommen, kritisierte Lula. Haupthindernis ist offenbar die Weigerung
der Regierung in Paris, die Lebensmittelsubventionen für die eigene
Landwirtschaft zu reduzieren.
Als ein weiterer Stolperstein könnte sich der jahrzehntealte Konflikt zwischen
Argentinien und Großbritannien um die von London beherrschten Malwinen
(Falklandinseln) herausstellen. Die in der westargentinischen Stadt San Juan
zusammengekommenen Staatschefs unterstrichen in der Abschlußerklärung des
Treffens erneut ihre Unterstützung für die »legitimen Rechte Argentiniens« an
der 600 Kilometer vor der Küste des Landes gelegenen Inselgruppe. Insbesondere
verurteilten sie, daß die Inseln von der EU im Lissabon-Vertrag ausdrücklich als
assoziierte Überseegebiete der Union definiert wurden. Das sei vor dem
Hintergrund des Konflikts um die Inselgruppe nicht hinnehmbar, heißt es in der
MERCOSUR-Erklärung.
Nur am Rande gingen die Regierungschefs von Argentinien, Brasilien, Paraguay und
Uruguay sowie die als Gäste angereisten Präsidenten Evo Morales aus Bolivien
und Sebastián Piñera aus Chile auf den Konflikt zwischen Kolumbien und Venezuela
ein. Der venezolanische Präsident Hugo Chávez hatte seine Teilnahme aus
Gesundheitsgründen kurzfristig abgesagt und seinen Außenminister Nicolás Maduro
nach San Juan entsandt. In der Abschlußerklärung heißt es nun, der Kampf gegen
den »Terrorismus in allen seinen Formen« sowie gegen das »transnational
organisierte Verbrechen« müsse verstärkt werden. Allerdings müsse der Kampf
gegen diese »Geißel« in Übereinstimmung mit den nationalen Gesetzen und dem
Völkerrecht erfolgen und setze den vollen Respekt für die Souveränität und
Integrität der Staaten voraus. Damit warnen die MERCOSUR-Staaten diplomatisch
verklausuliert vor einem erneuten militärischen Überfall Kolumbiens auf seine
Nachbarländer. Im März 2008 waren kolumbianische Truppen in Ecuador eingedrungen
und hatten dort ein Lager der FARC-Guerilla überfallen. Seit diesem Angriff
liegen die Beziehungen zwischen Bogotá und Quito auf Eis. Erst am Dienstag
beantragte der ecuadorianische Staatsanwalt Carlos Jiménez beim zuständigen
Gericht die Auslieferung des künftigen kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel
Santos, der zum Zeitpunkt des Überfalls Verteidigungsminister seines Landes
gewesen war. Die endgültige Entscheidung, ob Ecuador beim Nachbarland offiziell
die Auslieferung Santos’ beantragt, liegt nun beim Nationalen Gerichtshof in Quito.
* Aus: junge Welt, 5. August 2010
Markt des Südens macht Fortschritte
Mercosur-Staaten schlossen Zollvereinbarung **
Die Staats- und Regierungschefs des südamerikanischen Wirtschaftsverbundes
Mercosur (Markt des Südens) haben bei ihrem 39. Gipfeltreffen in der argentinischen
Provinzhauptstadt San Juan Fortschritte bei der Integration gemacht. Nach sechsjährigen
Verhandlungen einigten sich die Vertreter der Mitgliedsstaaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und
Uruguay am Dienstag erstmals auf einen gemeinsamen Außenzoll. Damit entfällt die bisherige
Praxis, dass für den grenzüberschreitenden Transport von Waren aus Drittländern innerhalb des
Mercosur zweimal Zölle zu entrichten waren. Die Einigung hatte lange auf sich warten lassen, weil
vor allem der Mechanismus zur Verteilung der Zolleinnahmen auf die Mitgliedsländer umstritten war.
Für die nächsten sechs Monate übernahm Brasiliens Präsident Luiz Inacio Lula da Silva die
Präsidentschaft des Mercosur von der argentinischen Gipfelgastgeberin Cristina Kirchner.
Der venezolanische Außenminister Nicolás Maduro bat während des Treffens den paraguayischen
Senat, die Aufnahme seines Landes in den Mercosur nicht länger zu blockieren. Die von der
konservativen Opposition dominierte Kammer in Asunción ist das letzte Hindernis auf dem Weg
Venezuelas zur Vollmitgliedschaft in dem Wirtschaftsverbund. Nachbar Kolumbien – derzeit im Streit
mit Venezuela – ist assoziiertes Mitglied.
** Aus: Neues Deutschland, 5. August 2010
Integrative Fortschritte
Von Martin Ling ***
Lula geriet gar in Überschwang: Als »die beste Mercosur-Versammlung« der
letzten 15 Jahre feierte Brasiliens Präsident das Treffen im
argentinischen San Juan. Und in der Tat ist auf dem Papier ein lang
ersehnter Durchbruch erreicht worden: In der hochtrabend Gemeinsamer
Markt des Südens (Mercosur) genannten Region wird 19 Jahre nach der
Gründung wenigstens ein Zollabkommen getroffen. Damit gibt es zwar immer
noch keinen Gemeinsamen Markt à la EU mit freiem Güterverkehr, aber
wenigstens wird nur noch an der ersten Binnengrenze Zoll fällig und
nicht an jeder, was gewiss den intraregionalen Handel nicht beförderte.
Ein großer Fortschritt, der nur noch der Umsetzung bedarf.
Dieser Schritt könnte einen weiteren Beitrag für die ökonomische
Emanzipation in Lateinamerika leisten, die seit geraumer Zeit im Gange
ist. Schon 2009 wurde beschlossen, den Binnenhandel des Mercosur auf
Basis regionaler Währungen abzuwickeln. Eine Entwicklung, wie sie noch
in den 90er Jahren undenkbar gewesen wäre. Nichts ging ohne Dollar, weil
kein Land die schwache, instabile Währung des Handelspartners zu
akzeptieren bereit war. Das hat sich gründlich geändert: Nach den
verlorenen letzten beiden Jahrzehnten im vergangenen Jahrhundert hat
sich Lateinamerika makroökonomisch fast durchweg konsolidiert und
stabilisiert - freilich ohne die Zahl der Armen auf dem Kontinent
deutlich abbauen zu können. Dennoch hat Lateinamerika reale
integrationspolitische Fortschritte gemacht. Die gemeinsame Bank des
Südens, der 2008 gegründete Staatenbund UNASUR und die Weiterentwicklung
des Mercosur sind dafür deutliche Zeichen. Die Richtung stimmt.
*** Aus: Neues Deutschland, 5. August 2010 (Kommentar)
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