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Schädlicher Dollarregen

Ohne Geldüberweisungen der Migranten könnte die Mehrzahl der zentralamerikanischen Familien nicht existieren. Die Folgen sind eine Verfestigung der neoliberalen Strukturen und die Entpolitisierung der arbeitenden Bevölkerung

Von Torge Löding, San José *

Für die von Geldüberweisungen, Remesas, abhängigen Ökonomien in Zentralamerika beginnt das Jahr 2009 mit schlechten Nachrichten. Erstmals seit den 90er Jahren sinkt die Summe der Geldüberweisungen, welche Migranten aus den USA, Europa und anderen Ländern den daheimgebliebenen Familienmitgliedern senden. Auch wenn in den meisten Ländern verläßliche Zahlen fehlen, ist die Tendenz klar: Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise, die als US-Immobilienkrise begann, kommen weniger Remesas in den Empfängerländern an.

Diese Entwicklung sollte für die Regierungspolitiker in Zentralamerika ein Grund mehr sein, etwas gegen die Abhängigkeit ihrer Volkswirtschaften von jenen Geldern zu tun -- aber Fehlanzeige, alternative Wirtschaftskonzepte sucht man in der Region vergeblich. Ein Grund für die Initiativlosigkeit der Regierungen mag sein, daß die Summe des überwiesenen Geldes jetzt zwar schrumpft, in den fünf Jahren davor aber dramatisch angestiegen ist.

Guatemala - Zehn Prozent des BIP

»Wir haben ein ernsthaftes Problem mit der Quellenlage«, bemängelt Irene Palmer, Direktorin des zentralamerikanischen Instituts für Sozialstudien (INCEDES) in Guatemala. »Es gibt keine verläßlichen Zahlen über die Anzahl der Arbeitsmigranten aus Guatemala. Immer wenn die Regierung oder eine internationale Organisation neue Trends bekanntgeben, sagen sie uns nicht, woher sie die Zahlen nehmen. Deshalb müssen wir immer skeptisch sein.« Für glaubwürdig hält sie folgende Daten, die das prozentuale Wachstum der überwiesenen Geldmengen zwischen 2005 und 2008 markieren: Honduras plus 32 Prozent, Guatemala plus 18,5 Prozent, Costa Rica plus 16,2 Prozent, El Salvador plus zwölf Prozent und Panama plus 9,9 Prozent.

In den 90er Jahren war Guatemala mit seiner Grenze zu Mexiko vor allem Durchgangsland für Migranten aus Honduras, El Salvador und Nicaragua auf deren Weg in die USA. In geringerer Anzahl wählten bereits damals auch Bürgerkriegsflüchtlinge aus Guatemala den Weg in den Norden und etablierten soziale Netzwerke in den USA. »Ein Massenphänomen wurde die Arbeitsmigration in die USA aber erst ab 2002 als Folge der Kaffeekrise in Guatemala«, berichtet Ruben Dario Narciso, Wirtschaftsexperte beim Beratungsinstitut AsíEs, einem Partner der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung. Narciso bezeichnet Remesas als wichtigsten Wachstumsmotor für Guatemalas Volkswirtschaft, jährlich seien die Überweisungen um zehn bis 15 Prozent gewachsen und repräsentieren heute bis zu zwölf Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP).

Irene Palmer stimmt dem zu: »Von den 13 Millionen Guatemalteken erhalten 5,5 Millionen regelmäßig Überweisungen von ihren Angehörigen im Norden. 40 Prozent von ihnen sind wirtschaftlich komplett abhängig davon!« Für sie kommt dem starken Einfluß der Remesas vor allem eine Lokomotivfunktion für neoliberale Politik zu, denn der Staat hat sich in den vergangenen Jahren immer weiter aus seiner sozialen Verantwortung zurückgezogen, der er auch in den zwei Jahrzehnten zuvor nur unzulänglich nachgekommen ist. »Während Geldüberweisungen in Guatemala gut zehn Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmachen, belaufen sich die Staatsausgaben für Soziales gerade einmal auf 6,6 Prozent«, kristisiert Palmer.

Auch zur Armutsbekämpfung scheinen Remesas ein untaugliches Mittel zu sein. Jorge Campo von der guatemaltekischen Beratungsgesellschaft PCS berichtet, daß die Geldüberweisungen im vergangenen Jahrzehnt die Armut gerade einmal um 0,67 Prozent reduziert haben. »Geldüberweisungen sind keine Garantie für Entwicklung. Sie werden für Nahrungsmittel, Gesundheit und Erziehung ausgegeben. Während sie vor allem zu mehr Konsum verlocken, beunruhigt mich auch, daß ein Teil für Gesundheit und Erziehung ausgegeben wird, obwohl dies vom Staat garantiert sein sollte. Sprich: Sie helfen dem Staat bei der Umsetzung neoliberaler Politik und nicht sozialer.«

Honduras hängt am Devisentropf

Dieser Effekt ist im Nachbarland Honduras sogar noch deutlicher ausgeprägt, denn die Remesas machen hier bis zu einem Viertel des Bruttoinlandprodukts aus. Von den 7,5 Millionen Honduranern arbeiten nur 500000 in geregelten Arbeitsverhältnissen und erhalten den Mindestlohn oder wenig mehr. Im Jahr 2008 haben Migranten ihren Familien fast drei Milliarden US-Dollar überwiesen. Seit zwei Jahren nun ist das Wachstum abgebremst. »Das kann mit dem Wechselkurs zwischen Dollar und Lempira zu tun haben. Die Banken verdienen sehr gut daran«, kritisiert Edith Zavala, die als Vorsitzende des Nationalen Migrationsforums 26 Organisationen vertritt.

Die Honduranerin Sara Elisa Rosales hat ein neueres Phänom bei der Migration in den Norden unter die Lupe genommen. Die Sozialwissenschaftlerin und Autorin interviewte Honduranerinnen, die seit Jahren verstärkt nach Spanien migrieren und dort als »unsichtbare Frauen« Haushaltsarbeit verrichten. Ihr Buch »Migración, Remesas y Género« (Migration, Geldüberweisungen und Geschlecht) basiert auf Interviews mit den Migrantinnen in Spanien. Es räumt mit dem Mythos auf, daß in Europa bessere Arbeitsbedingungen herrschten als in den USA. »Die Frauen leben hier genauso in Garagen oder Absteigen zusammengepfercht wie in den Vereinigten Staaten. Sie sind entrechtet und leben im Schatten der Gesellschaft.«

El Salvadors »Dollarisierung«

Traurig schüttelt Carmen Ayala Belis den Kopf. »Nichts ist besser geworden, seitdem die Kinder in den Norden gegangen sind. Das Geld, das ankommt ist wenig, ihre Arbeitskraft fehlt hier auf dem Hof. Groß ist nur der Schmerz« -- die Endvierzigerin wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und lehnt sich zurück. Mit ihrem Mann und den fünf jüngeren Kindern lebt sie auf dem kleinen Hof in der Gemeinde La Ceiba auf salvadoranischer Seite des Grenzgebietes von El Salvador und Guatemala. Das kleine Bauernhaus wirkt provisorisch, gedeckt ist es mit Palmenwedeln und Wellblech, der Eingang ist statt mit einer Tür mit einer Decke verhangen. Ein Sohn und eine Tochter leben seit gut einem Jahr als Arbeitsmigranten in den USA und unterstützen ihre Familie mit monatlich 50 bis 100 Dollar. Das entspricht etwa einem Monatseinkommen auf dem Land in El Salvador, aber voran kommt die Familie nicht. Doña Carmen beklagt die steigenden Lebensmittelpreise, von der Politik fühlt sie sich komplett verlassen. Anderen Müttern redet sie zu, sie sollen ihren Kindern den »American Dream« ausreden und im Land bleiben. »Wir müssen etwas für unsere Zukunft tun«, sagt die siebenfache Mutter, die ihre wenige freie Zeit in eine Umweltschutzgruppe investiert.

Etwa sechs Kilometer entfernt von der Siedlung liegt der Ort Cara Sucia, ein »Pueblo de Paso«, eine Durchgangsstation für Arbeitsmigranten auf dem Weg nach Norden. Jorge Alberto Enriques ist Pastor der lutheranischen Kirchengemeinde des Ortes, die auch einen kleinen Radiosender betreibt. Der Mann mit der ernsten Miene zeigt sich besorgt: »So viele Menschen sehen Migration als den einzigen Ausweg. Aber sie informieren sich nicht über die Gefahren. Menschenrechte gelten für sie nicht, wenn sie sich in die Arme von Schleppern begeben oder auf eigene Faust über die grüne Grenze gehen.« Der Gottesmann versucht für das Thema zu sensibilisieren, genutzt hat ihm und der lokalen Radiostation dabei zum Beispiel die sozialkritische Radionovela »Pueblo de Paso«, welche ein costaricanisches Kommunikationszentrum produziert hat.

Nach Angaben von Jesús Aguilar, Vorsitzender der Organisation für Migrantenrechte Carecen, die von kirchlichen Organisationen wie dem irischen Hilfswerk Tócaire gefördert wird, sank der Eingang von Geldüberweisungen in El Salvador im letzten Quartal 2008 im Vergleich zum Vorjahr um vier Prozent. »Die Remesa ist der Hauptgrund für eine Migration. Aber niemand fragt, was eigentlich die menschlichen Kosten sind, welche sie mit sich bringt. Wieviele mußten sterben und wie sehr mußten diejenigen leiden, die den Weg in die USA geschafft haben? Das wird nicht ernsthaft diskutiert; es geht immer nur um die Remesa als eine Einkommensquelle, die eine gewisse makroökonomische Stabilität für das Land gewährleistet«, kritisiert Aguilar.

Die Zahlungen haben in El Salvador aber noch ganz andere Folgen. Durch die Dollarisierung der Wirtschaft ist es als Zielland für Migranten aus den Nachbarländern Honduras und Nicaragua interessant, auch wenn die Löhne sehr gering sind. Der junge Wissenschaftler Oscar Morales hat den Grenzort Pasaquina in der östlichen Region La Union untersucht, wo sich die Remesa-Empfänger zu einer neuen Schicht von Landbesitzern aufgeschwungen haben. Mehr als 85 Prozent der Familien in Pasaquina empfangen Geldüberweisungen, die über die Hälfte ihrer Einkünfte ausmachen. Wie überall in der Region nutzen sie dieses Geld zu 90 Prozent für Konsum, Lebensmittel, Gesundheit und Erziehung. Im Laufe der vergangenen 25 Jahre ist aus den verbliebenen zehn Prozent aber doch eine Stange Geld geworden. Viele Familien betreiben Rinderzucht, weil aber die meisten Männer im arbeitsfähigen Alter in die USA migrierten, herrscht Bedarf an Arbeitskräften. Hier kommen die Immigranten aus Honduras und Nicaragua zum Einsatz, die als Tagelöhner zu schlechten Bedingungen arbeiten. So entsteht eine neue soziale Trennung, bei der auch die salvadoranischen Familien, die keine Geldüberweisungen erhalten, auf der Verliererseite stehen.

Exportschlager Arbeitskraft

Arbeitskräfte sind zum Exportschlager Nummer eins in den meisten zentralamerikanischen Ländern geworden, insbesondere seit den Verwüstungen durch Hurrikan »Mitch« im Jahr 1998. Die salvadorianische Wirtschaft ist dabei von den Rücküberweisungen abhängig wie kaum eine andere Nation. Ökonomen beziffern den Anteil der Remesas am Bruttoinlandprodukt auf 17 bis 18 Prozent, einzelne sprechen gar von 24 Prozent. Den Löwenanteil davon geben die Empfänger für Nahrung, Kleidung, Gesundheit und Bildung aus. Der Wirtschaftswissenschaftler Edgardo Mira vom unabhängigen Wirtschaftsforschungszentrum CEICOM, ein Partner der deutschen Heinrich-Böll-Stiftung in San Salvador, findet diese Zahlen bedenklich: »Wir sehen hier ein ungesundes Phänomen. Die Volkswirtschaften konsumieren mehr als sie produzieren. Zudem machen sie sich zu einem entscheidenden Prozentsatz von der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung in einem anderen Land vollkommen abhängig, auf das sie keinen Einfluß haben.« Mira und andere Ökonomen wie Raúl Moreno von der staatlichen Universität nennen den Effekt der Geldüberweisungen einen Teufelskreis, den es zu durchbrechen gelte.

Auch sie wissen, daß das nicht einfach ist. El Salvador verfügt kaum über eigene Industrie oder Landwirtschaft, all dies wurde im Rahmen neoliberaler Wirtschaftspolitik abgewickelt und zugunsten von Billiglohn-Zuliefererbetrieben (Maquiladoras) und exportorientierter Agrarmonokulturen aufgegeben. Von den Dollars, die als Überweisungen ins Land kommen, bleibt auch kaum etwas hängen. Allein 60 Prozent werden in den Wal-Mart oder ähnliche Supermärkte getragen und auch vom Rest kaufen sich die Zentral­amerikaner Importwaren aus den USA, Asien oder Europa. Vorschläge von Politikern, Geldüberweisungen verstärkt in den Aufbau von eigenen Produktionsmitteln zu stecken, hält Moreno für unsinnig: »Zunächst bleibt nach Deckung der Grundbedürfnisse ja kaum etwas übrig und dann fehlt auch jede Politik, die eine solche Investition reizvoll machen würde.«

Einen von den Remesas verursachten sozialen Wandel verortet die Soziologin Amparo Marroquín von der katholischen Universität UCA in El Salvador: Insbesondere in ländlichen Regionen habe sich eine neue Schicht von Remesa-Empfängern herausgebildet, denen es wirtschaftlich besser gehe als den meisten anderen. Kern dieser neuen »Mittelschicht« seien Rückkehrer, die sich von dem ersparten Geld ein eigenes Haus bauen konnten. »Diese Häuser sind Gebäuden in den USA nachempfunden und verfügen oftmals über ein Spitzdach, wie es dort gegen den Schnee gebaut wird. Das ist in El Salvador natürlich absurd.« Jugendliche orientieren sich an den aus den USA importierten Verhaltensmustern und kleiden sich dementsprechend.

Die ökonomischen Verhältnisse erzeugen einen Kulturwandel. Denn weniger als der sehnsüchtige Blick nach Norden ist es die fehlende Perspektive auf dem heimischen Arbeitsmarkt, die vor allem die jungen Leute an Migration denken läßt. Denn in den USA verdient ein ungelernter Arbeiter an einem Tag so viel wie in Salvador, Honduras, Guatemala oder Nicaragua in einer Woche oder einem Monat.

Remesas entpolitisieren Nicaragua

Der nicaraguanische Wissenschaftler José Luis Rocha von der Jesuiten-Universität UCA in Managua sieht einen weiteren Effekt der Remesas: »Seit 1996 steigt die Abhängigkeit der Wirtschaft von den Rücküberweisungen und seither sinkt der Reallohn in allen Bereichen - außer im Finanzsektor - kontinuierlich. Remesas tragen zur Entpolitisierung der Bevölkerung bei. Der Organisationsgrad der Gewerkschaften sinkt, und die Leute denken 'Bevor ich das Land ändere, wechsle ich es lieber'«, so seine Warnung.

Bei der wirtschaftlichen Abhängigkeit von den Geldüberweisungen teilt sich Nicaragua mit El Salvador den zweiten Platz - Remesas machen in beiden Ländern etwa 18 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus, nur in Honduras liegt der Anteil mit 25 Prozent noch höher. »Das Dreiecksverhältnis zwischen transnationalen Konzernen, Staat und Gesellschaft hat sich verändert«, so Rocha. Während Nicaragua in den 80ern für Auslandsinvestitionen uninteressant war, hat sich das spätestens seit Ende der 90er Jahre total geändert. Großbanken übernahmen die nationalen Geldinstitute, Wal-Mart die Supermärkte, und auch das nationale Kapital hat sich transnationalisiert. Nicaraguas Unternehmer sind heute vor allem Minderheitsaktionäre des Großkapitals, weshalb die Elite jetzt noch weniger als früher Möglichkeiten zur Reinvestition im eigenen Land sucht. Mehr Menschen als zuvor können sich durch den Zugriff auf US-Dollar Konsumwünsche erfüllen, um zumindest äußerlich als Vertreter der Mittelschicht zu erscheinen. In der Folge wuchs der Servicesektor, und die urbanen Zentren boomen, was beides aber nicht durch industrielles Wachstum gestützt wird und nach Meinung des Jesuiten nicht stabiler als ein Kartenhaus ist.

Den Verlauf von Geldüberweisungen bezeichnet Rocha als »umgekehrtes U«. Ganz am Anfang kann der Migrant wenig an seine Familienmitglieder im Herkunftsland überweisen, da er hohe laufende Kosten hat: den Schlepper bezahlen, Arbeit und Wohnung finden, sich im neuen Land orientieren. Dann stabilisiert sich seine Situation, er findet einen besseren Job, lernt die Sprache und überweist mehr. Am Ende holt er aber entweder Familienmitglieder nach oder bricht mit der Familie, weil er eine neue im Zielland gefunden hat. Die Zahlung schrumpft oder wird ganz eingestellt. Darum müssen immer mehr Menschen migrieren, um langfristig den Geldstrom aufrecht zu erhalten. Aus ökonomischer Sicht des Auswanderungslandes gesehen, wird jeder Migrant weniger »rentabel«.

In den 90er Jahren hat auch in Nicaragua der Staat seinen neoliberalen Rückzug aus der sozialen Verantwortung begonnen und die entstehende Remesa-Wirtschaft bedeutet eine systematische Verstärkung dieses Modells. In den 80ern zahlte der nicaraguanische Staat rund drei Viertel der Gesundheitsausgaben, heute ist es weniger als ein Drittel. Rund die Hälfte der Gesundheitskosten werden von den Remesas bezahlt; auch in Nicaragua fließen diese zum Großteil in das private Gesundheitssystem. Mit der Perspektive, das Land zu verlassen, um die sozialen Probleme individuell zu lösen, hat sich eine ganze Generation aus dem politischen Leben verabschiedet.

Dabei hat die Geschichte der Geldüberweisungen politische Wurzeln. Besonders aus Guatemala flohen viele Menschen bereits in den 80er Jahren nach Mexico und die USA vor den blutigen Bürgerkriegen, denen in der Region Hunderttausende vor allem indigene Zivilisten zum Opfer fielen. »Die Migration ist Produkt der Struktur, die sich noch immer in den lateinamerikanischen Ländern findet. Die Bürgerkriege waren Produkt der Armut, der sozialen Ausgrenzung, Diskriminierung und des Rassismus in unseren Ländern. Die daraus resultierende Gewalt führte seit den 80er Jahren zur Migration. Doch heute, Anfang 2009, bestehen diese Strukturen immer noch -- mit einem geschlossenen Markt und einer ökonomischen Abhängigkeit von dem, was die USA oder die EU sagen«, konstatiert Jorge Campos von der Nichtregierungsorganisaton PCS in Guatemala. Von der Politik fordert er, daß sie endlich Verantwortung für die Migranten übernimmt und auf Einhaltung der Menschenrechte drängt, statt sich zum tumben Ausführungsorgan der US-Sucherheitsinteressen zu machen. »Der unmenschliche Status quo ist im Interesse der Regierungen Zentralamerikas. Die Migranten, die auf der Strecke bleiben, sind nicht ihr Problem und von den Geldüberweisungen derer, die es geschafft haben, profitieren sie durch die Mehrwertsteuer«, sagt Campos.

Die Anzahl der Nicaraguaner, die ihre Heimat als Arbeitsmigranten verlassen haben, ist in anderen Ländern ähnlich hoch. Marta Isabel Cranshew vom Netzwerk der nicaraguanischen Migranten beziffert diese auf eine Million. Ins Land fließen jährlich aber nicht mehr als 0,8 Milliarden US-Dollar. Also viel weniger als in El Salvador, Honduras und Guatemala, wo es jeweils mehrere Milliarden sind. Daß die durchschnittliche Monatszahlung nur 175 Dollar beträgt, hat mehrere Gründe: Zum einen sind nicaraguanische Migranten im Vergleich zu den Honduranern in den USA schlechter gestellt. Honduraner haben eher Zugang zu einer begrenzten Arbeitsgenehmigung und arbeiten deshalb in besseren Jobs im Dienstleistungsbereich, während Nicaraguaner häufig als Bauarbeiter tätig sind und damit nicht nur weniger verdienen, sondern auch unmittelbarer von der Immobilienkrise in den USA betroffen sind. Während 40 Prozent der nicaraguanischen Migranten in den USA leben, wählten 45 Prozent das Nachbarland Costa Rica als Ziel. Die Löhne sind hier deutlich geringer als in den USA, der Mindestlohn einer Hausangestellten lag 2008 unter der 400-Dollar-Marke.

Wirtschaftssystem ändern!

Obwohl zuverlässige Zahlen fehlen, ist in den vier nördlichen Ländern Zentralamerikas ein Trend auszumachen: Obwohl die USA und EU sich in den vergangenen Jahren zunehmend mit restriktiver Politik und brachialer Gewalt von Migranten abschotten, nimmt deren Zahl zu. Und obwohl die Wirtschaftskrise in den USA beachtliche Ausmaße angenommen hat, steigt die Summe der Geldüberweisungen weiterhin. Ersteres Phänomen ist darauf zurückzuführen, daß sich die Migranten stets neue Wege ins Zielland suchen - immer gefährlichere und kostspieligere. Wer sich heute von einem Schleuser aus Zentralamerika in die USA bringen lassen möchte, muß 5000 bis 10000 US-Dollar zahlen; Lebensgefahr und das Risiko des Scheiterns inklusive.

Die grundsätzlichen Forderungen der Kritiker dieser Entwicklung in Nicargua, El Salvador, Honduras und Guatemala gleichen sich: Migranten sollen als politische Subjekte wahrgenommen werden und respektvoll behandelt werden. Sowohl dort, wo sie arbeiten, als auch im alten Heimatland. Von der Politik erwarten sie, daß sie endlich ihrer vernachlässigten sozialen Verpflichtung nachkommt.

Der salvadorianische Wirtschaftswissenschaftler Raúl Morena hält ein grundsätzliches Umdenken für notwendig. Den Teufelskreis zu durchbrechen sei nicht einfach, wenn man nicht das Wirtschaftssystem ändere. »El Salvadors aktuelles ökonomisches System ist eine perfekt funktionierende Maschine, die Ausgrenzung und Armut produziert und auf der anderen Seite die Konzentration des Reichtums in den Händen einer kleinen Oberschicht gewährleistet.« Außerdem funktioniere dieses System im Sinne der US-Wirtschaft, die von der billigen Arbeitskraft profitiere. Um das zu ändern, sei eine neue soziale Kraft nötig, der es gelingt, das Eigentum an den Produktionsmitteln zu ändern und den gesellschaftlichen Reichtum auf gerechte Weise zu verteilen. Ein Regierungswechsel allein, wie er im März in El Salvador eventuell mit dem möglichen Sieg des linken Präsidentschaftskandidaten Mauricio Funes (FMLN) auf der Tagesordnung stehen könnte, gewährleiste einen solchen Wandel allerdings nicht.

* Aus: junge Welt, 24. Februar 2009


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