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Rückt Südamerika von Nordamerika ab?

Von Pjotr Romanow, Moskau *

Zu dem Zeitpunkt, zu dem ich dieses schreibe, stehen die endgültigen Wahlergebnisse in Ecuador noch nicht fest. Aber nach allen Befragungen zu urteilen, wird der linke Kandidat Rafael Correa einen überzeugenden Sieg erringen. Sein Rivale, der reichste Mensch des Landes, der "Bananenmagnat" Alvaro Naboa, der übrigens in der ersten Wahlrunde gesiegt hatte, verlangt eine Neuauszählung der Stimmen, doch der Abstand ist groß, und der Sieg der Linken scheint sicher.

An den Wahlen wären wohl zwei interessante Momente zu vermerken. Erstens sollte das Land zwischen zwei Polen wählen. Der linke Kandidat setzte sich für den Abbruch der Handelsbeziehungen zu den USA und die Umorientierung der gesamten Wirtschaft auf jene südamerikanischen Länder ein, die im linken Spektrum liegen, vor allem auf Kuba und Venezuela. Der Kandidat der Rechten aber forderte zur Festigung der Kontakte mit den USA auf und versprach, die diplomatischen Beziehungen zu dem Caracas von Hugo Chavez abzubrechen. (Dort stehen übrigens in nächster Zeit ebenfalls Präsidentenwahlen bevor, doch zweifelt praktisch niemand daran, dass Chavez auf seinem Posten bleiben und den "großen Nachbarn im Norden" auch weiter von allen Tribünen auf das Schärfste beschimpfen wird. Wie die jüngsten Befragungen zeigen, unterstützen etwa 60 Prozent der Wählerschaft Hugo Chavez.)

Und das zweite Moment. Jedesmal, wenn in Lateinamerika gewählt wird, diesmal also in Ecuador, steckt in den Wahlen die verborgene Frage: Wie viele Punkte wird Washington noch in der Region verlieren, die durch die inzwischen ergraute und runzlige Monroe-Doktrin zu einer Einflusszone der USA verkündet wurde? Kuba, Brasilien, Venezuela, Bolivien, Nicaragua (nach dem Sieg von Daniel Ortega) und jetzt auch Ecuador. Hinzuzufügen wären noch Peru, wo der linke Kandidat beinahe gesiegt hätte, und Mexiko, das bei den jüngsten Wahlen gleich zwei Präsidenten erhielt: Den einen rief die Wahlkommission - nach einer zweifelhaften Neuauszählung der Stimmen - offiziell zum Sieger aus, und der andere, der sich für seine Person und die zweite Hälfte des Landes beleidigt fühlte, ernannte sich selbstständig zum Präsidenten. All das zusammen drängt die Frage auf: Schwimmt der südamerikanische Kontinent nicht allmählich vom nordamerikanischen weg, wobei der Bruch gerade längs der Mauer verläuft, welche die Amerikaner an ihrer Grenze zu Mexiko errichten?

Wichtig ist schließlich die Frage, worauf der dermaßen offenkundige Linkstrend in Lateinamerika und der dort neuerdings verstärkte Anti(nord)amerikanismus zurückzuführen sind. Früher erklärte man in Washington jede Äußerung von linken Tendenzen in Südamerika mit kubanischen und sowjetischen Umtrieben, aber heute schlägt das nicht mehr ein: Die UdSSR besteht nicht mehr, und Kuba ist heute wegen Fidels Krankheit eher mit seinen eigenen Problemen beschäftigt. Selbst wenn es die Ereignisse auch beeinflusst, geschieht das eher nach dem Trägheitsgesetz, und seine Wirkung lässt nach. Bei all der Verehrung, die Hugo Chavez gegenüber dem kubanischen Patriarchen demonstriert, steht heute an der Spitze der linken Kolonne eindeutig nicht Fidel, sondern er. Auf jeden Fall der radikale Flügel dieser linken Kolonne. Wir sollten nicht vergessen, dass es da noch ein zwar linkes, doch gemäßigtes Brasilien Lulas gibt.

Weshalb also? Meiner Ansicht nach gibt es mehrere Erklärungen dafür. Erstens: Nach dem Zerfall der UdSSR fassten die USA einen noch größeren Glauben an ihre Allmacht und gingen daran, die Ideen des Amerikanismus in der ganzen Welt einzupflanzen, wobei sich diese Arbeit an mehreren Orten als recht schmerzhaft und kostspielig erwies. Und an einigen Orten glitten die Amerikaner von der Autobahn ab und sind dort, wie es aussieht, einfach stecken geblieben. Das überzeugendste Beispiel ist natürlich Irak. Aber auch in Afghanistan läuft es immer schlimmer. Im Nahen Osten sieht man kein Licht am Ende des Tunnels. Unklar ist, was mit dem iranischen Atom und den demonstrativen Raketenstarts der Nordkoreaner zu tun ist.

Es gibt auch andere Sorgen, die die Aufmerksamkeit des Weißen Hauses in nicht geringem Maße erfordern. Beispielsweise die etwas merkwürdige Freundschaft der USA mit den anderen NATO-Ländern, die gelinde gesagt keineswegs bereit sind, der Supermacht aus der Patsche zu helfen. Auch mit der Europäischen Union verläuft nicht alles reibungslos. Hinzu kommt das marktwirtschaftlich-kommunistische, atomare und bereits kosmische Peking. Obendrein Moskau, das an Stärke und Selbstständigkeit gewinnt. Das war einmal, Anfang des vorigen Jahrhunderts, dass der US-Botschafter beispielsweise in Argentinien für das Weiße Haus wichtiger war als der Botschafter im fernen Russland von 1917, am Vorabend der Revolution. Und so weiter, und so fort.

Andere Zeiten, andere Prioritäten. Angesichts all dieser Umstände rückten die südamerikanischen Angelegenheiten ein klein wenig in den Hintergrund. Kennzeichnend ist jedoch: Dieses "klein wenig" hat genügt, damit Lateinamerika oder zumindest ein bedeutender Teil davon plötzlich in der Sprache Bolivárs spricht.

Doch gibt es auch noch einen weiteren Grund dafür, dass sich viele lateinamerikanische Länder auf die gegenseitigen Beziehungen umorientieren, China und die Europäische Union vorziehen, wieder hoffnungsvoll in Richtung Russland blicken, und wenn sie nördlicher blicken, dann nicht auf die USA, sondern etwas weiter, nach Kanada. Gewiss, die USA sind auch heute noch der wichtigste Wirtschaftspartner Lateinamerikas, was im Prinzip auch normal ist, zieht man die Wirtschaft und die Geographie in Betracht. Das Problem aber ist, dass die USA diese Wirtschaft und Geographie und im gleichen Atemzug auch ihr politisches und militärisches Gewicht ausschließlich im eigenen Interesse und nicht etwa in dem der lateinamerikanischen Länder nutzen. Eben dieser Partnerschaft ohne Gleichberechtigung ist Lateinamerika müde. Eben diese Karikatur von einer Partnerschaft hindert viele lateinamerikanische Länder daran, aus der zweiten zur ersten Reihe in der Welt aufzurücken.

Lateinamerika trägt keine Schuld daran, dass es, dieser ständigen Ungleichheit und des stets belehrenden Tons von Washington müde, nach links tendiert und dem Weißen Haus gegenüber in der UNO (durch den Mund von Hugo Chavez) keineswegs parlamentarische Ausdrücke gebraucht.

Ich denke nicht, dass Südamerika heute oder morgen tatsächlich von Nordamerika abrücken wird. Dass aber viele Millionen Lateinamerikaner diesen Wunsch tatsächlich haben, ist ein schlechtes Zeichen für Washington.

Vor kurzem erfuhr ich unerwartet von einem Experten und Kommentator der CNN, dass das Popularitätsrating der USA in Kanada in den letzten Jahren um dreißig Punkte gesunken sei.

Folglich könnte bald auch Kanada "abrücken".

Quelle: RIA Novosti, 27. November 2006;
http://de.rian.ru



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