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Lateinamerika: Keine kontinentale Revolution

Wie "links" sind die neuen Regierungen wirklich?

Von Ralf Leonhard *

In zehn Ländern des Subkontinents wird oder wurde dieses Jahr gewählt. Alte Strukturen brechen auf, und Ideologien ringen mit der Suche nach alternativen Politik- und Wirtschaftsmodellen. Doch wie "links" sind die neuen Regierungen wirklich?

Im Publikum wurden venezolanische und kubanische Fähnchen geschwenkt. Dass keine bolivianischen Wimpel zur Hand waren, trübte die Ovationen für Boliviens Staatschef Evo Morales aber keineswegs. Er hielt ein glühendes Plädoyer für die Verstaatlichung der Erdgasreserven. Heftigen Applaus erntete auch Kubas Vizepräsident Carlos Lage, der sich über die Sanktionen der Europäischen Union gegen sein Land lustig machte. Und der Auftritt von Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez, der als Letzter das Wort ergriff, wurde regelrecht zugeklatscht. Er verkündete den Niedergang des US-Imperialismus und sah die Morgenröte für eine neue Form der innerlateinamerikanischen Kooperation heraufdämmern. Schauplatz: die Wiener Stadthalle am 13. Mai zum Abschluss des Alternativgipfels, der parallel zum Treffen der Staats- und Regierungschefs aus Lateinamerika und der EU stattfand.

«Alba», die Morgenröte, ist das Kürzel für das von Kuba und Venezuela geschlossene Kooperationsabkommen, dem inzwischen auch Bolivien beigetreten ist. Die Bolivarianische Alternative für Lateinamerika ist ein Gegenentwurf zum Freihandelsvertrag ALCA, der von den USA propagiert wird. Die USA wollen sich so billige Rohstoffe sichern und einen stabilen Markt für ihre Industrieprodukte und Agrarüberschüsse schaffen, wie die KritikerInnen bemerken. Doch der Freihandel und die anderen Elemente des so genannten Washington Consensus - die Eckpfeiler der neoliberalen Politik - konnten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Deswegen haben sich die Völker der meisten südamerikanischen Staaten in den letzten Jahren für linke Alternativen entschieden.

Castros Erbe

Hugo Chávez, der sich anschickt, das Erbe des bald achtzigjährigen Fidel Castro als Übervater der Revolution anzutreten, leitete mit seinem Wahlerfolg in Venezuela 1998 die politische Trendwende ein. Der Zusammenbruch des traditionellen Zweiparteiensystems unter der ausufernden Korruption, die durch die Wirtschaftskrise erst deutlich sichtbar wurde, hatte ihm den Weg geebnet. Dann folgte in Brasilien vor vier Jahren der ehemalige Gewerkschaftsführer Luiz Inácio Lula da Silva, der im dritten Anlauf endlich den Einzug in den Präsidentenpalast schaffte. Seither wurden der linke Peronist Néstor Kirchner in Argentinien, mit Tabaré Vásquez der Kandidat des Linksbündnisses Frente Amplio in Uruguay, der indianische CocabäuerInnenanführer Evo Morales und die chilenische Sozialistin Michelle Bachelet gewählt.

Der vermeintlich linke Militär Lucio Gutiérrez in Ecuador erwies sich als Kuckucksei der etablierten Machtgruppen und wurde durch Massenproteste weggefegt. Wer dort im Oktober nachfolgen wird, ist noch ungewiss. In Peru lag nach der ersten Runde im April der als unberechenbar eingeschätzte ehemalige Offizier Ollanta Humala vorne. Er musste sich erst in der Stichwahl Anfang Juni gegenüber dem Sozialdemokraten Alan García geschlagen geben. Nur Kolumbien mit seinem Kriegspräsidenten Alvaro Uribe und die zentralamerikanischen Republiken entziehen sich dem Trend nach links.

Dämmert also tatsächlich eine neue revolutionäre Phase herauf, die vom Río Grande bis Feuerland Alternativen zum gängigen Politik- und Wirtschaftsmodell entwickelt und Wirklichkeit werden lässt? Wird in Lateinamerika vorgelebt, was das Weltsozialforum seit Jahren postuliert: Eine andere Welt ist möglich?

Ernüchternde Wirklichkeit

Die Praxis der letzten Jahre ist ernüchternd. Für viele sind die meisten StaatschefInnen nicht mehr als linke PopulistInnen. So auch für den ehemaligen mexikanischen Aussenminister Jorge Castañeda, der früher selbst ein Linker war. Er macht zwei politische Strömungen aus und entdeckt «wachsende Differenzen zwischen Modernisierern und Revanchisten, zwischen nationalen Interessen und Ideologie». Wobei Castañeda dann auch Morales und Chávez zu Castro in den Sack der «archaischen Linken» steckt, während Lula und Bachelet zu den ModernisiererInnen gezählt werden. Deren Politik sollte allerdings jeweils vor dem Hintergrund des nationalen Kontextes gesehen werden.

Brasiliens Lula wurde schon vor seiner Wahl 2002 auf den Boden der Realpolitik geholt. Um überhaupt gewählt zu werden, musste er eine Allianz mit der äussersten Rechten schmieden, die sich sowohl in der Zusammensetzung des Kabinetts als auch in der widersprüchlichen Politik niedergeschlagen hat. Dementsprechend enttäuscht ist seine soziale Basis. «Zwar haben wir für Lula gestimmt, doch behaupten wir die Autonomie als soziale Bewegung. Veränderungen müssen erkämpft werden. Viele haben natürlich gedacht, es würde von selbst gehen und sehr schnell. Das ist nicht passiert», sagt João Pedro Stedile von der brasilianischen Landlosenbewegung MST. Stedile, der in Brasilien für eine neue Art von Sozialismus kämpft, sieht die politischen Veränderungen auf dem Subkontinent insgesamt nüchtern: «Es wird viel von der Linkswende gesprochen. Aber die Veränderungen sind nicht so tiefgreifend. In einigen Ländern haben die Völker neue Präsidenten gewählt. Das heisst aber nicht, dass es einen kontinentalen Aufschwung der Massenbewegungen gäbe, der es erlauben würde, ein antineoliberales und antiimperialistisches Projekt aufzubauen.»

Als Linkspopulist gilt vor allem Hugo Chávez, der allerdings dank des nationalen Ölreichtums auch viele seiner Versprechungen umsetzen kann. An keinem anderen Politiker Lateinamerikas scheiden sich die Geister so wie an diesem ehemaligen Offizier, der Venezuela mit demokratischen Mitteln umzukrempeln versprochen hat. Dem inzwischen emeritierten Lateinamerikanisten Klaus Meschkat von der Universität Hannover gelang es bei seinem jüngsten Venezuelabesuch nicht, selbst unter seinen alten FreundInnen und Kontaktpersonen Leute zu finden, die nicht mit aller Leidenschaft für oder gegen Chávez engagiert wären. Venezuela ist ein extrem polarisiertes Land geworden.

Chávez sieht sich als Träger einer doppelten Mission: Er will Venezuela gründlich umkrempeln und gleichzeitig in ganz Lateinamerika eine Führungsrolle spielen. Da er seit seiner ersten Wahl 1999 verkündet, er gedenke, mehr als zehn Jahre - besser noch zwanzig - im Amt zu bleiben, um seine ehrgeizigen Pläne zu verwirklichen, mobilisierte sich die vereinigte Opposition bald mit voller Kraft. Vom Abwahlreferendum, das die neue Verfassung erlaubt, über Besetzung und Sabotage des staatlichen Ölkonzerns PDVSA bis zum Staatsstreich liess man nichts unversucht. Alles begleitet von einer Rufmordkampagne der privaten Medien, die in Lateinamerika ohne Beispiel ist. Dass die USA diese Umsturzversuche wohlwollend beobachten, mitfinanzieren und teilweise anstiften, hat die antiimperialistische Rhetorik des gelernten Fallschirmjägers nicht gemildert. Chávez kann von Glück reden, dass George Bush sich im Nahen Osten militärisch verausgabt.

Alte Rezepte

Seine Gegner werfen Hugo Chávez vor, dass er das Land heruntergewirtschaftet habe und es den Armen immer schlechter gehe, obwohl er deren Sache zu verfechten vorgibt. In der Tat hat Venezuela in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts negative Wachstumsraten an die Weltbank gemeldet. Doch trägt daran die Opposition durch den Streik in der Ölindustrie und andere Boykottmassnahmen mindestens genauso viel Schuld wie das Unvermögen der Regierung, ausländische InvestorInnen anzulocken. Massnahmen wie die Landreform und die Alphabetisierung in den Armenvierteln werden sich zwar erst mittel- bis langfristig in messbaren wirtschaftlichen Erfolgen niederschlagen, doch haben Hilfsprogramme die Armut inzwischen spürbar senken können. Der kolumbianische Historiker Medófilo Medina kann in Chávez’ Politik keine revolutionären Umwälzungen erkennen, wie die polternde Rhetorik des Staatschefs vermuten liesse. Kaum eine der Reformen, die bisher Gestalt angenommen haben, ist mit dem Rezeptbuch der Weltbank für soziale Entwicklung und «good governance» unvereinbar. Selbst die Agrarreform, die mittelfristig die Abhängigkeit von Lebensmittelimporten verringern und den BäuerInnenstand stärken soll, bleibt hinter den Empfehlungen zurück, wie sie nach der Kubakrise vor vierzig Jahren im Rahmen der Allianz für den Fortschritt den lateinamerikanischen Regimes verordnet wurden.

Néstor Kirchner ist die Antwort auf die argentinische Wirtschaftskrise, die den Staat an den Rand des Kollapses gebracht hatte. Mit dem Druckmittel des drohenden Bankrotts konnte er den GläubigerInnenbanken und -institutionen eine Umschuldung abtrotzen. Seine hohe Beliebtheit erlaubte es ihm, das Thema der Straflosigkeit der Putsch- und Folteroffiziere anzugehen. Er lässt Organisationen wie die Piqueteros, die von der Bevölkerungsmehrheit zunehmend als lästig empfundene Arbeitslosenbewegung, nicht niederknüppeln, sondern vereinnahmt sie. Andererseits neigt er zu autokratischen Entscheidungen, die ihn innerhalb der Peronistischen Partei isolieren. Echte Alternativen zur neoliberalen Politik seiner Vorgänger hat er aber nicht anzubieten. Argentinien setzt auf Anbau und Export von grossflächig angebautem Mais und von Sojabohnen.

Auch aus Uruguay sind keine revolutionären Umwälzungen bekannt. So richten sich die Augen der Linken derzeit vor allem auf Bolivien, wo Evo Morales versucht, seinen hohen Rückhalt in der Bevölkerung zu nutzen, um das von einer kleinen Oligarchie dominierte Land umzukrempeln. Die Verstaatlichung der Öl- und Gasreserven Anfang Mai war ein Signal - und wohl eher ein Verhandlungsangebot an die ausländischen Bergbauunternehmen als ein letztes Wort. Entscheidend wird die verfassunggebende Versammlung, die demnächst gewählt werden soll. Mit Finanzspritzen aus Venezuela und mit LehrerInnen aus Kuba, die bei der Alphabetisierung helfen sollen, konkretisiert sich da das solidarische Gegenmodell zum Freihandel. Ob das auf Dauer funktionieren kann, hängt wohl davon ab, wie die Widersprüche zwischen dem Druck des Weltmarkts und dem Druck der eigenen Bevölkerung gelöst werden können.


Seit Kuba gab es keine erfolgreiche Revolution mehr

Seit Fidel Castro und seine Mannen 1959 in Havanna einzogen und Kuba von einer De-facto-Kolonie Washingtons in eine sozialistische Republik verwandelten, hat es in Lateinamerika keine nachhaltig erfolgreiche Revolution mehr gegeben. Salvador Allende, der es in Chile unter Beachtung der demokratischen Spielregeln versuchte, wurde am 11. September 1973 weggeputscht. Auf der Karibikinsel Grenada endete eine kurze revolutionäre Phase (1979- 1983) nach blutigen internen Auseinandersetzungen mit einer Invasion der USA. In Nicaragua konnten sich die SandinistInnen, die 1979 durch einen Volksaufstand an die Macht gekommen waren, gerade ein Jahrzehnt halten. Nach einem US-gesteuerten Zermürbungskrieg und dem Fall der Berliner Mauer wurden sie abgewählt. Ihre Reformen werden seither systematisch demontiert. Und die ZapatistInnen im mexikanischen Bundesstaat Chiapas konnten zwar indirekt zur Ablösung der erstarrten Einheitspartei PRI beitragen, die Machtfrage auf höchster Ebene haben sie aber wohlweislich nie gestellt.

Gleichwohl haben die achtziger Jahre - wirtschaftlich als das verlorene Jahrzehnt Lateinamerikas abgeschrieben - tiefe Spuren hinterlassen. In keinem Staat blieb das traditionelle Schema intakt, in dem sich zwei Parteien - Konservative und Liberale, wie in Kolumbien oder Honduras, oder Sozial- und ChristdemokratInnen, wie in Venezuela oder Costa Rica - mit schöner Regelmässigkeit an der Macht ablösten und im Übrigen die politischen Pfründe untereinander aufteilten. Besonders spektakulär zeigte sich der Zusammenbruch der alten Strukturen in Venezuela: Der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez hatte 1988, anders als bei seiner ersten Amtszeit von 1974 bis 1978, nicht unerwarteten Ölreichtum zu verteilen, sondern eine schwere Krise zu verwalten. Sein vom Internationalen Währungsfonds diktiertes Anpassungsprogramm löste in Caracas eine Revolte aus, die er von der Armee blutig niederschlagen liess. Daraufhin entstand in den Streitkräften eine Protestbewegung, die im Putsch des Hugo Chávez von 1992 gipfelte. Chávez wurde zwar verurteilt und inhaftiert, aber schon von Präsident Rafael Caldera (1994-1998) begnadigt und freigelassen.

Ralf Leonhard



* Aus: Wochenzeitung WOZ, 6. Juli 2006


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