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Mercosur verurteilt US-Spionage

Abschlusserklärung des Gipfels in scharfen Worten

Von Jürgen Vogt, Buenos Aires *

Der Ton zwischen den südamerikanischen Regierungen und den USA verschärft sich angesichts immer neuer Berichte über Spionageaktivitäten der US-Geheimdienste in der Region. »Wir weisen das Abhören unserer Telekommunikation und das Ausspionieren der Aktivitäten unserer Nationen entschieden zurück«, hieß es in der Abschlusserklärung des Gipfels der südamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur in der uruguayischen Hauptstadt Montevideo am Freitag (Ortszeit). Es handele sich um ein inakzeptables Verhalten, »das unsere Souveränität verletzt und den Beziehungen der Länder schadet«, ließen die Staatsoberhäupter von Argentinien, Brasilien, Venezuela und Uruguay verlauten.

Medienberichten zufolge spionierte der US-Geheimdienst NSA auch in Lateinamerika elektronische Mitteilungen und Telefongespräche aus. Dabei gehe es womöglich auch um Wirtschaftsspionage in den Bereichen Energie und Erdöl. Wenig erfreut davon zeigte sich Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff: »Wir müssen beständige Maßnahmen ergreifen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Es ist Zeit, dass der Mercosur die Grenze markiert.«

Die Mercosur-Mitglieder bekräftigten zudem das Recht auf Asylgewährung. »Wir weisen jeden Versuch eines Staates zurück, einen anderen Staat unter Druck zu setzen, zu schikanieren oder zu kriminalisieren, wenn er von seinem souveränen Recht Gebrauch macht, Asyl zu gewähren«, hieß es. Auch der Zwangsstopp des bolivianischen Staatschefs Evo Morales in Wien im Zusammenhang mit der Verfolgung Edward Snowdens wurde verurteilt.

Der Mercosur wurde 1991 von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay gegründet. Venezuela ist seit Juli 2012 Vollmitglied. Die fünf Mitgliedstaaten erwirtschaften ein Bruttoinlandsprodukt von rund 1,2 Billionen Dollar. Das entspricht 83 Prozent der Wirtschaftsleistung von Südamerika. Paraguay soll nach einer Suspendierung von Mitte August an wieder Vollmitglied sein. Assoziierte Staaten sind Chile, Bolivien, Peru, Ecuador und Kolumbien.

* Aus: neues deutschland, Montag, 15. Juli 2013


Alle für einen

Zukunftsweisender Gipfel: MERCOSUR-Länder rufen Botschafter wegen Überflugverbot für Morales aus Europa zurück. Staatenbund soll Entwicklungsmotor werden

Von Volker Hermsdorf **


Die Regierungen Lateinamerikas wollen sich gemeinsam gegen die Spionageangriffe der USA wehren. Der bolivianische Präsident Evo Morales beschuldigte am Samstag deren Geheimdienste, die E-Mail-Korrespondenz von Mitgliedern seiner Regierung ausgespäht zu haben. Auch die diplomatische Krise zwischen Lateinamerika und Europa hat sich am Wochenende weiter zugespitzt. Das Anfang Juli von Frankreich, Italien, Portugal und Spanien verhängte Überflugverbot für den bolivianischen Präsidenten Evo Morales überschattete das am Freitag (Ortszeit) beendete Gipfeltreffen des südamerikanischen Wirtschaftsverbunds MERCOSUR im uruguayischen Montevideo. Dessen Vollmitglieder Argentinien, Brasilien, Uruguay und Venezuela beschlossen, ihre Botschafter aus den vier europäischen Ländern zu Konsultationen zurückzurufen. Ecuador schloß sich diesem Schritt am Samstag an.

Auf der zweitägigen Konferenz verabschiedeten die Mitglieder des Bündnisses insgesamt 16 Vereinbarungen, darunter eine Resolution, die von den vier europäischen Ländern eine umfassende Aufklärung über die Hintergründe der »Aggression« gegen Morales und eine angemessene Entschuldigung verlangt. Als Antwort auf die Spionage der USA in Lateinamerika vereinbarten die MERCOSUR-Staatschefs gemeinsame Aktivitäten zur Abwehr der »Angriffe auf die Souveränität unserer Länder«. Außerdem bekräftigten sie das Recht des Ex-CIA-Mitarbeiters Edward Snowden und jedes anderen politisch Verfolgten auf Asyl. Zum Abschluß ihres 45. Gipfeltreffens vereinbarten die Mitgliedsstaaten, den MERCOSUR zu erweitern, ihn zu einem bedeutenden Wirtschafts- und Sozialbündnis auszubauen und zum »Motor für die Entwicklung und die Einheit Lateinamerikas« zu machen. Der venezolanische Präsident Nicolás Maduro, dessen Land am Freitag den rotierenden Vorsitz des Bündnisses für sechs Monate übernahm, kündigte dazu die Wiedereingliederung Paraguays und die Integration der Karibik in den »Gemeinsamen Markt des Südens« (Mercado Común del Sur) an. Das nach dem Putsch im Juni 2012 suspendierte Paraguay soll mit dem Amtsantritt des im April 2013 gewählten Präsidenten Horacio Cartes am 15. August wieder vollwertiges Mitglied der Organisation werden, der außerdem Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien und Peru und seit Freitag auch Suriname und Guayana als assoziierte Staaten angehören.

Der rechtskonservative Cartes stellte sich allerdings quer. Er verlangt, daß Paraguay bereits vor seinem Amtsantritt wieder Vollmitglied wird und beansprucht obendrein die Präsidentschaft des Bündnisses. Sein Land erkenne den temporären Vorsitz Venezuelas ebenso wenig an wie dessen Mitgliedschaft. Trotzdem appellierte die argentinische Präsidentin Cristina Fernández an die Einheit in der Region. Eine Spaltung nütze einzig denen, die sich mit »neuen und subtileren Formen des Kolonialismus« wieder der »Ressourcen unseres Kontinents« bemächtigen wollten.

Am Tag vor der Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs des MERCOSUR hatten die Außen- und Fachminister auf einem »Sozialgipfel« ein umfangreiches Entwicklungsprogramm für die Region beschlossen. Dazu gehören unter anderem Projekte für Alphabetisierungskampagnen, zur Gesundheitsversorgung und zur stärkeren Beteiligung der Beschäftigten in den Unternehmen.

** Aus: junge Welt, Montag, 15. Juli 2013


Entschieden gegen Spitzel

Lateinamerikanische Länder wollen gegen US-Spionage klagen Von Volker Hermsdorf ***

Die Spionageangriffe der USA könnten Konsequenzen haben. Am Freitag schlug Boliviens Präsident Evo Morales auf dem MERCOSUR-Gipfel in Montevideo die Bildung einer Kommission vor, um eine internationale Klage vorzubereiten. Auch die venezolanische Strafvollzugsministerin Iris Varela ist dafür. Sie will die USA auf eine Entschädigung verklagen, die diese wirtschaftlich hart trifft. Selbst Verbündete wie Mexiko, Kolumbien und die Regierung des rechtskonservativen chilenischen Präsidenten Sebastián Piñera stellen sich gegen die USA.

Anlaß der nicht abreißenden Zorneswelle waren die Anfang voriger Woche von der britischen Tageszeitung The Guardian und der brasilianischen O Globo veröffentlichten Enthüllungen des früheren CIA-Mitarbeiters Edward Snowden über ein Spionagenetzwerk der USA in Lateinamerika. Danach sind Telefonverbindungen und Internetdaten von Bürgern, Regierungen und Wirtschaftsunternehmen der Region flächendeckend von den US-Diensten NSA, CIA und FBI überwacht worden. Diese Agenturen sollen nicht nur persönliche Daten und militärische Informationen, sondern auch Geschäftsgeheimnisse gesammelt haben. Im Zentrum der Ausspähung hätten Brasilien, Mexiko und Kolumbien gestanden. Seit März dieses Jahres sei außerdem der Erdölsektor Venezuelas verstärkt ausspioniert worden. O Globo berichtete weiter, daß die USA in der brasilianischen Hauptstadt Brasilia ein modernes Abhörzentrum eingerichtet hätten, das zu den technisch anspruchsvollsten ihrer 16 weltweit operierenden Spionagestationen gehört. Auch die US-Botschaft in Bogotá sowie die Militärstützpunkte der USA in Kolumbien gelten als leistungsfähige »Horchposten«.

Der venezolanische Minister für Energie und Bergbau, Rafael Ramírez, bestätigte am Donnerstag, daß die staatliche Ölfirma PDVSA ein Ziel der US-Dienste sei. »Wir sind darüber informiert worden, daß sie uns ausspionieren und Sabotageakte gegen unsere Ölindustrie planen«, sagte Ramírez und fügte hinzu, daß Snowdens Enthüllungen frühere Vorwürfe bestätigt hätten: »Die USA gehen davon aus, daß sie global herrschen, und sie nehmen sich heraus, ihre Regeln auch außerhalb ihrer Grenzen jedem aufzuzwingen.« Washington sollte lernen, daß »Lateinamerika nicht mehr der Hinterhof der USA ist«, empörte sich Ecuadors Außenminister, Ricardo Patiño, in einem Interview mit der US-amerikanischen Journalistin Eva Gollinger. Es sei an der Zeit zu begreifen, daß es nicht Nationen erster und zweiter Klasse gebe. Alarmierend nannte er die Zusammenarbeit von transnationalen Konzernen und US-Diensten, die sich über nationale und internationale Rechte hinwegsetzten.

Die lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs der Region treten den US-Angriffen deutlich ­energischer entgegen als ihre devoten europäischen Kollegen. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff geißelte die Bespitzelung als »Verletzung der Souveränität« ihres Landes und will den Fall vor die UNO bringen. Ihre argentinische Amtskollegin Cristina Fernández sagte, ihr sei es »eiskalt den Rücken hinuntergelaufen«, als sie erfahren habe, daß sie uns alle über ihre Dienste ausforschen. Sogar aus Kolumbien kam Kritik. Obwohl die USA in dem Land sieben Militärstützpunkte mit knapp 1500 speziell ausgebildeten Soldaten und Geheimdienstspezialisten unterhalten, traute sich Außenministerin Maria Angela Holguín zu protestieren. Die Bespitzelung verletze sowohl »die Rechte und die Privatsphäre der Bürger« als auch die »internationalen Vereinbarungen zur Telekommunikation«, sagte Holguín. Andere drückten sich deutlicher aus. »Wir dürfen nicht zulassen, daß die nordamerikanische Regierung die Länder der Welt beherrscht, um uns nach Belieben zu bedrohen, zu erpressen und zu besetzen«, sagte Evo Morales auf dem MERCOSUR-Gipfel. Und die venezolanische Ministerin Iris Varela forderte die Menschen des Kontinents auf: »Laßt uns gemeinsam dafür sorgen, daß die Gringo-Spione Schiffbruch erleiden.«

*** Aus: junge Welt, Montag, 15. Juli 2013


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