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Weltweit

Tag des Widerstands

Von Lena Kreymann *

Während in Lateinamerika am ehemals als »Tag der Rasse« bezeichneten 12. Oktober inzwischen viele Länder indigene Kultur oder den Widerstand gegen die Kolonialherrschaft feiern, wollen in Spanien am Samstag die Faschisten marschieren. Dort wird der »Tag der Hispanität« begangen.

»Um die Einheit Spaniens gegen die separatistischen Bedrohung zu verteidigen«, plant die rechte Plattform »España en Marcha« eine Großdemonstration durch Barcelona. Die Faschisten reagieren damit auch auf die Menschenkette vom 11. September diesen Jahres, mit der 1,6 Millionen die Unabhängigkeit Kataloniens forderten.

Der rechte Demozug sollte auch auch durch das antifaschistisch geprägte Viertel Sants laufen. Wegen des massiven Protests der Bewohner genehmigte das katalanische Innenministerium den Faschisten jedoch nur eine Route, die wie jedes Jahr durch das Viertel Montjuïc führt. Während die Rechten spanienweit mobilisieren, plant man in Sants schon die antifaschistischen Gegenproteste. Am vergangenen Sonntag versammelten sich dafür rund 200 Menschen auf einem zentralen Platz des Viertels.

In Venezuela dagegen feiert man heute den »Tag des indigenen Widerstands«, den die Regierung 2002 umbenannte. Seitdem steht nicht mehr die »Entdeckung Amerikas«, die Ankunft von Kolumbus im Jahr 1492 im Fokus, sondern der Kampf der Ureinwohner Venezuelas gegen die Kolonialmacht. In Venezuela sind indigene Rechte seit 2005 durch ein umfassendes Gesetz geschützt.

Auch in Ecuador wurde der Tag 2011 umbenannt. Dort heißt er »Tag der Interkulturalität und Plurinationalität«. Er soll vor allem dem kulturellen Austausch dienen.

In Bolivien spielt dieses Jahr neben dem dort der Dekolonisierung gewidmeten Tag vor allem der 17. Oktober als »Tag der Würde« eine besondere Rolle. Mit dem neuen Feiertag gedenkt das Andenland der Amtsniederlegung und Flucht des damaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada wegen massiver Proteste der Bevölkerung im Jahr 2003. Mit Evo Morales hat es heute einen Präsidenten, der selbst aus dem Aymara-Volk kommt.

In vielen Ländern Lateinamerikas kommt es regelmäßig zu Konflikten mit Konzernen und Regierungen, wenn Indigene für ihre Rechte streiten. In Sao Paulo demonstrierten Indigene am 2. Oktober gegen eine geplante Verfassungsänderung, die die Bodenverteilung zu ihren Ungunsten ändern soll

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Oktober 2013


Ein anderer Wind

Christoph Kolumbus und die Aktualität der Urvölker. Aktuelle Geschichtsdebatten in Lateinamerika

Von Alfredo Bauer, Buenos Aires **


Man soll den Wert der Symbole nicht überschätzen. Aber sie in ihrer echten Bedeutung zu beurteilen, ist wichtig. Vor fast einem Jahrhundert hat die spanische Regierung den Jahrestag der »Entdeckung Amerikas«, den 12. Oktober, zum »Tag der Rasse« (Día de la raza) erklärt, und er wird seither in Spanien und weiten Teilen Lateinamerikas alljährlich feierlich begangen. Nun hat im hispanischen Kulturkreis der Begriff der »Rasse« keine so widerwärtige Bedeutung, wie er sie, aus guten Gründen, im deutschen Sprachgebrauch hat. Aber die Vorstellung von Überlegenheit ist auch da implizit, und sie gehört ohne Zweifel zum Rüstzeug des Kolonialismus und des Imperialismus. Von welcher »Rasse« ist denn da die Rede? Doch von der weißen, hispanischen! Obgleich es kaum irgendwo eine solche Blut- und Kulturvermischung gegeben hat wie auf der iberischen Halbinsel. Immerhin: Mögen die Völker Spaniens nur stolz darauf sein, daß im Dienst ihres Königspaares der Genuese Cristoforo Colombo »eine Neue Welt entdeckt« hat. Daß aber die Völker Amerikas den »Tag der Rasse« feierlich begehen, wie es etwa in Argentinien auf Verfügung des Präsidenten Hipólito Irigoyen (1916–1922 und 1928–1930) jahrzehntelang geschah, kann durchaus als eine nationale Schande bezeichnet werden. Darum hat unsere Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner gut daran getan, den Feiertag in einer solchen Bedeutung abzuschaffen. Man feiert nunmehr den »Tag der kulturellen Vielfalt« (Día de Respeto a la Diversidad Cultural). Eine Bezeichnung, die einen ganz anderen Symbolwert hat.

Die eigene Tradition

Vor dem Regierungsgebäude von Buenos Aires befand sich seit mehr als 100 Jahren als hundert Jahren ein Denkmal des Kolumbus. Die Präsidentin hat verfügt, daß es von dort entfernt und an eine andere Stelle versetzt wird. Nicht zerstört natürlich! Denn ein Denkmal verdient der genuesische Seefahrer allerdings. Aber nicht an diesem Ehrenplatz soll es stehen. Mauricio Macri, der reaktionäre Bürgermeister der Stadt Buenos Aires, wandte sich gegen diese Veränderung, aber sein Protest hat nicht viel genutzt.

Der von Christoph Kolumbus geräumte Platz wird nicht leerbleiben. An seine Stelle kommt ein Monument der Juana Azurduy. Sie hat im argentinischen Unabhängigkeitskrieg jahrelang die Guerrillatätigkeit geleitet, wobei ihr Mann Ascencio Padilla und drei ihrer vier Kinder ums Leben kamen. Der revolutionäre Heerführer Manuel Belgrano hat sie zum Oberst ernannt. Aber ein Denkmal hat man ihr bis heute nicht errichtet. Weil sie eine Frau war? Weil sie indianisches Blut in den Adern hatte? Jetzt aber wird sie eines erhalten; und es wird an dem Platz stehen, den vorher das Standbild des »Entdeckers«, des ersten Kolonial­eroberers einnahm.

Nicht weit von dieser Stelle steht ein überlebensgroßes Reiterstandbild des Generals Carlos María de Alvear, der als Staatschef den König von England ersuchte, Argentinien als Vasallenstaat seinem Imperium einzuverleiben: ein Projekt, das allerdings am Widerstand des Volkes scheiterte. Und ebenfalls in der Nähe steht ein ebenso großes Reiterstandbild des Generals Julio A. Roca, des Indiomörders, der in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung Patagoniens fast ausrottete und für die Überlebenden die Sklaverei, die bereits 1813 abgeschafft worden war, wiederherstellte.

Mein verehrter Freund, der Schriftsteller Osvaldo Bayer, hat eine Bewegung ins Leben gerufen mit dem Ziel, das Roca-Denkmal von seinem Ehrenplatz zu entfernen. Wogegen sich die Konservativen aller Schattierungen ebenfalls erbittert wehren. Bürgermeister Macri prägte dazu den unsinnigen Satz: »Die Historie hat in die Zukunft zu schauen und nicht in die Vergangenheit.« Aber es wurde bereits erreicht, daß in vielen Städten und Siedlungen Patagoniens die Hauptstraße nicht mehr »Avenida Roca« heißt.

Im Zuge der Emanzipationsbewegung, die in Lateinamerka stattfindet, wird natürlich den Rechten der indigenen Bevölkerung ein bedeutender Platz eingeräumt. Das meiste von dem himmelschreienden Unrecht, das an ihr begangen wurde, der Massenmord, der Massenraub und die Massenentwürdigung, läßt sich natürlich nicht wirklich wiedergutmachen. Aber so manches doch. Damit haben übrigens schon vor zwei Jahrhunderten die radikaleren Führer der Unabhängigkeitsbewegung begonnen: Francisco de Miranda, Simón Bolívar und José de San Martín, Toussaint-Louverture und Alexandre Petion, Mariano Moreno, Manuel Belgrano, Juan José Castelli, Antonio Sucre, Mjguel Hidalgo und etliche andere. Da aber der damalige Emanzipationsprozeß sehr bald unter die Führung der Rechten, der Liberalen geriet, blieb davon kaum etwas übrig. Und wenn doch, dann nur das, daß die ursprüngliche Stammesgemeinschaft, die dem Indio doch einen gewissen Rückhalt gab, im Dienste der »individuellen Freiheit« zerschlagen wurde.

Schon vor fast einem Jahrhundert hat der peruanische Marxist Carlos José Mariátegui darauf hingewiesen, daß »die Indiofrage ganz eng mit der Bodenfrage verbunden ist«. Ebenso wichtig wie eine gerechte Ordnung der Besitzverhältnisse ist aber die moralische Aufwertung der Indiokultur. Grundfalsch ist nämlich die Behauptung, daß es sich bei der Urbevölkerung Amerikas um »Wilde« handelte, die »der Zivilisation einverleibt werden mußten«. In der Naturreligion der Indiobevölkerung, dem Pachamama-Kult, gibt es Elemente, die der jüdisch-christlichen Ethik mindestens ebenbürtig sind. Und die barbarische Praxis der christlichen Eroberer führt die Rede von der »Zivilisation« wahrlich ad absurdum.

Neue Weltsicht

Natürlich hat das Problem der indianischen Urbevölkerung heute nicht überall die gleiche Wichtigkeit. In Bolivien etwa stellen die Indios und Mestizen die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dar. Irrig aber ist die weit verbreitete Meinung, daß es in Lateinamerika auch eindeutig »weiße«, »europäische« Länder gebe. Nicht einmal auf Argentinien oder Uruguay träfe eine solche Behauptung zu. Denn trotz der skrupellosen, brutalen Unterdrückung und Ausbeutung ist in keinem Land Lateinamerikas die Indiobevölkerung verschwunden; und der Einfluß der Indiokultur schon gar nicht. Weit eher läßt sich behaupten, daß infolge der andauernden Verfolgung und Verachtung die Indios und Mestizen selbst ihre eigene Tradition, ihre eigene Kultur unterdrückt und versteckt haben. Im Zuge des Emanzipationsprozesses aber ist diese Scham, diese Selbstaufgabe im Schwinden. Man besinnt sich auf die alten Sprachen: nicht nur auf die bedeutenden wie Quechua, Aymara und Guaraní, sondern auch auf diejenigen, die nur von einem geringen Teil der Bevölkerung gesprochen werden. Von staatlicher Seite werden solche Bestrebungen heute in allen Ländern Lateinamerikas unterstützt (siehe Spalte), wenn auch nicht überall im gleichen Ausmaß.

An der Spitze steht jedenfalls ­Bolivien, wo der »plurinationale Charakter« des Staates auch in der Verfassung formell verbrieft wird. Der Fall des Präsidenten Evo Morales ist da weit mehr als ein Symbol. Als er, fünfzehnjährig, mit seiner Familie als Fremdarbeiter nach Argentinien kam, da war es den Eltern nicht möglich, ihn in die Schule zu schicken, da er nicht spanisch konnte, sondern nur die Indiosprache Aymara. Inzwischen hat er sich nicht nur das Spanische angeeignet, sondern auch Quechua, die andere Indiosprache des Hochlands; und verfügt über ein Kulturniveau, das dem der weißen Indioverächter weit überlegen ist.

In der argentinischen Provinz Formosa tagte vor kurzem ein Kongreß, der von sämtlichen Indiovölkern des Landes, Mapuches, Tehuelches, Wichis, Guaraníes, Ranqueles, Tobas, Qom und vielen anderen, beschickt war. Man erarbeitete ein gemeinsames Manifest, das in diesen Tagen der Präsidentin überreicht werden soll. Es geht darin vor allem um den Landraub durch die großen Sojapflanzer. Aber auch um die fortbestehende Verfolgung und Vertreibung durch die Polizei, die Justiz und die Provinzbehörden.

Es weht in Lateinamerika heute ein anderer Wind. Man hätte durchaus annehmen können, daß die Indios, die ja nun tatsächlich auch über eine gewisse Macht verfügen, nunmehr versuchen würden, an der »weißen Rasse« Rache zu nehmen für allen Raub, für alle Ausbeutung, Ausrottung und Demütigung in der Vergangenheit. Das geschieht aber durchaus nicht; ebensowenig wie es in Südafrika nach dem Fall der Apartheid geschah.

Hingegen wird nun etwas wirklich stattfinden – und es findet auch bereits statt! –, was seit einem halben Jahrtausend fälschlich konstatiert wird: ein echter Kontakt zweier verschiedener Kulturen zu gemeinsamem Nutzen und gegenseitiger Bereicherung.

** Alfredo Bauer, geboren 1924 in Wien, emigrierte 1938 nach dem »Anschluß« Österreichs durch Nazideutschland mit seinen Eltern nach Argentinien, wo er jahrzehntelang als Arzt praktizierte. Er ist seit 1946 Mitglied der KP Argentiniens und veröffentlichte zahlreiche literarische und theoretische Werke, darunter eine »Kritische Geschichte der Juden« (deutsche Ausgabe: Neue Impulse Verlag, Essen 2005; Nachauflage 2013)

Aus: junge Welt, Samstag, 12. Oktober 2013



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