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Vermittlungsversuch

Das Verhältnis von sozialen Bewegungen und linken Regierungen ist nicht immer konfliktfrei. Ein neuer Sammelband zu diesem Spannungsfeld

Von Dieter Boris *

Soziale Bewegungen hatten einen wesentlichen Anteil am Zustandekommen linker und linksgerichteter Regierungen in Lateinamerika. Der Konflikt zwischen dem Kabinett von Evo Morales und indigenen Gemeinden um den Bau einer Straße durch ein Urwaldgebiet ist nur ein Beispiel dafür, daß bei den Gewählten und deren Basis keineswegs immer die gleiche Auffassung darüber vorherrscht, wie der Weg des »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« zu beschreiten ist.

Diesem Spannungsfeld widmet sich der kürzlich erschienene Sammelband »Andere mögliche Welten? Krise, Linksregierungen, populare Bewegungen«. Herausgegeber sind die in Kolumbien lehrenden Wissenschaftler Raul Zelik und Aaron Tauss.

Den Auftakt gibt der Hannoveraner Soziologe Klaus Meschkat. Vor dem geschichtlichen Hintergrund der Räteerfahrungen (und deren Scheitern) setzt er sich mit den neuen Verfassungen auseinander, die seit einigen Jahren in Staaten wie Venezuela, Ecuador oder Bolivien eingeführt wurden. Sein Urteil: Die darin enthaltenen partizipativen Elemente erinnern schwach an die historischen Erfolge der Rätebewegung.

Andrés Antillano, Soziologe und ehemaliger Basisaktivist aus Venezuela, widmet sich den dortigen sozialen Bewegungen, genauer gesagt den »kommunalen Räten« (Consejos comunales). Entstanden durch zunächst spontane Proteste von Teilen der verarmten und marginalisierten Einwohner hätten sich diese Nachbarschaftszusammenschlüsse zu einem »Subjekt der Volksmacht« entwickelt. Insgesamt sieht Antillano die Partizipationsmöglichkeiten breiter Teile der Bevölkerung in der Chávez-Ära gestärkt. Er warnt jedoch vor der Gefahr einer Entpolitisierung.

Hervorzuheben ist der Beitrag der Bolivianerin Patricia Chávez, die sich den Spannungen zwischen der Regierung von Evo Morales und sozialen Bewegungen widmet. Für sie liegen die Wurzeln der Stärke der Bewegungen, vor allem der indigenen und den gewerkschaftlichen, bereits in der Zeit vor dem Amtsantritt von Morales 2006. Traditionelle kommunale Strukturen hätten ihnen »parallele Organisationsformen« und ein schlagkräftiges Auftreten ermöglicht. Ihre Einschätzung fällt dagegen ernüchternd aus: Der Staat habe sich in seiner »eigentlichen Substanz« als kolonialer, patriarchaler und »Klassenstaat« kaum verändert.

Den wohl kontroversesten Beitrag liefert Herausgeber Zelik. Er verweist auf das Dilemma eines gescheiterten Staatssozialismus einerseits und eines sozialdemokratischen Projekts andererseits. Weder Staat noch soziale Bewegungen allein sind seiner Meinung nach imstande, eine grundlegende Transformation zu bewirken. Also muß etwas anderes her. Bewältigen sollen diese Herkulesaufgabe unabhängige Netzwerke, z.B. selbst organisierte Projekte, autonome Bewegungen etc.

Gundsätzliche Überlegungen zur Rolle des Staates in gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen kommen vom Frankfurter Politikwissenschaftler Joachim Hirsch. Der schwankt zwischen zwei Positionen: Dem Staat als Garant und Förderer der Kapitalakkumulation komme in der bürgerlichen Gesellschaft eine ausschließlich negative Rolle zu. In einer »pragmatischen« Lesart wiederum könne der Staat bei großer Mobilisierung der unterdrückten Klassen seine »normalen« Eigenschaften und Funktionen teilweise verlieren und eine gewisse Rolle im Übergang spielen. Wie allerdings ein derartiger Prozeß (ohne revolutionäre Partei und ohne Verfügung über staatliche Macht) erfolgen kann, bleibt in seiner Konzeption des »radikalen Reformismus« offen.

Jairo Estrada aus Kolumbien diskutiert die Sozialpolitik der progressiven Regierungen Lateinamerikas. Neben Kontinuitätsmomenten in Form und Akzentsetzung, die er vor allem bei den sogenannten Mitte-links-Regierungen in Brasilien oder Argentinien sieht, erkennt er in Venezuela, Ecuador und Bolivien deutlichere Veränderungen. Dabei spielen die Rohstoffpolitik, entsprechende Exporte und die Abschöpfung von Einnahmen zugunsten der Umverteilung eine maßgebende Rolle. Grundlegende Veränderungen etwa im Steuersystem oder bei der Sozialpolitik vermißt er jedoch bei beiden Spielarten progressiver Regierungen.

Insgesamt sind die Beiträge lesenswert und anregend. Ein wesentliches Ziel des Bandes, nämlich die gegenwärtigen Prozesse in Lateinamerika theoretisch besser zu erfassen und dabei insbesondere das Verhältnis von Staat und sozialen Bewegungen in den Blick zu nehmen, bleibt jedoch unerfüllt. Weder finden sich weiterführende theoretische Ausführungen über die Spezifika von Staaten in der Peripherie noch empirisch klare Kriterien für sich wandelnde Kräfteverhältnisse. Daher nehmen manche Autoren Zuflucht zu Metaphern oder zu kurvenreichen Argumentationen: »Die Blockaden und Widersprüche in den Prozessen verweisen darauf, daß soziale Emanzipation nie vorrangig von administrativ-staatlicher Macht ausgehen kann, sondern sich aus der Mobilisierung der Gesellschaft entwickeln muß. Allerdings zeigt sich auch, daß staatliche Politik (…) gesellschaftliche Prozesse maßgeblich fördern kann. In diesem Sinne ist es nicht gleichgültig, daß in Venezuela und Bolivien (…) heute Linksregierungen im Amt sind.«

Raul Zelik/Aaron Tauss (Hg.): Andere mögliche Welten? - Krise, Linksregierungen, populare Bewegungen: Eine lateinamerikanisch-europäische Debatte. VSA Verlag, Hamburg 2013, 198 Seiten, 17,80 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 11. März 2013


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