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Kampf um Souveränität

Dieter Boris über Erfolge und Perspektiven der Linksregierungen Lateinamerikas

Von Helge Buttkereit *

Hugo Chávez' Wahlsieg bei der venezolanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1998 läutete eine neue Epoche in der Geschichte Lateinamerikas ein: die Epoche von »Bolívars Erben«, so der Titel seines neuen Buches. Mit diesem Begriff bringt der emeritierte Marburger Politikwissenschaftler Dieter Boris die »Linksregierungen in Lateinamerika« auf einen gemeinsamen Nenner. Auch wenn dies bei genauerer Betrachtung nicht für alle behandelten Staaten ein historisch korrektes Bild zeichnet (in Paraguay, Chile, Uruguay, Argentinien und Brasilien hat Simon Bolívar nicht persönlich gewirkt), so kämpfen die Präsidenten und Regierungen zusammen mit vielen sozialen Bewegungen um die Souveränität des Subkontinents. Und die Souveränität war es schließlich, die Bolívar im Norden des Halbkontinents erkämpfte.

Das im Titel gewählte Bild passt natürlich auch, weil sich der wichtigste Protagonist dieses Kampfes explizit auf Bolívar stützte. Chávez stärkte bis zu seinem Tod 2013 durch verschiedene Initiativen die Souveränität der Länder Lateinamerikas und reduzierte gleichzeitig die Abhängigkeit von den USA. Das ist wohl die sichtbarste und am schwersten umkehrbare Leistung der unterschiedlichen Linksregierungen. Boris weist zurecht darauf hin, dass gerade die neu gegründete UNASUR, die »Union Südamerikanischer Staaten«, sich im Zuge von drohenden und vollzogenen Putschen eindeutig gegen deren Protagonisten stellte und gegen eine Einmischung wandte.

Ansonsten bestehen zwischen dem aufstrebenden Brasilien unter den Sozialdemokraten Lula da Silva und Dilma Rousseff oder dem »bolivarischen« Venezuela unter Chávez und seinem Nachfolger Nicolás Maduro große Unterschiede. Boris arbeitet sie heraus und kann auf Grundlage eines umfassenden Faktenmaterials sowohl Hintergründe als auch Ergebnisse der Linkspolitik zeigen. Wer sich von der oft hölzernen Sprache nicht abschrecken lässt, wird kenntnisreich in das Thema eingeführt. Der Autor betrachtet das Mediensystem, die Wirtschaftspolitik und die Sozialstrukturen dieser Staaten in einzelnen Kapiteln und weist nach, wie sehr die stärkere Konzentration auf die Staatswirtschaft als Gegenentwurf zur neoliberalen Dominanz der 1970er und 1980er Jahre Veränderungen auf vielen gesellschaftlichen Feldern möglich machte.

Dabei ist die »Linkswende« vom Rohstoffexport nicht zu trennen. Ohne Ölrente kein »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« in Venezuela und ohne Gasexporte keine »Neugründung Boliviens«. Mit der deswegen aufkommenden Kritik an einem »Neoextraktivismus« der Linksregierungen sowie mit vielen anderen Aspekten von »Staatlichkeit und Transformationsprozessen in Lateinamerika« setzt sich Boris im letzten und spannendsten Kapitel seines Buches auseinander. Er versucht, drei Linien der aktuellen Diskussion herauszuarbeiten. Dabei grenzt er die Ablehnung des Staates von einem staatszentrierten »Neodesarollismo« ab, der die Rohstoffvorkommen für wirtschaftliche Entwicklung nutzt, und beschreibt schließlich als dritte, sehr heterogene Form der Transformation Überlegungen zur staatlichen Neugründung.

Ein Hauptproblem bleibt, dass Boris eigene Position nur in der Kritik durchscheint und zudem widersprüchlich ist. Das hängt mit den besprochenen Positionen und der konkreten Politik zusammen, für die Gleiches gilt. So redet der Autor an einer Stelle die grassierende Korruption und die Staatslogik eher klein, die Tatsache kommt zu kurz, dass oft nicht mehr als sozialdemokratische Umverteilung existiert. An anderer Stelle beschreibt er als Falle des Transformationsprozesses die »kooptative Einbindung« sozialer Bewegungen in den Staat. Hier hätte eine genauere Unterscheidung zwischen diesem und »progressiven« Regierungen gut getan. Sicher, auch in Lateinamerika wird dies oft übergangen und Verstaatlichung als Ultima ratio genutzt.

Auch Boris diskutiert die Bedeutung von Basisorganisationen im Wechselspiel mit dem Staat, bleibt aber bei einem »konfliktiven Ergänzungsverhältnis« zwischen »unten« und »oben« stehen, wie es derzeit existiert. Das wäre nur mit einer aktiven, bewussten und organisierten Doppelstrategie außerhalb und innerhalb der existierenden Strukturen zu überwinden. Diese hier ganz grob angedeutete utopische Perspektive, steht aber auf der Tagesordnung und wäre in Lateinamerika an einigen Stellen greifbar. Für die Diskussion darüber und die Grenzen der Realpolitik liefert Boris jede Menge oft auch Streitbares.

Dieter Boris: Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika. PapyRossa, Köln 2014, 202 Seiten, 14,90 Euro

* Aus: junge Welt, 20. Oktober 2014


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