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Partisanen zu Kriegsverbrechern

Lettische Regierung schreibt Geschichte um und findet dabei Unterstützung in Strasbourg

Von André Scheer *

Lettland kann frühere sowjetische Partisanen gegen die deutsche Besatzung als »Kriegsverbrecher« verurteilen. Das geht aus einem am Montag in Strasbourg veröffentlichten Urteil der Großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hervor. Die Richter hoben damit einen vor zwei Jahren von einer untergeordneten Instanz desselben Tribunals erlassenen Freispruch des ehemaligen sowjetischen Partisanen Wassili Kononow auf und bestätigte dessen Verurteilung durch lettische Gerichte. Kononow war 1998 auf Betreiben des »Zentrums zur Dokumentation von Totalitarismusfolgen« in Riga von den lettischen Behörden verhaftet und zwei Jahre lang in Haft gehalten worden. In letzter lettischer Instanz wurde er dann 2004 zu einem Jahr und acht Monaten Haft verurteilt. Dagegen wandte sich Kononow an Strasbourg, wo er von der Kleinen Kammer des Gerichtshofs zunächst Recht bekam. Der Berufung der lettischen Regierung wurde von den europäischen Richtern nun jedoch stattgegeben. Das Urteil in Lettland habe nicht gegen den Grundsatz »Keine Strafe ohne Gesetz« verstoßen.

Wassili Kononow war 1942 in die Rote Armee eingetreten, um Widerstand gegen die in die Sowjetunion eingefallene Hitlerwehrmacht zu leisten. Im folgenden Jahr wurde er Mitglied einer Partisaneneinheit im damals von den Nazis besetzten Belarus, die nahe der Grenze zur ebenfalls okkupierten Lettischen Sowjetrepublik operierte. Am 27. Mai 1944 untersuchten die Partisanen das lettische Dorf Mazie Bati, dessen Einwohner im Verdacht standen, mit den Besatzern zu kollaborieren und drei Monate zuvor eine Gruppe von zwölf Partisanen den Nazis ausgeliefert zu haben. Als die sowjetischen Widerstandskämpfer bei ihren Nachforschungen auf deutsche Waffen und Granaten stießen, die in den Häusern versteckt worden waren, erschossen sie fünf Männer. In zwei abbrennenden Häusern starben den Ermittlungen zufolge außerdem ein weiterer Mann und drei Frauen. Die Strasbourger Richter sahen darin eine Verletzung der Genfer Konvention von 1949 über den Schutz von Zivilpersonen sowie der Haager Landkriegsordnung von 1907, die Angriffe auf wehrlose Ortschaften verbietet.

Während die lettische Regierung, die jährlich Aufmärsche von SS-Veteranen in Riga toleriert, das Strasbourger Urteil als Bestätigung des Völkerrechts lobte, kritisierte Kononow gegenüber der russischen Agentur RIA Nowosti, Lettland wolle die Kriegsgeschichte revidieren »und die Sieger zu Verbrechern machen. Sie wollen den Nazismus rehabilitieren«. Die lettische Regierung habe vor Gericht Zeugenaussagen und Archivdokumente verheimlicht und die Richter betrogen.

Das russische Außenministerium in Moskau sprach nach dem Urteil von einem sehr beunruhigenden, »extrem gefährlichen Präzedenzfall«. Dieses Urteil sei ein Versuch, in Europa etablierte politische und rechtliche Grundsätze der Nachkriegszeit in Zweifel zu ziehen.

Auch die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR), ein Zusammenschluß antifaschistischer Organisationen und Opfervereinigungen aus über zwanzig Ländern, hat den Strasbourger Spruch verurteilt. Der Europäische Gerichtshof stelle sich damit an die Seite der Geschichtsrevisionisten, die versuchten, SS-Freiwillige als »Kämpfer für die Freiheit Lettlands« zu rehabilitieren. »Wir appellieren an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, jetzt ein deutliches Signal an alle europäischen Staaten zu geben, daß der Befreiungskampf der Völker gegen die faschistische Barbarei nicht geleugnet und kriminalisiert werden darf«, heißt es in der von FIR-Präsident Michel Vanderborght und dem Generalsekretär der Föderation, Dr. Ulrich Schneider, unterzeichneten Erklärung.

Erst im April hatte das lettische Parlament mit 60 gegen 24 Stimmen einen Antrag der Oppositionspartei »Einheitszentrum« abgelehnt, den sowjetischen antifaschistischen Widerstandskämpfern den offiziellen Status eines Teilnehmers des Zweiten Weltkrieges zuzuerkennen. Im Gegensatz dazu wurde den früheren SS-Angehörigen dieser Status gewährt, weil sie ab 1940 gegen die (sowjetischen) »Besatzungstruppen« in ihrem Land gekämpft hätten. Sie erhalten vom Staat monatliche Zuschüsse von 50 Lat (70 Euro), während die sowjetischen Veteranen in Lettland von Sozialleistungen ausgeschlossen sind.

* Aus: junge Welt, 19. Mai 2010


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