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Mehr als ein Sprachenstreit in Lettland

Offiziell geht es ums Russische, eigentlich um Moral

Von Toms Ancitis, Riga *

Lettlands Wahlberechtigte entscheiden am heutigen Sonnabend (18. Feb.), ob Russisch neben dem Lettischen zur zweiten Staatssprache erklärt werden soll. Die Initiatoren betrachten ihre Forderung als Protest gegen das Verhalten des Staates zu den russischsprachigen Bewohnern. Die meisten Letten nehmen die Idee dagegen als Bedrohung der lettischen Staatlichkeit wahr.

Die Wahrscheinlichkeit, dass das Referendum mit einem Ergebnis zu Gunsten der Zweisprachigkeit endet, geht gegen Null. Es müsste nämlich die Hälfte der Wahlberechtigten für den Vorschlag stimmen, also rund 700 000 Bürger. So viele russischsprachige Staatsbürger gibt es in Lettland aber nicht.

Ist das Ganze also eine abwegige, nicht weiter beachtenswerte Idee, weil sie ohnehin zum Scheitern verurteilt ist? So dachte man vor einem Jahr in Lettland, als die Organisation »Muttersprache« in Riga eine erste kleine Aktion unternahm: Ein paar Dutzend Menschen versammelten sich damals im Zentrum der Hauptstadt an einem Notariat, um eine Initiative für das Russische als zweite Amtssprache zu unterschreiben. Die Aktion wurde kaum zur Kenntnis genommen. Ein Internetportal veröffentlichte das Foto des Organisators Vladimirs Lindermans sogar unter der Rubrik »Unterhaltung«. Kaum jemand glaubte damals, dass sich die Dinge binnen Jahresfrist so entwickeln würden. Selbst Kinder in Lettland kennen heute Lindermans' Gesicht. Der 53-jährige jüdische »Nichtbürger«, der sich selbst als »Nationalbolschewist« bezeichnet und wegen Anstiftung zum gewaltsamen Umsturz und illegalem Sprengstoffbesitz angeklagt war, ist inzwischen ein »Star«. Viele behaupten, er sei ein »professioneller Provokateur«, der den Hass kultiviere. Für andere ist er »der Verteidiger der russischsprachigen Minderheit« in Lettland. »Wir sind hier keine zufälligen Gäste, keine Ausländer, keine Okkupanten. Wir sind genauso Eigner dieses Landes wie es die Letten sind«, begründet Lindermans seine Initiative.

Die potenzielle zweite Staatssprache ist jedenfalls seit Monaten eines der wichtigsten Themen sowohl für die Politiker als auch für die Bevölkerung Lettlands. Soziologen hatten den Befürwortern kaum eine Chance gegeben, die für die Erzwingung eines Referendums erforderlichen 153 000 Unterschriften (ein Zehntel der Wahlberechtigten der letzten Parlamentswahl) zusammenzubekommen. Im vergangenen Herbst unterschrieben jedoch sogar mehr als 180 000 Menschen das Begehren.

Einen entscheidenden Impuls erhielt die Initiative durch die symbolische Unterschrift des Rigaer Bürgermeisters Nils Usakovs, der zugleich Vorsitzender des russischorientierten Parteienbündnisses »Harmoniezentrum« ist. Das Bündnis war aus den Parlamentswahlen im Herbst mit der stärksten Fraktion in der Saeima hervorgegangen, wurde aber nicht an der Regierung beteiligt. »Die Russen werden beleidigt«, erklärte Usakovs. Er befürworte ein Referendum weniger um der Sprache willen, er sehe darin vielmehr eine Möglichkeit zu zeigen, »wie viele Leute es gibt, die nicht mit der derzeitigen ethnisch-nationalistischen Politik einverstanden sind«.

Der Rentner Valerijs Ivanovs, früher Jurist, denkt ähnlich. Auch er habe 1991 auf den Barrikaden für die Unabhängigkeit Lettlands gekämpft, »aber ich wurde enttäuscht«. Statt ihm automatisch die Staatsbürgerschaft zu verleihen, habe man ihn einem erniedrigenden Naturalisierungsprozess unterzogen. »Ich finde, dass dieses Referendum eine Möglichkeit ist, unsere Unzufriedenheit auszudrücken«, sagt er.

Anderer Meinung ist die Russin Jelena Avotina-Jekateriniceva. »Ich kann schwören, dass es in Lettland keine ethnische Diskriminierung gibt«, sagte sie im Europäischen Parlament während einer Konferenz zu der Frage »Warum muss Lettisch die einzige Staatssprache in Lettland bleiben?« Im Gegenteil, erklärte sie, in Lettland genössen Russen Leistungen wie nirgendwo anders. In jedem Supermarkt, jedem Café, jeder Bank, jeder Apotheke oder jedem Friseurladen könne man auf Russisch bedient werden, es gibt staatsfinanzierte russische Fernseh- und Rundfunkkanäle, eine riesige Auswahl russischer Zeitschriften und Zeitungen. »Die Forderung nach Russisch als zweiter Staatssprache ist eine Schikane gegenüber den Letten.«

Auch Ministerpräsident Valdis Dombrovskis und Staatspräsident Andris Berzins forderten alle Einwohner Lettlands - auch die Russischsprachigen - auf, gegen die Initiative zu stimmen. Obwohl klar ist, dass nicht genügend Stimmen für die Zweisprachigkeit zusammenkommen, müssten alle Zweifel an einer einzigen Staatssprache, dem Lettischen, durch ein überzeugendes Votum ausgeräumt werden. Zugleich gestand Dombrovskis, dass die Integrationspolitik nach dem Referendum verbessert werden muss. Denn die Tatsache, dass es überhaupt zu einer solchen Abstimmung gekommen ist, beweist eindeutig, dass in diesem Bereich durchaus nicht alles in Ordnung ist.

Lexikon:

NICHTBÜRGER. In Lettland leben nach Angaben der Migrationsbehörde rund 320 000 »Nichtbürger«. Sie haben ein Aufenthaltsrecht, besitzen aber weder die lettische noch eine andere Staatsbürgerschaft. »Nichtbürger« dürfen nicht wählen oder im Staatsdienst arbeiten.

Nach der Unabhängigkeitserklärung Lettlands 1991 vergab Riga die Staatsbürgerschaft automatisch nur an Bewohner, die bereits vor 1940 im Land lebten, und deren Nachkommen. Alle anderen wurden zu »Nichtbürgern«, mehrheitlich Russen, Belarussen und Ukrainer. Sie stellen noch immer 15 Prozent der 2,3 Millionen Einwohner. Um die Staatsbürgerschaft zu erlangen, müssen »Nichtbürger« in einem Einbürgerungstest ausreichende Kenntnisse der lettischen Sprache, der Kultur und der Geschichte des Landes nachweisen. Die Einbürgerungs- und Sprachregelungen sind wiederholt international kritisiert worden und sorgen ständig für Konfliktstoff in den Beziehungen zwischen Riga und Moskau. dpa/nd



* Aus: neues deutschland, 18. Februar 2012


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