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"Russland-Feiern" am Tag des Sieges in Riga

Warum junge Einwohner Lettlands das Land ihrer Vorfahren schätzen

Von Krzysztof Pilawski, Riga *

»Russland, Russland!« riefen tausende junge Rigaer am späten Abend des 9. Mai. Während Lettland wie viele andere EU-Staaten den Europatag beging, feierten junge Menschen in Riga den Tag des Sieges: Ein Spiegel des Umgangs der lettischen Politik mit den russischsprachigen Einwohnern.

Rigas Bürgermeister Janis Birks hatte die Feierlichkeiten zum 9. Mai eigentlich verbieten lassen wollen. Es seien – so sein Argument – in der Mehrzahl illoyale Bürger, die daran teilzunehmen wünschten. Doch der Stadtrat überstimmte ihn und ließ das Fest am Denkmal des Sieges zu. Zunächst kamen vor allem Menschen mittleren und höheren Alters, um die Mittagszeit überwogen Familien, den Abend beherrschte die Jugend. Die Zahl der überwiegend russisch sprechenden Besucher an diesem Tag lässt sich schwer schätzen. Den Blumen nach, die von den Besuchern niedergelegt wurden, mögen es über 100 000 gewesen sein.

Einheimische Journalisten stellten fest, dass der Anteil der Jungen von Jahr zu Jahr zunehme. Denen ist das Verbot der Sowjetflagge durch die lettische Gesetzgebung leidlich egal – sie tragen sowieso die Fahne der Russischen Föderation. Und sie gehen auch nicht ins »Okkupationsmuseum« im Zentrum Rigas. Das Museum soll unter anderem begründen, warum die Nachfahren der »Okkupanten« nicht die gleichen Rechte beanspruchen dürfen wie die Letten selbst. Auf großem Raum zeigt es das tragische Schicksal tausender unterdrückter und ermordeter Letten. Den ermordeten Juden, die Opfer deutscher Besatzer und ihrer lettischen Helfershelfer wurden, wird weitaus kleinerer Raum gewidmet. Vor zwei Jahren wurde dort, wo einst die Rigaer Synagoge stand, ein Denkmal eingeweiht. Es erinnert an jene lettischen Bürger, die Juden vor der Vernichtung retteten. Ein Denkmal für die ermordeten Rigaer Juden gibt es nicht.

Wohl aber ein Jüdisches Museum. Im selben Haus haben auch viele Organisationen der russischsprachigen Bevölkerung ihren Sitz. Für die Juden endeten der Krieg und die barbarische Verfolgung mit der Niederringung des Faschismus. Der russische Blick auf die Geschichte steht ihnen näher als der offizielle lettische.

Obwohl seit dem Fall der Berliner Mauer viele frühere Grenzen ihre Bedeutung verloren haben, werden scharfe Trennlinien nach wie vor geschätzt. Weder Russland noch Lettland wollen derzeit aus den Schützengräben der Geschichte klettern. Beide Seiten sind bereit, bis zum Letzten für ihren Standpunkt einzustehen. Günstige Zeiten für eine Politik, die auf der Einteilung in Gut und Böse basiert.

In den 90er Jahren hatte die lettische Seite im eigenen Land eindeutig die Oberhand. Jetzt neigt sich die Waage, ähnlich wie in Estland, allmählich zugunsten Moskaus. Die Überwindung des Chaos der Jelzin-Zeit, das schnelle Wirtschaftswachstum, die Verringerung des Einkommensgefälles für junge Spezialisten, die großen Möglichkeiten des russischen Marktes, die gravierende Wirtschaftskrise in Lettland, aber auch die für junge Menschen nicht unwichtigen Potenziale von Kultur und Sport in Russland – das alles führt dazu, dass sich in Lettland geborene junge Menschen emotional dem Land ihrer Vorfahren nähern. Und diese emotionale Annäherung ist paradoxerweise eine direkte Folge der in Lettland praktizierten Politik der Einteilung in patriotisch »bessere« und »weniger gute« Bürger. Die Kinder der »weniger guten« Bürger pfeifen heute auf die den Eltern vorenthaltene Bürgerrechte, sie meinen Besseres zu kennen.

* Aus: Neues Deutschland, 14. Mai 2009


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