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"Das ist gegen die europäischen Werte"

Serie nationalistischer Aufläufe im Baltikum mit Waffen-SS-Marsch in Riga beendet. Proteste gab es kaum. Ein Gespräch mit Efraim Zuroff *


Efraim Zuroff ist Direktor des Jerusalemer Büros des Simon-Wiesenthal-Centers.

Rund 1.500 Menschen haben sich am Montag in Riga an einem Marsch zu Ehren der Waffen-SS beteiligt. Es war der vierte nationalistische Marsch in den Städten des Baltikums binnen vier Wochen. Für wie repräsentativ halten Sie diese Demonstrationen?

Rein zahlenmäßig war die Beteiligung nicht immer so hoch. Im litauischen Vilnius kamen am 11. März ebenfalls 1.500 zusammen, nachdem zuvor einige hundert in Kaunas demonstriert hatten. In der estnischen Hauptstadt Tallin waren es vor einigen Wochen 200 Leute. Aber ich habe keinen Zweifel, dass viele im Baltikum die Ideen teilen, die auf diesen Märschen formuliert werden. Auf jeden, der dort mitmacht, dürften 1.000 kommen, die mit den Marschierern einverstanden sind.

In Riga habe ich beobachtet, dass viele Menschen, die sich nicht direkt am Marsch beteiligt haben, danach zum Denkmal gingen und dort Blumen für die SS-Soldaten niederlegten. Wie verbreitet diese Ansichten sind, ist auch bei den Wahlen in Estland sichtbar geworden, wo die rechte EKRE erstmals mit sieben Mandaten ins Parlament kam. Ihr Jugendverband hatte dort den Marsch organisiert.

Um was geht es denn bei diesen Aufmärschen?

Die Teilnehmer bezeichnen sich als Patrioten, aber in meinen Augen sind sie klare Neofaschisten. In Litauen tragen sie zum Beispiel jedesmal Fahnen und Anstecker mit Hakenkreuzsymbolen. Einer lief dort sogar mit einer SS-Fahne rum – das zu sehen, war schon ein Schock!

Die Märsche haben im wesentlichen zwei Themen, mit unterschiedlichen Nuancierungen: Zum einen formulieren sie Hass gegen Minderheiten. Alle, die einer ethnischen Minderheit angehören, werden als Gegner der Nation wahrgenommen oder jedenfalls als unzuverlässig. Deswegen demonstrieren sie unter der Parole »Estland den Esten«, »Litauen den Litauern« usw.

Das andere Thema ist die Umschreibung der Geschichte. Sie verherrlichen die Kollaborateure von früher, sie verbinden Antisemitismus mit Antikommunismus, sie setzen den Holocaust mit sowjetischen Verbrechen gleich. In Riga werden die früheren Waffen-SS-Männer als Freiheitskämpfer bezeichnet, was furchtbarer Unsinn ist. Diese Leute haben für das mörderischste Regime der Geschichte gekämpft, viele von ihnen haben selbst Juden ermordet. Und wenn diese Leute auf Gegendemonstranten stoßen, legen sie sofort mit antisemitischen und antirussischen Parolen los.

Sie waren wahrscheinlich der einzige, der alle vier Märsche beobachtet hat. Warum haben Sie sich das angetan?

Ich habe ja nicht nur beobachtet, sondern auch den Protest unterstützt. Ich halte es für wichtig, dass die Gegnerschaft zu diesen Faschisten sichtbar wird. In Estland war ich allerdings der einzige Gegendemonstrant. In Vilnius waren wir ungefähr 20, und zuletzt in Riga waren es auch nicht viele, vielleicht 25 Leute. Von denen waren alle, bis auf meinen jüdischen Freund Dovid Katz und mich, russischstämmige Letten.

Wie erklären Sie sich, dass so wenig Gegendemonstranten da sind?

Das hat den gleichen Grund, weswegen in diesen Ländern nie ein Naziverbrecher verurteilt wurde: Sie wollen nicht gegen die eigenen Leute angehen. Sie pflegen ihren Nationalismus und ziehen es vor, die historischen Beweise zu ignorieren.

Welche Perspektive sehen Sie da?

Keine guten. Die Furcht vor Russland stärkt noch den Nationalismus, und Russland instrumentalisiert die Märsche wiederum für seine eigene Propaganda. Die baltischen Staaten haben zwar, als sie in die EU kamen, ihr Paket mit europäischen Werten entgegengenommen, aber sie tun genau das Gegenteil: Sie deuten die Geschichte um und setzen mit Hilfe parlamentarischer Beschlüsse Kommunismus und Holocaust gleich. SS-Leute zu verehren hat nicht das geringste mit europäischen Werten nichts zu tun. Da war die Idee der Gegendemonstranten in Riga ganz passend: Sie haben nach dem Nazimarsch den Freiheitsplatz symbolisch in weißen Overalls desinfiziert. Es wäre gut, wenn auch die EU solche Märsche endlich klar verurteilen würde.

Interview: Frank Brendle

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 19. März 2015


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