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Geschichtsschreibung per Gesetz?

Lettlands Nationalisten wollen Leugnung sowjetischer Besatzung unter Strafe stellen

Von Toms Ancitis, Riga *

Was passierte in Lettland am 17. Juni 1940? Die Antwort auf diese Frage spaltet die Bevölkerung der baltischen Republik. Jetzt soll sie »per Gesetz« entschieden werden.

Die offizielle Politik Lettlands vertritt den Standpunkt, dass am 17. Juni 1940 die Besetzung der Republik durch die Sowjetunion begann. Deshalb ist dieses Datum im lettischen Kalender als nationaler Trauertag markiert. Auch beim Geschichtstest, den die sogenannten Nichtbürger ablegen müssen, wenn sie eingebürgert werden wollen, wird nur eine Antwort als richtig anerkannt: An diesem Tag okkupierte die Sowjetunion das Land.

Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung, vor allem die russischsprachigen Einwohner, vertritt jedoch eine andere Überzeugung. Für sie war das keine Besatzung, vielmehr sei Lettland freiwillig der Sowjetunion beigetreten. Auch das prorussische Parteienbündnis Harmoniezentrum, das die größte Fraktion im Parlament stellt, weigert sich, den Begriff »Okkupation« anzuerkennen. Doch öffentlich von einem freiwilligen Beitritt zu sprechen, dürfte bald gefährlich werden. Wer die »Besatzung« leugnet, könnte im Gefängnis landen.

Im Saeima, dem Parlament, wird möglicherweise schon diesen Monat über eine vom ehemaligen Justizminister Janis Bordans vorgeschlagene Gesetzesänderung abgestimmt, wonach die Leugnung der Besatzung als Straftat geahndet werden kann. Der Strafrahmen soll von Bußgeld bis zur dreijährigen Gefängnisstrafe reichen.

Im Text des Gesetzentwurfs wird der Begriff »Besatzung« nicht ausdrücklich erwähnt. Da geht es um »Aggressionen«. Demnach würde es verboten, »Sowjet- oder Nazi-Aggression öffentlich zu leugnen, anzuzweifeln, zu glorifizieren oder zu rechtfertigen«. Der Hauptverteidiger der Initiative, Andrejs Judins, Parlamentsabgeordneter der Regierungsfraktion »Einheit«, lässt aber keinen Zweifel: »Aggression« meint auch die sowjetische Besatzung und die von der Sowjetmacht angeordneten Deportationen von Letten nach Sibirien.

»Wir wollen die Leute nicht dafür bestrafen, was sie denken. Es ist nicht unser Ziel, die Redefreiheit zu begrenzen«, beschwichtigt Judins. Vielmehr gehe es um die sogenannte Hassrede. »Wenn ein Mensch in einer öffentlichen Veranstaltung eindeutig äußert, dass Lettland nicht von den Sowjets okkupiert wurde, und dass die Republik der Sowjetunion beigetreten ist, weil es das lettische Volk so wollte, dann wird er sich dafür verantworten müssen.«

Einer der Gründe, warum der Gesetzentwurf gerade jetzt vorgelegt wurde, ist ein monatelanger Strafprozess, der ergebnislos endete. Es ging um Alfreds Rubiks. Der ehemalige Erste Sekretär der Kommunistischen Partei Lettlands leitet heute die Sozialistische Partei, eine der beiden Gruppierungen des Harmoniezentrums, und ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Bei einer Demonstration in Riga hatte Rubiks erklärt, Lettlands Beitritt zur Sowjetunion sei genauso freiwillig gewesen wie 2004 der Beitritt zur EU. Auch zu sowjetischen Repressionen äußerte er sich: »Die Repressionen, die 1949 in Lettland geschahen, sind nicht eindeutig zu bewerten. Viele wurden damals zu Recht repressiert, weil sie mit den Faschisten kollaboriert hatten.«

Die Sicherheitspolizei leitete Ermittlungen wegen Verdachts auf Rechtfertigung von Verbrechen gegen die Menschheit ein. Allerdings konnten die Ermittler in den Äußerungen Rubiks’ keine Straftat erkennen.

Die nationalkonservative Nationale Allianz, Mitglied der Regierungskoalition, will das Gesetz deshalb verschärfen. Justizministerin Baiba Broka erklärte: »Noch immer leben sehr viele Menschen, die Opfer der beiden Regime waren. Es ist die Pflicht des Gesetzgebers, diese Leute durch eine geeignete Begrenzung der Redefreiheit vor anderen zu schützen, die diese Regime öffentlich trivialisieren oder glorifizieren«, argumentierte Broka in einer Fernsehsendung und setzte ein weiteres Mal die faschistische Herrschaft mit der sowjetischen gleich.

Valerijs Agesins, Abgeordneter des oppositionellen Harmoniezentrums, hält eine solche Gesetzesänderung für »so weit interpretierbar«, dass man danach »praktisch jeden Andersdenkenden bestrafen könnte«.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses der russischen Staatsduma, Alexej Puschkow, kritisierte den Entwurf scharf. Die faschistische Okkupation Lettlands sei darin nur formell erwähnt, in Wahrheit richte sich der Vorstoß gegen Russland, »sonst müssten die lettischen Behörden im Sinne dieses Gesetzes auch die Märsche der früheren Soldaten der Waffen-SS verbieten, die in Riga jedes Jahr am 16. März stattfinden«.

Auch Lettlands Außenminister Edgars Rinkēvičs (Reformpartei) fand, dass ein solches Gesetz mehr zum Totalitarismus passe als zur Demokratie. Unklar bleibt zudem, wie dem Gesetz praktisch Geltung verschafft werden sollte. Wie sollen Richter oder Polizisten entscheiden, welche Aussagen strafbar sind und welche nicht?

Aufgrund des Widerspruchs aus dem Außenministerium wurde der Vorschlag zunächst von der Tagesordnung des Parlaments genommen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 10. März 2014


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