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Russlands "sanfte Aggression" in Lettland

Riga verhängte Einreiseverbot gegen Popstars, fürchtet aber schwere Verluste im Falle von Wirtschaftssanktionen

Von Toms Ancitis, Riga *

In Lettland – wie in den baltischen Nachbarrepubliken – schwillt die antirussische Stimmung an. Aber wenn es um reale wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland geht, werden die Stimmen leiser.

Jurmala ist die größte Kurstadt im ganzen Baltikum. 20 Kilometer von der lettischen Hauptstadt Riga entfernt, war sie schon zur Sowjetzeit nicht nur bei Einheimischen sehr beliebt, sondern auch bei Urlaubern aus Russland. Jeden Sommer kamen viele Moskauer in die staatlichen Sanatorien, um den frischen Kiefernduft zu genießen und in der Ostsee zu baden. Die Zeiten sind vorbei. Staatliche Sanatorien gibt es nicht mehr, stattdessen private Hotels und Resorts. Touristen aus Russland benötigen ein Visum. Und trotzdem ist Jurmala auch heute noch voll von Moskauern.

Besonders in den letzten Jahren stieg die Zahl der Russen rasch, ebenso wie die Zahl der Luxuskarossen und der teuren Restaurants. Denn etliche wohlhabende russische Staatsbürger kaufen in Jurmala Villen, Häuser, Wohnungen. Nicht nur wegen des Ostseestrands. Durch den Erwerb von Immobilien erhalten sie dank des lettischen Investitionsprogramms auch Aufenthaltsgenehmigungen samt Schengen-Visa. Für viele ist gerade das der Hauptgrund.

Jedes Jahr im Juli wird die Zahl der Luxus-Autos in Jurmala für eine Woche fast unüberschaubar. Wenn nämlich der internationale Musikwettbewerb »Neue Welle« stattfindet. Von russischer Seite organisiert, gilt er als größtes Popfestival auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion. Geschätzte 120 bis 150 Millionen Fernsehzuschauer in Russland und anderen Republiken verfolgen die Übertragungen vom Ostseestrand. Künstler schätzen den Wettbewerb als Tor zum russischen Musikmarkt.

Im Publikum sitzt derweil die »Elite« Russlands. Millionäre und Milliardäre, hohe Beamte, Popstars. Schon die Preise kennzeichnen die Natur der Veranstaltung: Im VIP-Sektor kostet ein Tisch für 10 Personen über 20 000 Euro. Auch viele lettische Unternehmer und Beamte sind Stammgäste des Festivals. Sie benutzen die Veranstaltung, um bei einem Glas Wein oder Kognak neue Geschäftskontakte zu knüpfen und alte aufzufrischen.

Obwohl viele Restaurants und Hotels in Jurmala innerhalb dieser Woche einen Umsatz erzielen wie im ganzen restlichen Jahr nicht, steht die Veranstaltung unter starker Kritik. Sie sei »zu russisch«, »zu sowjetisch«, zu »uneuropäisch« – eine Schande für Lettland, klagen seit Jahren lettische Medien und Einwohner Jurmalas.

Raivis Dzintars, Fraktionschef der mitregierenden Nationale Allianz im lettischen Parlament, hält die »Neue Welle« für eine eigentlich politische Veranstaltung, durch die Russland auf sanfte Weise seinen Einfluss auf Staaten vergrößerte, die ehemals zur Sowjetunion gehörten. Dzintars würde das »Pseudokulturereignis« gerne aus Lettland verbannen, verfügt aber nicht über die rechtlichen Mittel dafür. Aber er forderte lettische Staatsbeamte und Politiker auf, das Festival auf keinen Fall zu besuchen, zumal nicht während der »russischen Aggression« gegen die Ukraine.

Tatsächlich hat diese Position noch nie so viele Anhänger gehabt wie in diesem Jahr. Seit Beginn des Konflikts um die Krim nimmt die antirussische Stimmung im Land deutlich zu. Nach dem Absturz der Passagiermaschine der Malaysia Airlines in der Ostukraine wurde sie weiter angeheizt. Das spiegelt sich auch in der Politik wieder. So unternahm der lettische Außenminister Edgars Rinkevics einen unerwarteten Schritt: Er setzte drei in Russland berühmte Popstars – Oleg Gasmanow, Iosif Kobson und Alla Perfilowa – wegen »ihrer kremlfreundlichen Haltung in der Ukrainekrise« auf eine schwarze Liste. Den drei Künstlern wurde die Einreise zum Festival verweigert. Russland reagierte und bestellte die lettische Botschafterin in Moskau ein.

Dessen ungeachtet begrüßten Staatspräsident Andris Berzins und Regierungschefin Laimdota Straujuma die Entscheidung, wenngleich die Begründung kaum überzeugte. Die Äußerungen, die Rinkevics den Künstlern vorwirft, sind schon einige Monate alt. Rigas Bürgermeister Nils Usakovs vom prorussischen Harmoniezentrum sieht denn auch einen ganz anderen Hintergrund: die lettischen Parlamentswahlen im Oktober. »Mir schaudert, wenn ich diesen Quatsch sehe, der im Zusammenhang mit dem Song-Wettbewerb hier abläuft«, sagte er und beschrieb »Minister, die mit untraditionellen Mitteln versuchen, ihre eigenen Minderwertigkeitskomplexe und ihre Vorwahlangst zu bewältigen. Nationalisten, die den Sieg über den russischen Imperialismus in Person einer Sängerin Valeria feiern... Ich schäme mich, mir das alles anzuschauen.« Dennoch trat Usakovs als einziger lettischer Politiker bei der Eröffnungszeremonie mit einer Begrüßungsrede auf. »Weil wir gute wirtschaftliche Beziehungen mit Russland brauchen«, begründete er das: »Im Gegensatz zu uns verstehen unsere Partner in Europa das ganz gut – auch in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich und Finnland.«

Bei aller antirussischen Stimmung schrumpft der Kampfgeist stets, wenn die Sprache auf reale wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland kommt. Unternehmerverbände warnen: Es gibt kaum eine Wirtschaft in der EU, die mit Russland so eng verbunden wäre wie die lettische. Neben dem Export von Agrar- und Holzprodukten gehören Transitleistungen zu den wichtigsten Einnahmequellen Lettlands. Über lettische Häfen exportiert Russland Öl und Kohle nach Westeuropa. Falls aufgrund von Sanktionen der westliche Import deutlich reduziert würde, blieben die lettischen Häfen leer. Das wäre eine Katastrophe, denn »80 Prozent unserer Fracht sind aus Russland«, sagte Karlis Leiskalns, Vorsitzender des lettischen Hafenverbandes. Das staatliche Bahnunternehmen »Latvijas Dzelzcels«, einer der größten Steuerzahler des Landes, ist ebenfalls fast hundertprozentig von russischer Fracht abhängig.

In einer Frage waren sich die Regierungsparteien und das oppositionelle Harmoniezentrum im Parlament kürzlich weitgehend einig: Es wurde beschlossen, dass das Verteidigungsbudget bis 2020 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht werden soll. Doch falls sich wegen neuer Sanktionen gegen Russland die wirtschaftliche Lage verschlechtern sollte, dürfte dieses Ziel schwer zu erreichen sein.

* Aus: neues deutschland. Montag, 28. Juli 2014


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