Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Exodus aus Nahr al-Bared

Bereits 20 000 Palästinenser flohen aus dem Lager in Nordlibanon

Von Karin Leukefeld *

Bereits 20 000 Palästinenser haben das Flüchtlingscamp Nahr al-Bared im Norden Libanons verlassen, und der Exodus hält an. Bei schweren Kämpfen kamen bisher rund 70 Menschen ums Leben.

Der libanesische Premierminister Fuad Siniora und die libanesische Armee erhalten viel Applaus für das militärische Vorgehen gegen die »bewaffnete terroristische Gruppe« Fatah al-Islam im Flüchtlingslager Nahr al-Bared. Sowohl der EU-Außenbeauftragte Javier Solana als auch die Bundesrepublik versicherten ihn ihrer vollen Unterstützung. Berlin erinnerte an die Resolutionen 1559 und 1701 des UN-Sicherheitsrates, in denen die Entwaffnung der Milizen in Libanon gefordert wird. Zu den palästinensischen Toten und Verletzten in Nahr al-Bared, fand das Auswärtige Amt kein Wort.

Nicolas Sarkozy, der neue französische Präsident, schickte Außenminister Bernard Kouchner nach Beirut. Auch die Staaten der Arabischen Liga begrüßen das libanesische Vorgehen gegen Fatah al- Islam, Generalsekretär Amr Moussa kündigte Waffenlieferungen für die libanesische Armee an. Das US-Außenministerium prüft derzeit eine Anfrage der libanesischen Regierung, in der diese um zusätzliche Militärhilfe ersucht. Syriens Außenminister Walid Mouallem zeigte sich besorgt über die Lage in dem Flüchtlingslager. Die syrischen Sicherheitsbehörden hätten Haftbefehle gegen die Führer von Fatah al-Islam ausgestellt, hieß es bei der syrischen amtlichen Nachrichtenagentur SANA.

Die Haltung der libanesischen Bevölkerung ist widersprüchlich. Einerseits äußern viele Mitleid mit den Bewohnern des Lagers, andererseits zeigt die überwiegende Mehrheit uneingeschränkte Unterstützung für die libanesische Armee und ihr Vorgehen. Die Gruppe Fatah al-Islam wird allgemein als ausländische Al-Qaida-Gruppe angesehen, für deren Ideologie es in Libanon keine Toleranz gibt. Die Angst sei enorm, dass Al Qaida in Libanon Fuß fassen könne, sagt ein politischer Beobachter. Daher rührt auch die große Unterstützung der arabischen Staaten.

Drei Tage lang hat die libanesische Armee das dicht besiedelte Flüchtlingslager bombardiert. Am Mittwoch (23. Mai) konnten Journalisten Teile des Camps sehen, wo sich ihnen ein Bild der Verwüstung bot.

Fatah al-Islam hat auch unter den Palästinensern keine Basis. Im Flüchtlingslager Beddawi sei die Gruppe von den palästinensischen Sicherheitskräften des Lagers vertrieben worden, berichten Anwohner. Erst Ende 2006 fasste sie dann im Lager Nahr al-Bared Fuß.

In den anderen zwölf Flüchtlingslagern im Land herrscht Empörung über das Vorgehen der Armee. In Ain al-Hilwa, dem größten Flüchtlingslager bei Sidon, kam es zu wütenden Demonstrationen. Nahr al-Bared liegt auf einem Gebiet von einem Quadratkilometer, die auf engstem Raum zusammengepferchten Einwohner wurden vor dem Angriff nicht gewarnt.

Amal Saad-Ghorayeb, Professorin an der Universität in Beirut, warnte vor einem Kampf zwischen Palästinensern und Libanesen, sollte dass Morden in dem Lager nicht aufhören. »Palästinensische Zivilisten haben zunächst die libanesische Armee gegen diese ausländische Gruppe unterstützt«, erklärte Saad-Ghorayeb gegenüber dem UN-Informationsnetzwerk IRIN. Nun könne sich die Gruppe als Beschützer der Palästinenser gegen die libanesische Armee aufspielen. Die Regierung habe eine Büchse der Pandora geöffnet, die sich nicht kontrollieren lasse.

Tausende Palästinenser nutzten derweil eine fragile Waffenruhe, um aus ihrem verwüsteten Lager zu fliehen. Im nahe gelegenen Beddawi-Lager hatte sich das UN-Flüchtlingshilfswerk für die Palästinenser, UNRWA, auf 10 000 Flüchtlinge eingestellt. Unter den Verletzten sind viele Kinder und Frauen. Ärzte und Freiwillige des palästinensischen Roten Halbmondes versorgten die Verwundeten im Krankenhaus von Beddawi, während weitere eingeliefert wurden. In einem der Zimmer lagen vier verletzte Jungen, unter ihnen der achtjährige Hussam, dessen Körper mit Schrapnellsplittern durchsiebt ist. Er war auf der Flucht mit seinen zwei Brüdern und seinem Vater, als eine Bombe in unmittelbarer Nähe einschlug. Der Vater sei getötet worden, erzählt die Schwester, der Junge wisse es noch nicht.

* Aus: Neues Deutschland, 24. Mai 2007

Aufstände angekündigt

Palästinensische Proteste gegen "feige Massaker der libanesischen Armee"

Von Karin Leukefeld **


Die Sichtweise der Palästinenser im Libanon auf die Ereignisse in Nahr Al Bared unterscheidet sich von der der Libanesen. Ain Al Hilwah (bei Sidon) ist mit rund 45000 Palästinensern das größte Flüchtlingslager. Hier kam es zu Protesten gegen das »feige Massaker der libanesischen Armee an palästinensischen Zivilisten«, so Sprechchöre auf einer Demonstration. Unter dem Vorwand, Fatah Al Islam zu bekämpfen, habe man Nahr Al Bared vernichtet, riefen Demonstranten. Außer der Fatah – die nichts mit der Gruppe Fatah al-Islam zu tun hat – nahmen viele Gruppen der ansonsten politisch zerstrittenen Palästinenser an den Protesten teil, darunter Hamas, der Islamische Dschihad, Asbat Al Ansar, PFLP sowie DFLP.

Der Hamas-Vertreter Abu Hamad Fadel sagte gegenüber der libanesischen Zeitung Daily Star, die Lage müsse politisch gelöst werden. »Nahr Al Bared zu bombardieren und zu zerstören, ist keine Lösung und wird die Bewohner des Lagers in eine schwere, humanitäre Krise stürzen«. Asbat Al Ansar kündigte Aufstände an. Ein offizieller Vertreter des Lagerkomitees, der anonym bleiben wollte, sagte, es sei schwer, die Situation zu kontrollieren, wenn das Morden an den Palästinensern in Nahr Al Bared anhielte.

Mit der Gründung des Staates Israel 1948 wurden die Palästinenser aus ihrer Heimat vertrieben, allein in Libanon leben rund 400000 von ihnen, sie machen heute rund zehn Prozent der libanesischen Bevölkerung aus. Ursprünglich gab es 16 Flüchtlingslager, von denen drei während des Bürgerkrieges (1975–1990) zerstört und nicht wieder aufgebaut wurden. Ein viertes Lager bei Baalbek wurde evakutiert, so daß die Palästinenser im Libanon heute in zwölf Lagern unter erbärmlichen Bedingungen und auf engstem Raum leben. Palästinensische Flüchtlinge haben weder soziale noch Bürgerrechte, dürfen keine libanesischen Schulen besuchen, haben keine Pässe. mehr als 70 Berufe dürfen sie nicht ausüben. Die Arbeitslosigkeit und Armut ist extrem hoch. Im September 1982 wurden Hunderte Palästinenser in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila, im Südwesten Beiruts von Christlichen Milizen ermordet, während die israelischen Truppen, die damals Beirut besetzt hatten, zusahen.

** Aus: junge Welt, 24. Mai 2007




Zurück zur Libanon-Seite

Zur Palästina-Seite

Zurück zur Homepage