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Die Unabhängigen im Chouf-Gebirge

Seit 1000 Jahren bewahren die Drusen in Libanon ihre Autonomie

Von Karin Leukefeld, Beirut *

Wo Israel, Libanon und Syrien aneinander stoßen, liegt das Siedlungsgebiet der Drusen. Entstanden vor 1000 Jahren in Ägypten als islamische Sekte, mischen sie heute vor allem in Libanon kräftig in der Politik mit.

Es war im Sommer 1974, vor dem Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges, als in dem kleinen Ort Kfarhim in den Chouf-Bergen südöstlich von Beirut einige Jungen Fußball spielten. Plötzlich verschwand der Ball in der Öffnung einer Felswand. Als die Jungen hineinkrochen, um den Ball wieder herauszuholen, stellten sie fest, dass er tief in den Berg gerollt und nicht mehr zu sehen war. Auf der Suche stießen sie schließlich auf eine Grotte mit weit verzweigten Gängen voller Wasser, Quellen und unterirdischen Wasserläufen.

»Besuchen Sie uns, haben Sie keine Angst«

Heute ist die Kfarhim-Grotte mit 4000 Quadratmeter Ausdehnung eine Touristenattraktion im Herzen des libanesischen Drusengebietes. Wael Bou Khouzam hatte das Glück, als Sohn des Mannes geboren worden zu sein, dem das Land gehört, auf dem der Ball verloren ging. Heute ist Wael mit Vater und Bruder Besitzer der Grotte und führt täglich Touristen aus aller Welt durch die zauberhafte, unterirdische Welt.

»Mit ein bisschen Phantasie sehen Sie in dieser Formation einen Löwen«, sagt Wael Bou Khouzam und zeigt auf eine Kalksteinform. Seit vier Millionen Jahren tropft das Wasser in der Höhle und hat wundersame Figuren gebildet. »200 Jahre dauert es, bis so ein Tropfstein einen Zentimeter gewachsen ist«, erklärt Bou Khouzam. Schöne Dinge dauern eben länger.

Im Zentrum von Kfarhim herrscht an diesem Tag Ausnahmezustand. »Sie können hier nicht durchfahren«, sagt ein junger Mann in schwarzer Tracht und weißer Kopfbedeckung, der gemeinsam mit Soldaten der libanesischen Armee im Zentrum des Ortes den Verkehr kontrolliert. »Eine Ausnahme gibt es nicht, bitte fahren Sie weiter.« Während er mit Amer, dem Fahrer, diskutiert, biegt hinter ihm ein Auto nach dem anderen in eben jene Straße ein, die eigentlich gesperrt sein soll.

Die Fahrzeuge sind besetzt mit älteren Männern und Frauen in schwarzer Kleidung. Die Männer tragen einen weißen, oben abgestumpften, kegelförmigen Hut, die Frauen sind in ein langes weißes Kopftuch gehüllt, die traditionelle Drusentracht. »Scheich nennt man die Männer, Scheicha die Frauen« erklärt Amer. Die Bezeichnung gelte für religiöse Drusen, zu denen er, der auch Druse ist, sich nicht zählt. Auf die Frage, warum die einen die Straße benutzen dürften, andere aber nicht, entschuldigt sich der junge Mann, der sich zwischenzeitlich als Mahmud Ghanab vorgestellt hat, in fließendem Englisch. Sein Großvater, ein bekannter Scheich, sei 84-jährig gestorben, und nur Trauergäste dürften die Straße passieren.

In Beirut, wo Ghanab in einem Hotel arbeitet, trage er die Tracht nicht. Dort sei es wichtiger, sich dem modernen Leben anzupassen und erst einmal Libanese zu sein. In Zukunft wolle er in Kfarhim leben, ein Restaurant eröffnen und heiraten, meint Ghanab. »Kommen Sie und besuchen Sie uns«, verabschiedet er sich lächelnd. »Niemand braucht Angst in Libanon zu haben, wir sind friedliche Leute.«

Das Drusengebiet in den Chouf-Bergen erstreckt sich bis zur syrischen Grenze. Es ist Erntezeit. Äpfel, Feigen und Granatäpfel hängen schwer von den Bäumen, das Laub leuchtet in prachtvollen Farben. In Serpentinen schlängeln sich Straßen an dicht bewachsenen Hängen entlang. Rund 200 000 Drusen sollen in Libanon leben. Da die letzte Volkszählung 1932 stattfand, sei die Zahl nur eine Schätzung, sagt der Ökonomieprofessor Akram Himadeh aus Baaklin. Viele Drusen seien im Bürgerkrieg (1975-90) geflohen und später wegen der schlechten Wirtschaftslage ausgewandert.

Auch Himadeh war lange im Ausland, heute ist er Präsident im Kuratorium der Nationalen Oberschule im Chouf. Im 19. Jahrhundert beherbergten die Gebäude eine Missions- und Krankenstation der Anglikaner, die aber nach Jahrzehnten erfolgloser Missionsarbeit unter den Drusen nach Jerusalem gingen. 1957 kaufte Himadehs Großvater das Gebäude von den Anglikanern, heute werden dort rund 1500 Schüler und Schülerinnen vom Vorschulalter bis zum Abitur unterrichtet. Neben dem englischen gibt es einen französischen Zweig, der dem Bildungsministerium in Paris untersteht und den Absolventen direkten Zugang zu französischen Schulen und Hochschulen ermöglicht. Ihre Familien dürfen sie gleich mitnehmen.

95 Prozent der Schüler sind Drusen, erläutert Himadeh, doch auch andere muslimische und christliche Familien schickten ihre Kinder. »Neulich brachte ein Lehrer aus Beirut seine zwei Söhne zu uns, weil es in deren Schule Streit zwischen Sunniten, Schiiten und Christen gab«, erzählt Himadeh. Die jüngere Geschichte Libanons, vor allem der Bürgerkrieg, werde an den Schulen nicht gelehrt, da man sich nicht auf eine gemeinsame Geschichtsschreibung habe einigen können.

Über die Religion der Drusen möchte er nicht sprechen und verweist auf drusische Gelehrte, die man im Dorf Mukhtara finde. In dem in den Bergen versteckt liegenden Ort residiert Drusenführer Walid Dschumblatt. In seinem Palast geben religiöse Scheichs Auskunft über Herkunft und Entwicklung ihrer islamischen Glaubensgemeinschaft, die in keine religiöse Schublade passt.

Die Lehre stammt von den Fatimiden, einem Zweig der schiitischen Muslime, ab und entstand Anfang des 11. Jahrhunderts in Ägypten. Im Laufe der Zeit wurden Elemente der griechischen Philosophie, von Christentum und Hinduismus integriert. Weil Anhänger der neuen Lehre in Ägypten verfolgt wurden, wichen sie nach Libanon, Syrien und Palästina aus.

Bemerkenswert für eine islamische Sekte ist ihr Glaube an die Wiedergeburt. Sollte jemand eines gewaltsamen Todes gestorben sein – durch Kampf oder Unfall –, so soll er sich nach der Wiedergeburt sogar an seine Eltern erinnern können, berichtet ein Mann. Ehen werden unspektakulär im Standesamt geschlossen, Gottesdienste finden dort statt, wo ein Drusengelehrter dazu einlädt. Im Juli fand in Libanon der erste Weltkongress der Drusen statt. 840 Delegierte aus 37 Staaten sollen daran teilgenommen haben.

Dschumblatt – für jede Überraschung gut

Politisch sind die Drusen in Libanon gespalten. Die Libanesische Demokratische Partei (Talal Arslan), die Libanesische Einheitsbewegung (Wiam Wahab) und die Libanesische Bewegung für den Arabischen Kampf (Faysal Dawood) zählen zur Oppositionsfront »8. März« um die schiitische Hisbollah und sind mit vier Abgeordneten im Parlament vertreten.

Erbitterter Gegenspieler der Hisbollah war bis vor kurzem dagegen Dschumblatt, dessen Sozialistische Fortschrittspartei (PSP) elf Abgeordnete hat. Mit seinem Zickzackkurs sorgt Dschumblatt in der libanesischen Politik immer wieder für Überraschungen. Nach Kämpfen zwischen Hisbollah und Drusen der PSP im Mai 2008 erklärte Dschumblatt sich inzwischen zur Zusammenarbeit mit der Opposition bereit. Er versöhnte sich auch mit Syrien.

»Dschumblatt will neutral bleiben und einen politischen Mittelweg gehen«, meint Prof. Himadeh über den schillernden Politiker. Politische Beobachter in Beirut, die anonym bleiben möchten, vermuten, dass der Meinungswandel seiner militärischen Schwäche geschuldet sei. Die blutige Auseinandersetzung mit der Hisbollah 2008 habe Dschumblatt zum Umdenken bewogen. Nicht weil er plötzlich ein Freund der Hisbollah geworden sei, sondern einzig, »um die Drusen und sein Einflussgebiet in den Chouf-Bergen zu sichern«.

* Aus: Neues Deutschland, 23. November 2010


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