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Flucht ohne Perspektive

Palästinensische Flüchtlinge in Libanon stranden als Opfer von Kämpfen in Beddawi

Von Karin Leukefeld, Beirut *

Die palästinensische Flüchtlingssiedlung Nahr al-Bared im Norden Liba-nons ist seit Wochen von Kämpfen zwischen libanesischer Armee und Islamisten gezeichnet. 30 000 der ursprünglich dort lebenden rund 31 000 Palästinenser sind nach Beginn der Kämpfe nach Beddawi geflohen.

»Es war zehn Uhr nachts, als Tausende Menschen in das palästinensische Flüchtlingslager Beddawi im Nordlibanon kamen!« Die Libanesin Hoda Samra Souaiby ist Sprecherin des UN-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge, UNRWA, in Beirut. So etwas wie die Flucht der Palästinenser aus dem Flüchtlingslager Nahr al-Bared hat sie noch nicht erlebt. »15 000 Einwohner sind in Beddawi registriert, über Nacht hat sich die Einwohnerzahl verdreifacht.« Vom ersten Tag an habe man geholfen, sagt Edward Katura vom Hilfswerk für die Flüchtlinge der PLO-Vertretung in Beirut. »Freiwillige haben Unterricht für die Schüler organisiert, weil das Schuljahr noch nicht zu Ende war, das ist das ABC unserer Arbeit.«

Die Massenflucht wurde ausgelöst durch den Beschuss des Lagers am 20. Mai. »Ich dachte erst, Israel habe wieder angegriffen«, erinnert sich der Lehrer Rami Hamdan an den Morgen. Doch der Angriff kam von der libanesischen Armee und richtete sich gegen die Islamistengruppe Fatah al-Islam, die seit Ende 2006 in Nahr al-Bared eine Basis aufgebaut hatte. Die Männer der Fatah al-Islam stammen aus Saudi-Arabien, Jemen, Irak, Afghanistan. Palästinenser aus Jordanien und Libanon, Libanesen, allesamt Vertreter eines dogmatischen sunnitischen Islam, so genannte Salafisten, die zuvor in Irak gekämpft hatten. Es kam zum Streit innerhalb und außerhalb des Lagers. Der Mord an vier libanesischen Soldaten, denen am Kontrollpunkt vor dem Lager die Kehle durchgeschnitten worden war, brachte das Fass zum Überlaufen. Die libanesische Armee bombardierte das Lager und erhielt breite Unterstützung. Die palästinensischen Organisationen hätten Verhandlungen vorgezogen, doch alle Versuche schlugen fehl. »Die Armee und wir sind Opfer«, sagt Abu Suhaib, der die Hamas in Nahr al-Bared vertritt. »Wir sind geflohen, weil wir nicht gegen die Armee kämpfen wollen. Aber diese Sache ist traurig, für die Armee und für uns.«

Palästinenser ohne politisches Mandat bringen offen ihren Zorn über die Zerstörung ihres Lagers zum Ausdruck. Man werde ständig von Armee und Polizei kontrolliert, ausgefragt und oft stundenlang festgehalten, erzählt Ahmed Abdulal. In Nahr al-Bared hatte er ein kleines Transportunternehmen für Baustoffe, seit zwei Monaten ist er ohne Arbeit und weiß nicht, wie er seine zehnköpfige Familie ernähren soll. Die Beziehungen zwischen Libanesen und Palästinensern sind angespannt, sagt Rami Hamdan. »Besonders diejenigen, die Angehörige bei der libanesischen Armee verloren haben, denken schlecht über die Palästinenser. Und die Palästinenser, die Tote zu beklagen haben, machen die libanesische Armee verantwortlich, der Stress nimmt zu.«

400 000 palästinensische Flüchtlinge leben in Libanon, die Hälfte in zwölf Flüchtlingslagern bei Tripoli, in der Bekaa-Ebene, in Beirut, bei Sidon und bei Tyros. Abu Suhaib hat seine Kindheit im Lager Karantina in Beirut verbracht, das 1976 von christlichen Milizen zerstört wurde. Danach ging seine Familie ins Lager Ain al-Hilwa bei Sidon, dann nach Nahr al-Bared und nun nach Beddawi. Moscheen, Gemeindezentren, Kindergärten, Schulen in Beddawi sind überfüllt. Privatsphäre gibt es nicht, bis zu 50 Menschen leben und schlafen in einem Raum, die Menschen werden aggressiv, depressiv, Streit bricht aus um Essen und Kleidung, berichtet Fadi Tayyar, der als Freiwilliger für die UNRWA arbeitet.

Saudi-Arabien hat 12 Millionen US-Dollar zur Verfügung gestellt, die mit Hilfe der UNRWA an die libanesischen und palästinensischen Flüchtlingsfamilien aus Nahr al-Bared und an die Gastfamilien in Beddawi verteilt wurden. Doch die umgerechnet rund 1100 Euro helfen nicht über den Verlust persönlichen Eigentums hinweg. »Mein Schmuck, meine Ohrringe, meine Armreifen! Alles ist im Lager geblieben«, weint Meriyem Amer Said. Ihre Augen sind gerötet, die Tränen laufen ihr über das Gesicht. 16 Erwachsene leben in dem Klassenzimmer der Al Nazareth Schule in Beddawi. An einer Wäscheleine hängen Handtücher, Strümpfe, Unterwäsche. An Tür und Fenster haften Aufkleber in Schwarz-Rot-Gold, den deutschen Nationalfahnen. Darüber ein Schriftzug: Auswärtiges Amt, Deutsche Humanitäre Hilfe. 750 000 Euro hat die Bundesregierung bisher zur Verfügung gestellt, knapp 13 Millionen Dollar werden gebraucht, heißt es bei der UNRWA. Niemand weiß, ob, und wenn ja, wie und wann das Lager Nahr al-Bared wieder aufgebaut werden wird. »Die palästinensische Führung hat sich um uns nicht gekümmert«, kritisiert Rami Hamdan, der junge Lehrer. Europa, die arabischen Staaten, die internationale Gemeinschaft hätten eine Lösung für die palästinensischen Flüchtlinge finden müssen, dann wäre das Problem mit Fatah al-Islam gar nicht entstanden, ist er überzeugt. »Wir haben unsere Heimat verloren und jetzt verlieren wir wieder, das ist nicht fair!«

* Aus: Newues Deutschland, 30. Juli 2007


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