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"Alle Araber sind gegen Israel"

Über alle Konfessionen hinweg genießt der Kampf der Hisbollah in Libanon große Zustimmung – ungeachtet der desaströsen Folgen für die Zivilbevölkerung und die Infrastruktur

Von Alfred Hackensberger, Beirut *

Israel hat seine Kriegsziele in Libanon offensichtlich noch nicht erreicht: ein Ende der Bombardements ist nicht in Sicht. Der Hisbollah-Chef Nasrallah ist hingegen zum neuen Helden der arabischen Welt avanciert – auch im von Krieg schwer getroffenen Libanon.

Am Swimmingpool des Beiruter Mövenpick Hotels geht alles seinen normalen Gang. Die Gäste der Luxusherberge schwimmen im sauberen Süßwasserbecken oder liegen gemütlich in den Liegestühlen, mit einem Drink in der Hand. Im nahe gelegenen Meer will niemand baden. Mit jedem Schlag spülen die Wellen literweise dickes Öl an den Strand. Vom Balkon im achten Stock des Hotels sieht man in der Ferne dunklen Rauch aufsteigen, der sich in langen Schwaden über Beirut zieht. Etwa 25 Kilometer entfernt brennen die Öltanks des Elektrizitätswerkes in Jyeh, das die israelische Luftwaffe bereits in den Anfangstagen des Kriegs bombardierte. 10 000 Tonnen Öl sind mittlerweile ins Mittelmeer geflossen, die verbliebenen 15 000 Tonnen werden weiter auslaufen, wenn es in absehbarer Zeit keinen Waffenstillstand gibt. Es ist die bisher größte ökologische Katastrophe des Libanon.

Schießen auf alles Bewegliche

In Beirut war es in den letzten Tagen ruhig geblieben. Israelische Bomben wurden auf den Südlibanon abgeworfen, wo sich die direkten Kämpfe mit Hisbollah konzentrieren, sowie auf den Nordlibanon, in dem Nachschubbasen und Stellungen der libanesischen »Widerstandsgruppe« vermutet werden. Daneben schossen die israelischen Kampfflieger auf alle »verdächtigen«, beweglichen Ziele auf den Straßen des Landes: Motorradfahrer, Pkws, Kleinlaster mit Gemüse oder Obst, aber auch medizinische und humanitäre Hilfskonvois, ja sogar Rettungswagen des Roten Kreuzes. Zwei deutsche TV-Journalisten wurden verwundetet, als sie einem Konvoi in den Süden folgten. Bisher kamen seit Kriegsbeginn etwa 600 Zivilisten ums Leben, 1600 Menschen wurden verletzt.

Immer mehr häufen sich die Vorwürfe, Israel setze verbotene Waffen ein. »Human Rights Watch« hatte letzte Woche bereits die Anwendung von Splitterbomben bestätigt, nun klagen libanesische Ärzte über Phosphoropfer und ungeklärte Todesursachen. »Ich habe hier eine ganze Familie«, sagte Jawad Najem, Chirurg im Najem Hospital der Hafenstadt Tyre, »die von einer Rakete in ihrem Auto getroffen wurde«. »Alle Familienmitglieder mussten wegen Phosphorverbrennungen behandelt werden«. In Sidon liegen seit dem 17. Juli sechs Leichen im Kühlhaus, von denen der Chefarzt des zuständigen Krankenhauses nicht weiß, wie sie gestorben sind. »Sie weisen keinerlei innere und äußere Verletzungen auf«, sagte Professor Bachir Cham. »Sie sind alle schwarz, aber nicht verbrannt, alle Haare sind intakt«. Er vermutet eine »chemische Substanz, die durch die Haut irgendwie eingedrungen ist«.

In der Stadt Sidon, die etwa 35 Kilometer südlich von Beirut liegt und die Grenze zum Süden markiert, kommen täglich tausende Flüchtlinge an. Die Flüchtlingslager Sidons sind überfüllt. Menschen schlafen mit ihrem wenigen Hab und Gut in Parks und selbst auf kleinen Grünflächen. Der Verkehr versinkt im Chaos, alle Umgehungsstraßen sind gesperrt, nachdem sämtliche Brücken und Zufahrtswege von der israelischen Armee zerstört worden sind. Riesige Löcher klaffen in Autobahnen, Stahlträger sind in Stücke gerissen, Brücken in sich zusammengesackt, nur noch nutzlose Betonhaufen. Früher brauchte man keine halbe Stunde nach Beirut, heute sind es gut zwei Stunden über kleine Bergstraßen.

Die Bevölkerung trotzt den widrigen Kriegszeiten mit Solidarität. Jeder an der Straße wird mitgenommen, Neuigkeiten über geänderte Fahrtrouten oder Bombardierungen werden sofort weitergegeben. In Beirut haben sich unzählige private Hilfszentren gebildet, die Kleider, Matratzen, Decken und auch Lebensmittel für Flüchtlinge sammeln. »Man muss einfach helfen«, sagt Angela Mekkaoui, eine Deutsche, die seit vielen Jahren in Beirut lebt und in der evangelischen Gemeinde als Freiwillige hilft. Dort, in der Kirchengemeinde, sowie im Goethe Institut, wurden kurzfristig rund 150 Flüchtlinge aufgenommen. Ein großer Teil konnte mithilfe der Deutschen Botschaft nach Zypern oder Damaskus ausreisen. Wer keinen deutschen Pass oder eine gültige Aufenthaltsgenehmigung hatte, wurde in eines der vielen libanesischen Auffanglager gebracht. Rund 800 000 Menschen sind nach Schätzungen der UNO bisher insgesamt geflüchtet. »Davon sind nur 120 000 offiziell registriert«, sagte die libanesische Sozialministerin Nayla Moauwad, »und in Hilfszentren und Schulen im ganzen Libanon untergebracht«. 70 000 Flüchtlinge sollen alleine in Beirut sein.

In Gemayze, Achrafiehe oder auch in Hamra haben Bars und Restaurants geöffnet. Wenn der Strom ausfällt, trinken die Menschen abends bei Kerzenlicht ihr Bier. Nach dem 15-jährigen Bürgerkrieg ist man an den Krieg gewöhnt, aber diesmal ist es doch etwas anderes. »Jetzt geht es bis zum bitteren Ende«, meint die libanesische Autorin Iman Humaian Junis. »Weder Israel, noch Hisbollah werden aufgeben«. Um ein wenig Abstand zu gewinnen, zieht sich die Autorin, wie viele andere Beiruter auch, für mehrere Tage in ihr Haus in den Bergen zurück. »Da kann man wenigstens frische Luft schnappen und etwas abschalten«. Nach den bombenfreien Tagen der letzten Woche werden jeden Moment neue Angriffe auf Beirut erwartet. »Was werden sie als Nächstes bombardieren?«, fragen sich die Menschen. »Das prunkvolle Stadtzentrum ›Solidere‹, erneut den Beiruter Hafen oder doch eines der bisher ausgesparten christlichen Viertel im Norden der Stadt?« Jede Nacht hört man das Summen der israelischen Aufklärungsdrohnen am dunklen Himmel über Beirut, die Runde um Runde drehen und nichts Gutes bedeuten. »Bis zur nächsten Bombe ist es nicht weit«, sagt ein schiitischer Taxifahrer in seinem klapprigen uralten Mercedes, von denen in Beirut so viele herumfahren. »Aber Hisbollah wird in jedem Fall zurückschlagen«, fügt er lachend hinzu. Wie er, denkt angeblich die Mehrheit der libanesischen Bevölkerung. Nach neuesten Meinungsumfragen, die zuerst die Tageszeitung »Al-Safir«, danach auch der englischsprachige »Daily Star« publizierte, unterstützt der überwiegende Teil der Menschen den Kampf der Hisbollah (87 Prozent der Schiiten, 80 Prozent der Christen, 89 Prozent der Sunniten, 80 Prozent der Drusen). Selbst die Entführung der beiden israelischen Soldaten fand eine mehrheitliche Zustimmung. Umfrageergebnisse, die bei Hassan Daoud auf Unverständis treffen. »Ich kann das gar nicht glauben«, sagt der libanesische Journalist. »Nach all der Zerstörung, die die Hisbollah provozierte«. Nachdenklich schüttelt er den Kopf.

Arabischer Held Nasrallah

Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, ist durch den Krieg zum Held geworden. In allen arabischen Großstädten von Teheran über Kairo bis Tunis sind tausende von Menschen mit seinem Foto und Hisbollah-Flaggen in der Hand auf die Straße gegangen. »Er weckt Gefühle, wie einst der ägyptische Präsident Abdel Nasser«, meint Hassan Daoud. »Nasrallah ist Balsam für die von Israel gedemütigte arabische Volksseele«. Mit seinem Fernsehauftritt am Sonnabend arbeitete Nasrallah weiter an seinem Heldenstatus. Es sei ein »historischer Moment« für Libanon, »in dem wir unser Land, unsere Gefangenen (in Israel) und unseren Himmel von ihren (Grenz-)Verletzungen (durch Aufklärungsflüge) befreien«.

Tatsächlich scheint der »Gegner Israel« der kleinste gemeinsame Nenner zu sein, der sogar die ansonsten eher verfeindeten Schiiten und Sunniten verbündet. »Alle Araber sind gegen Israel«, sagt mein schiitischer Taxifahrer, bevor er eine ältere Frau mitnimmt, die am Straßenrand winkte. Sie kommt aus Hart Hreik, dem schiitischen Stadtteil Beiruts, den die israelische Luftwaffe völlig ausbombte. Sie erzählt, dass sie ihren Mann und ihre Tochter verloren hat und selbst nur mit Glück überlebte. Als sie aussteigt, weist der Taxifahrer ihr Geld zurück. »Sie besitzt doch nur, was sie am Leib trägt«, sagt er zu mir. Nachdem er auch mich ans Ziel gebracht hat, ruft er mir durch das offene Fenster nach: »Sie werden sehen, bald kommen die Raketen auf Tel Aviv, so Gott will«, und zeigt mit dem Finger nach oben, bevor er Gas gibt.

* Aus: Neues Deutschland, 31. Juli 2006


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