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Die Hizbullah

Miliz, politische Partei und Dachorganisation für Wohlfahrtseinrichtungen

Von Lara Deeb *

Ausschlaggebend für die Gründung von Hizbullah 1979 war die iranische Revolution und der Einmarsch Israels 1982 in den Libanon. Gescheitert waren die Nationalisten, aber auch die radikalen Linken, deshalb konnten nun die Islamisten ihr Terrain übernehmen: Den Kampf gegen die westliche Vorherrschaft und gegen die, mit dem Westen verbündeten arabischen Regime. Da Hizbullah einen konsequenten Kampf gegen die israelische Besatzung führte, also gegen den Verbündeten der USA, bekam sie gleich das Etikett Satellit des Iran bzw. Syriens aufgedrückt. Hizbullah ist auf der Liste der terroristischen Organisationen des US-Außenministeriums gelistet. Im nachstehenden Beitrag zeichnet die Kulturethnologin Lara Deeb ein differenziertes Bild der Situation, indem sie auf die Zusammensetzung der Anhängerschaft der Hizbullah eingeht und die Vielschichtigkeit der Beziehungen der Hizbullah zu ihrer Klientel nachverfolgt.

In den Vereinigten Staaten wird die Hizbullah vor allem im Zusammenhang mit den Anschlägen auf die US-Botschaft in Beirut 1983, auf die Kaserne der US-Marines und auf das Hauptquartier der französisch geführten multinationalen Friedenstruppen gesehen. Der Anschlag auf die Marines führte seinerzeit zum unmittelbaren Abzug der Amerikaner aus dem Libanon. Die Hizbullah wird vom US-Außenministerium mit Entführungen in Zusammenhang gebracht sowie mit der Geiselnahme, die zur Iran-Contra-Affaire und zur Entführung eines TWA-Flugzeugs im Jahre 1985 führte. Es sind diese Annahmen, die dazu führen, dass sich die Hizbullah auf der Liste der terroristischen Organisationen des US-Außenministeriums wieder findet.

Im Jahre 2002 bezeichnete der damalige Außenminister Richard Armitage die Hizbullah als ein «A-Team von Terroristen» mit einer weltweiten Agenda. Im Nachsatz meinte Armitage, dass «vielleicht die al-Qaeda das B-Team» sei. Allerdings bleibt Hizbullahs tatsächliche Verwicklung in die genannten Anschläge und Entführungen umstritten. Selbst wenn sie es wären, wäre die Bezeichnung «Terroristen» unklug. Die Organisation als terroristisch zu bezeichnen ist allein schon wegen der Schwammigkeit des Begriffs problematisch, denn er ist zum Sammelbegriff für alles geworden, was die USA und ihre Verbündeten brauchen um ihre Gewalt und ihren Kampf zu rechtfertigen. Weil der Begriff nur auf nicht-staatliche Akteure angewendet wird, bleibt der Terror seitens Israels oder seitens der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ungenannt. Die militärischen Aktionen der Hizbullah waren allesamt dem Ziel untergeordnet, die israelische Besetzung des Südlibanon zu beenden.

1985 hatte sich Israel fast ganz aus dem Libanon zurückgezogen. Besetzt von Israel und seiner Stellvertretermiliz, der Südlibanesischen Armee SLA, blieb allein der südliche Libanon, etwa zehn Prozent des Landes. Die wichtigste Widerstandsgruppe war seinerzeit, wie gesagt, die Hizbullah. Die Besetzung des Südlibanon erwies sich im Laufe der Jahre als sehr kostspielig für Israel. Premierminister Ehud Barak machte sein Wahlkampfversprechen war, als er schließlich im Jahre 2000 den Rückzug der israelischen Armee anordnete. Viele sagten damals voraus, dass Rechtlosigkeit, religiös motivierte Gewalt und Chaos ausbrechen und das Vakuum füllen würden, das die israelischen Besatzungstruppen und die schnell zerfallende SLA hinterließen. Die Voraussagen erwiesen sich alle als falsch, denn die Hizbullah sorgte für Ordnung in der Grenzregion.



In ihrem Kampf gegen die Besetzung des Südlibanons haben sie im Großen und Ganzen innerhalb eines feinen, gegenseitig, d. h. sowohl von israelischer als auch von der Seite Hizbullahs, akzeptierten und beachteten Regelwerks, sogenannte «low-level» Grenzkonflikte mit Israel ausgetragen, die zivile Opfer vermieden haben. Daneben ist zu beachten, dass die Hizbullah eine Organisation ist, die sich gewandelt hat und stark gewachsen ist seit sie sich in der Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von einer Miliz, deren Ziel es war, Widerstand gegen die israelische Besetzung des Libanon zu leisten, zu einer facettenreichen Organisation, die sowohl eine legitime libanesische politische Partei ist als auch eine Dachorganisation für eine Vielzahl von Wohlfahrtseinrichtungen.

Ein weiterer Grund dafür, dass die USA die Hizbullah auf der Liste der terroristischen Organisationen führen, ist der Ruf der Organisation, zahlreiche Selbstmordanschläge und Martyrer-Operationen durchgeführt zu haben. Tatsächlich sind unter den hunderten von militärischen Operationen, die die Hizbullah während der israelischen Invasion und anschließenden Besetzung des Libanon durchgeführt haben, nur zwölf, bei denen der Tod des betreffenden Hizbullah-Kämpfers bewußt in Kauf genommen wurde. Etwa die Hälfte der Selbstmordanschläge, die insgesamt gegen die israelischen Besatzungstruppen durchgeführt wurden, waren von säkularen und linken Gruppen verantwortet.

Die Beharrlichkeit, mit der die US-Amerikaner die Hizbullah als terroristische Organisation bezeichnen, beruht auch darauf, dass die raison d'etre der Hizbullah die Zerstörung Israels ist. Jedoch lässt sich die Machbarkeit dieses Plans in Frage stellen, besonders angesichts der großen Asymmetrie was die militiärische Macht beider Seiten, der Hizbullah und Israels, angeht. Einen Hinweis auf diese Asymmetrie ist das Verhältnis von 30:1 zivilen libanesischen zu israelischen Toten im Juli-Krieg des Jahres 2006. Darüber hinaus gibt es Grund die Absichten der Hizbullah zu hinterfragen, denn sogar vor Mai 2000, fanden so gut wie alle militärischen Hizbullah-Aktionen innerhalb des besetzten Libanons statt. Die Gründungserklärung der Hizbullah -- geschrieben zu einer Zeit, als die israelische Invasion in den Libanon gerade zur Gründung der Hizbullah als Miliz beigetragen hatte -- beinhaltet den Satz: «erkennen keinen Vertrag [mit Israel], keinen Waffenstillstand und keine Friedensregelungen, weder getrennt noch übereinstimmend, an.» Aber, wie Augustus Richard Norton, ein führender US-amerikanischer Libanon-Experte, bemerkt «Während man Hizbullahs Feindschaft gegenüber Israel nicht von der Hand weisen kann, muss doch festgehalten werden , dass die Hizbullah seit Jahren sehr vorsichtig mit Israel verhandelt.» Die indirekten Verhandlungen der Hizbullah mit Israel in den Jahren 1996 und 2004 und ihre ausdrückliche Bereitschaft, einen Gefangenenaustausch zu arrangieren, zeigen alle den Realismus auf Seiten der Hizbullah und auf Seiten ihrer Führung an. Dieser Realismus zeigt sich auch, betrachtet man die Entwicklung der Hizbullah hin zu einer legitimen libanesischen politischen Partei.

Wohlfahrts- und Sozialplattform der Partei

Eines der Elemente, das Hizbullah von anderen libanesischen Gruppen unterscheidet, ist die professionelle Ebene der Organisation, die innerhalb der Partei und in ihren Institutionen besteht. Sie ist ohne Zweifel diejenige politische Partei im Libanon, die am Besten auf die Bedürfnisse und Erwartungen ihrer Wählerschaft in politischer und ökonomischer Hinsicht eingeht. Unter den Konsequenzen des libanesischen Bürgerkriegs waren ökonomische Stagnation, Korruption von Regierungsstellen und ein immer breiter werdender Spalt zwischen der zunehmend schrumpfenden Mittelklasse und den beständig anwachsenden Reihen der Armen. Die schiitischen Gegenden Beiruts -- namentlich die dicht bevölkerten südlichen Vororte Beiruts [..] -- hatten zusätzlich mit hunderttausenden von Vertriebenen zu tun, die sich dort aus dem Süden oder aus dem Bekaa-Tal kommend, niederließen.

Um der Armut in dieser Gegend, aber auch im Süden und im Bekaa-Tal zu begegnen, entwickelte sich in den 70er und 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein soziales Netzwerk parallel zur politischen Mobilisierung der Schiiten. Die Hauptakteure waren Mussa Sadr [1], Aytollah Fadlallah und die Hizbullah. Heutzutage funktioniert die Hizbullah als Dachorganisation vieler sozialer Organisationen. Manche dieser Institutionen leisten monatliche Unterstützungen und ergänzende Nahrungs-, Bildungs-, Wohnungs- und Gesundheitshilfen für die Armen; andere helfen Waisen und wieder andere widmen sich dem Wiederaufbau von kriegsbedingten Zerstörungen. Es gibt Hizbullah-nahe Schulen, Krankenhäuser und Polikliniken; sogar eine Schule für Kinder mit Down Syndrom. Hizbullah ist nicht der einzige große Akteur im Wohlfahrtsbereich. Ein weiteres ausgedehntes Netzwerk ist mit Ayatollah Fadlallah verbunden. Desweiteren gibt es eine ganze Reihe von kleineren Wohlfahrtseinrichtungen, die von frommen schiitischen Frauen finanziert und geführt werden sowie Einrichtungen, die bestimmten Familien zugerechnet werden können und Wohlfahrtsleistungen für die erweiterte Familie organisieren.

Diese Wohlfahrtseinrichtungen gibt es im gesamten Libanon, gleichwohl konzentriert in den schiitischen Gegenden des Landes. Sie unterstützen die lokale Bevölkerung unabhängig von deren jeweiliger Religionszugehörigkeit. Sie arbeiten fast ausschließlich mit ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen, vornehmlich aber Frauen. Ihre Finanzierung kommt überwiegend von privaten Spenden, Spenden für Waise und religiösen Steuern. Praktizierende Schiiten zahlen eine jährliche Abgabe, den khums, die ein Fünftel desjenigen Einkommens ist, das sie nicht für den Lebensunterhalt ihrer Familien brauchen. Die Hälfte geht unmittelbar an den marja'at-taqlid [2], dem sie jeweils folgen zu dessen Verfügung. Seit 1995, seit Khamenei Nasrallah als religiösen Stellvertreter in Libanon ernannt hat, gehen die khums-Abgaben derjenigen libanesischen Schiiten, die Khamenei folgen direkt in die Kasse der Hizbullah. Menschen, die Ayatollah Fadlallah als marja' folgen, zahlen ihre Abgabe in ähnlicher Weise an dessen Institutionen bzw. an Institutionen, die dessen Erlaubnis haben, in seinem Namen Abgaben einzuholen. Viele dieser Abgaben kommen von libanesischen Schiiten, die im Ausland leben.

Es ist der Wohlfahrtsaspekt der Parteiaktivitäten, der bisweilen zu dem Vorwurf führt, Hizbullah sei ein Staat im Staate. Die Wohlfahrtseinrichtungen der Partei entsprechen den Beziehungen von Staat und Gesellschaft im Libanon. Sie füllen eine Lücke, die der Staat in den armen schiitischen Gegenden des Landes hinterlassen hat. Wenn der Staat seine Leistungen hochfährt, so hat sich Hizbullah bislang stets zurückgezogen. Als Sukleen, das private Unternehmen, dem der Staat die Müllbeseitigung übertragen hat, anfing seine Leistungen auch in den südlichen Vororten Beiruts durchzuführen, hat Hizbullah sofort aufgehört seine eigene Müllbeseitigung fortzuführen.

Zusätzlich zu ihren Sozialeinrichtungen, unterstützt Hizbullah die Verbreitung islamischer Werte durch Kultur- und Freizeiteinrichtungen in überwiegend schiitischen Gegenden Beiruts und des Libanons insgesamt. Diese kulturellen Einrichtungen umfassen Ausstellungen, die dem Andenken an die Martyrer des Widerstands gewidmet sind, über Restaurants, die keinen Alkohol anbieten, bis hin zu für Jungen und Mädchen getrennten Sommerlagern und Erholungseinrichtungen. Die Partei finanziert eine Tageszeitung sowie Radio und Fernsehstationen als Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Die Aktivitäten gehören zu den eher jungen Aktivitäten der Partei und in diesem Bereich ist die Hizbullah auch nur eine von vielen Akteuren, manche marktgesteuert, manche ideologiegesteuert. Bis heute sind die kulturellen Aktivitäten auf Bereiche beschränkt wo bereits eine schiitische Gemeinde und damit ein Bedarf an frommer Unterhaltung besteht.

Die Basis der Hizbullah setzt sich aus Menschen von ganz unterschiedlichen Klassen zusammen. Dieses unterstreicht die Tatsache, dass die Wohlfahrtseinrichtungen der Partei keineswegs »Schmiergelder« für die Wählerschaft sind (eine weit verbreitete Verdächtigung). De facto bestimmen weder die sozioökonomische Statur, noch die religiöse Herkunft, noch der Glauben die politische Zugehörigkeit in diesem Falle. Nicht alle schiitischen Muslime unterstützen die Hizbullah und nicht alle Anhänger der Hizbullah sind schiitische Muslime. Die Wählerschaft der Partei umfasst nicht nur die Armen, sondern zunehmend auch die Mittelklasse und die sozial mobilen, hoch ausgebildeten Libanesen.

Die Wähler- und Anhängerschaft

Hizbullahs Beliebtheit im Libanon hat viele Ursachen: der Widerstand, genauer der erfolgreiche Widerstand gegen die israelische Besetzung und die israelische Missachtung der Souveränität des Libanons; die islamische Ideologie, die politische Wahlplattform sowie ganz allgemein die Bilanz der politischen Aktivitäten. Ursache ist auch der sozio-ökonomische Ansatz der Hizbullah mit ihrem effizienten Netz an Wohlfahrtsleistungen und -einrichtungen. Ganz unterschiedliche Libanesen finden die Partei aus ganz unterschiedlichen Gründen anziehend. Es ist hier wie überall sonst auf der Welt: politische Parteinahmen sind keine einfachen Gleichungen.

Für einige stellt die Hizbullah eine ernsthafte Alternative zur US-unterstützten Regierung und ihres neoliberalen ökonomischen Projekts dar. Ganz allgemein wird die Hizbullah von vielen als aktive Opposition zum US-amerikanischen Neoliberalismus in der Region gesehen. Andere wiederum, vor allem die Drusen und die Christen im Süden, sehen in der Hizbullah die einzige Möglichkeit, ihre Dörfer und ihre Lebensgrundlage vor israelischen Angriffen zu schützen. Für manche ist die Chance, ihre Kinder auf Schulen zu schicken, die islamische Werte neben dem staatlichen libanesischen Curriculum unterrichten, oder, die Chance, nach Geschlecht getrennte Badestrände oder Restaurants, die keinen Alkohol ausschenken, besuchen zu können, anziehend. Schließlich gibt es diejenigen, die finanzielle Unterstützungen von Seiten der Hizbullah für den Wiederaufbau ihrer Lebensgrundlagen nach dem Bürgerkrieg erhielten. Alle diese Interessenslagen bestehen nebeneinander. Es gibt Menschen, welche die islamische Ausrichtung der Hizbullah ablehnen, diese aber in ihrem Widerstand gegen Israel unterstützen. Sogar viele, die glauben, dass die Gefangennahme eines israelischen Soldaten durch die Hizbullah am 12. Juli 2006 ein Fehler gewesen sei, unterstützen den Widerstand und sehen in Israel den Feind. Diese Positionen schließen sich nicht aus.

«Hizbullah-Anhänger» ist an sich eine schwammige Aussage. Es gibt die offiziellen Mitglieder der Partei; es gibt die Widerstandskämpfer; es gibt die Freiwilligen in den parteinahen Wohlfahrtseinrichtungen; es gibt die Empfänger von Sozialleistungen dieser Einrichtungen; es gibt diejenigen, die für die Partei in den letzten Wahlen gestimmt haben; es gibt diejenigen, die den Widerstand im aktuellen Konflikt unterstützen, nicht aber das gesamte Wahlprogramm. Im Grunde handelt es sich um eine ständig sich verändernde Wählerbasis. Wie in jeder Gesellschaft, verändern die Menschen ihre Gruppenloyalitäten. Diese Wandlungen sind äußerst komplexe Verhaltensmuster. In diesem Sinne ist es absurd, zu behaupten, die zivilen Opfer während des Juli-Krieges wären das Ergebnis einer Politik Hizbullahs gewesen, sich hinter Zivilisten zu verstecken.

Zieht man diese Komplexität des Verhältnisses der Hizbullah zu ihrer libanesischen Anhängerschaft in Betracht -- ein Verhältnis, welches den Widerstand als solchen, aber auch die politischen und sozialen Einflußbereiche umfasst -- so erscheint die Rhetorik Israels, dass der Angriff des Sommers 2006 das Ziel hatte, «Hizbullah» von der libanesischen Landkarte zu tilgen, gefährlich nahe an einer Rhetorik der Entvölkerung zu sein. Wer ist diese Hizbullah, die das israelische Militär so gerne besiegt hätte? Was, wenn ein Familienmitglied ein Parteimitglied ist, der Rest aber nicht. Was, wenn die Tochter einer Familie eine Schule besucht, die von der Hizbullah finanziert wird -- macht das die Familie zu einem legitimen Angriffsziel im israelischen Sinne? Oder Fatima, die während des Ramadan für die Armen in einer Hizbullah-Wohlfahrtseinrichtung kocht? Ist sie ein Ziel? Oder Wafaa Hoteit, offizieller Pressesprecher und Verbindungsperson zu den Medien? Was ist mit den demokratisch gewählten Hizbullah-Abgeordenten des Parlaments? Mohammad Fneish, der Energieminister?

Hizbullah Hochburgen sind Orte an denen Menschen leben und arbeiten. Die südlichen Vororte von Beirut sind de facto ein vibrierender Mikrokosmos, wo Menschen unterschiedliche politische Ansichten, religiöse Vorstellungen und Identitäten, sowie Lebensentwürfe haben. Herrschaftliche Gebäude stehen neben heruntergekommenen und Läden, die europäische Mode verkaufen, finden sich neben solchen, die islamische Moden anbieten. Durchsetzt ist dies alles mit Internetcafés, Lebensmittelständen, Friseursalons, Büros von Wohlfahrtseinrichtungen und kleinen Tante-Emma-Läden. Ein Gebäude in der damals vollständig zerstörten «Hizbullah Sicherheitszone» war das Presse- und Medienzentrum der Partei, welches Reportern und Wissenschaftlern Interviews vermittelte. Das Büro war im zweiten Stock eines Gebäudes, in dem neben Apartments, Läden waren, die von Gewürzen bis Spielwaren alles verkauften, sowie eine Bäckerei und ein Fruchtsaftladen -- alles wohl kaum ein «terroristisches Ziel».

Das absichtliche Zielen auf zivile Infrastruktur und Militärschläge gegen zivile Konvois und Wohnungen legen nahe, dass Israels Regierung in der Hizbullah weit mehr sieht als nur eine bewaffnete Miliz. Wie oben gezeigt wurde, ist die Hizbullah in der Tat jenseits ihrer Rolle als Widerstandsmiliz, eine politische Partei und eine soziale Trägereinrichtung. Hizbullah aus dem Libanon zu entfernen, hieße, die zivile Anhängerschaft zu entfernen. Spielt man den advocatus diaboli so könnte man sagen, dass die Vermischung von Hizbullah und dem zivilen Bereichen des Libanon Militärschläge Israels gegen zivile Einrichtungen rechtfertigt, weil das Wasser ebenso feindlich ist wie der Fisch der darin schwimmt. Das Problem wäre dann lediglich, dass Israel Politik, den Teich trocken zu legen um im Bild zu bleiben, im Prinzip einer ethnischen Säuberung gleichkommt.

Fazit

Eine historische und differenzierte Sicht zeigt eine Hizbullah im Libanon, die vielfältig an sich und in Bezug auf ihre Wählerschaft ist. Die Unterstützung ihrer Anhängerschaft hat sich -- trotz unterschiedlicher Ansichten in der libanesischen Öffentlichkeit zur Partei generell -- im Nachgang zum Krieg des Sommers 2006 gefestigt. Am 13. August 2006, dem Tag vor dem Beginn des Waffenstillstandes, hat Nasrallah eine im Fernsehen übertragene Rede gehalten, in der er das Ende der Gewalt ankündigt und fast ein Drittel seiner Sendezeit der Diskussion von Plänen zum Wideraufbau zerstörter Häuser und der Unterbringung der Vertriebenen widmet. Am nächsten Tag bereits führten Parteioffizielle eine Bestandsaufnahme der Zerstörungen durch, priorisierten Reparaturen, gaben Miet- und Schulbeihilfen aus und begannen tatsächlich mit dem Wiederaufbau. Dieser schnelle und vor allem unmittelbare Beginn hat der Partei viel Anerkennung und Sympathie gebracht.

Ein weitere Faktor, der zum Anwachsen der Popularität der Hizbullah nicht nur im Libanon sondern in der gesamten Region beitrug, war das Empfinden, der Juli-Krieg sei ein Sieg für Hizbullah gewesen; ein Sieg in dem Sinne, dass es ihnen gelungen sei, Israels Ziele in dem Konflikt zu konterkarieren. Während der Wiederaufbauprozess weitergeht vor dem Hintergrund anhaltender Demonstrationen, Attentaten und Anschlägen im Libanon, bleibt es abzuwarten, wie sich die politische Landkarte verändern wird. Eins allerdings ist klar: die Hizbullah und ihre Anhängerschaft werden auf absehbare Zeit wesentliche Faktoren in der libanesischen Politik bleiben.

* Lara Deeb, Kulturethnologin, ist Assistent Professor for Women's Studies an der Universität von Kalifornien in Irvine. Zuletzt von ihr erschienen ist die Studie: «An Enchanted Modern: Gender and Public Piety in Shi'i Lebanon.» Princeton University Press, 2006. Der vorliegende Beitrag ist eine von der Redaktion gekürzte und übersetzte Fassung ihres Beitrags «Hizbullah and its Civilian Constituencies in Lebanon.» In: Hovsepian, Nubar (Hrsg.): The War on Lebonon. A Reader. Arris Books, Gloucestershire, 422 Seiten, 2007, S. 58 -- 74.
Die Redaktion dankt der Autorin und dem Verlag für die Abdruckgenehmigung. Übersetzung und redaktionelle Überarbeitung: Christopher Hayes.


Anmerkungen

[1] Der religiöse Würdenträger Mussa Sadr gründete 1974 mit dem schiitischen Politiker und Abgeordneten Hussain al-Husaini die Bewegung der Benachteiligten (mahrumin), wahrscheinlich als Reaktion auf den Aufstieg der radikalen Linken, den auch das schiitische Bürgertum fürchtete. Gleichzeitig bauten sie eine Miliz auf, die unter dem Namen Amal (Hoffnung) bekannt ist. Red.

[2] Theologen, die dank ihrer Gelehrsamkeit und Beliebtheit beim Volk den Rang allgemein anerkannter religiöser Autoritäten erwerben und zu so genannten Quellen der Nachahmung (marja' at-taqlid) aufsteigen. Der Titel marja' ist ein Titel , der ab der Mitte des 20 Jahrhunderts synonym mit dem eines Groß-Ayatollahs verwendet wird. Sozusagen der Kundigste unter den Theologen. Red.


Dieser Beitrag erschien in: INAMO (Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten e.V.), Heft Nr. 53/Frühjahr 2008

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