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Waffenruhe im Libanon: Ruhe vor dem nächsten Sturm?

Von Margret Johannsen *

Im Folgenden dokumentieren wir eine aktuelle Analyse des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik Hamburg (IFSH) zum Nahost-Konflikt. Das Papier ist in der Reihe "Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik" im August 2006 erschienen und kann als pdf-Datei im Original hier herunter geladen werden: www.ifsh.de.



Seit 14. August 2006, 7:00 Uhr Ortszeit herrscht zwischen Israel und dem Libanon eine von den Vereinten Nationen vermittelte Waffenruhe. Während libanesische Truppen im Südlibanon zwischen dem Litani und der israelisch-libanesischen Grenze stationiert werden, zieht Israel parallel dazu Truppenteile aus dem Nachbarland ab. Internationale Truppen unter UNO-Mandat sollen die Einstellung der Feindseligkeiten überwachen und die libanesische Armee dabei unterstützen, die Autorität der libanesischen Regierung auf das gesamte libanesische Hoheitsgebiet auszuweiten. Vereinzelt wird die Waffenruhe gebrochen. Im Gazastreifen gehen die Operationen der israelischen Streitkräfte unvermindert weiter.

Die Waffenruhe im Libanon war aus humanitären Gründen zwingend erforderlich. Eine gute Nachricht wäre es, wenn dem Schweigen der Waffen das Bemühen folgte, an die Wurzeln des Nahost-Konflikts zu gehen. Eine schlechte Nachricht wäre es, wenn die Erleichterung über das Ende der Kampfhandlungen im Libanon dazu führte, dass die internationale Diplomatie sich auf die Verwaltung der Streitfragen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn beschränkt. Dieser Fehler ist schon in der Vergangenheit zu oft gemacht worden.

Der jüngste Gewalteruption an zwei Fronten ist ein Paradebeispiel für die Vielschichtigkeit des Nahost- Konflikts, der im Grunde genommen ein ganzes Bündel von Streitfragen darstellt, die alle direkt oder indirekt miteinander zusammenhängen und sich auf verschiedenen Schauplätzen an mitunter nichtigen Anlässen entzünden. Dieses Bündel lässt sich in seine einzelnen Bestandteile zerlegen. Das darf aber nicht zu dem Irrtum verleiten, dass die Elemente des Konfliktes getrennt voneinander und nacheinander bearbeitet werden könnten. Wenn die Geschichte des Nahost-Konflikts eines lehrt, dann dies: Es gibt keine Lösungen, ohne dem Zentrum der Streitfragen zu Leibe zu rücken, allen voran dem israelisch-palästinensischen Kernkonflikt im Nahen Osten. Sonst wird sich dessen immenses Gewaltpotenzial immer wieder Bahn brechen – mit fatalen Konsequenzen nicht nur für Sicherheit und Frieden in der gesamten Region, sondern auch für die Beziehungen zwischen dem Westen, seinen muslimischen Einwanderern und den islamisch geprägten Ländern. Wie die im August 2006 in England und Deutschland vereitelten Attentatspläne einmal wieder in Erinnerung riefen, ist es längst eine Welt.

Der israelisch-arabische Konflikt ist nicht der einzige in dieser Region. Aber die grenzüberschreitende Mobilisierungskraft insbesondere des Palästina-Konflikts macht ihn zum Energiespender für andere regionale Gewaltkonflikte. Er liefert den Stoff für Hassprediger weit über seine eigenen Schauplätze hinaus, weil sich in ihm die Ohnmachtserfahrungen von Generationen wie in einem Brennglas bündeln und die andauernde Besatzung palästinensischen Territoriums diese Erfahrungen unablässig aktualisiert. In seine Lösung endlich energisch und mit langem Atem zu investieren gebietet sich im eigenen Interesse Europas. Im Folgenden werden zunächst die bilateralen Streitfragen des Nahost-Konflikts beleuchtet. Dem folgt eine Auseinandersetzung mit den Defiziten im Konfliktmanagement, vor allem in den letzten sechs Jahren, in denen nicht verhandelt wurde. Abschließend werden die wesentlichen Elemente einer politischen Lösung zur Diskussion gestellt. Dabei wird auch die Rolle der internationalen Gemeinschaft, namentlich der USA und der EU, kritisch beleuchtet. Sie haben mehr oder weniger untätig zugesehen, wie sich nach fünf großen israelisch- arabischen Kriegen der sechste Krieg zusammenbraute. Ihr politisches Gewicht wird benötigt, damit es nicht zum siebten kommt.

Die Streitfragen

Israelisch-libanesische Streitfragen

Formell sind der Libanon und Israel Feindstaaten. Ihre Beziehungen sind seit Beendigung des ersten Nahost- Krieges durch den Waffenstillstand von 1949 geregelt. Danach dürfen beide Staaten im Grenzgebiet nur wenige Truppen mit leichter Bewaffnung stationieren. Die israelisch-libanesische Grenze ist die von 1923 zwischen dem französischen und dem britischen Mandatsgebiet, auf die sich die europäischen Kolonialstaaten verständigten, als sie nach dem Ersten Weltkrieg die Erbmasse des Osmanischen Reiches unter sich aufteilten. Nach dem ersten Nahost-Krieg, als 100.000 palästinensische Flüchtlinge im Libanon Zuflucht fanden, herrschte an dieser Grenze knapp zwei Jahrzehnte lang relative Ruhe.

Nach dem Sechstage-Krieg 1967 und der Vertreibung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) aus Jordanien in den Libanon war es damit vorbei. Die PLO begann Guerillakämpfer aus den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon zu rekrutieren, die vom Grenzgebiet aus Sabotageakte und blutige Anschläge in Israel verübten. Die israelische Seite reagierte mit Kommandounternehmen, gelegentlichen Bombardierungen und einer großangelegten Intervention, der „Operation Litani“ (1978). 1982 vertrieb die israelische Armee in der „Operation Frieden für Galiläa“ die PLO und hielt danach den Süden des Landes bis 2000 besetzt. Die libanesische Hisbollah (Partei Gottes) wuchs in dieser Zeit unter syrischer Patronage und mit überwiegend iranischen Waffen ausgerüstet zu einem neuen militärischen Gegner auf, der die Besatzungsmacht sowie die von ihr unterhaltene Südlibanesische Armee bekämpfte und auch den Norden Israels unsicher machte. Gleichzeitig wurde aus der Guerillaorganisation im Laufe der Jahre eine politische Partei, die sich mit einem gut funktionierenden sozialen Netz die Loyalität der unterprivilegierten schiitischen Bevölkerung des Südens sicherte, 1992 erstmals an Wahlen teilnahm und seit 2005 an der Regierung beteiligt ist.

Israel verlangt von der libanesischen Regierung, dafür Sorge zu tragen, dass vom Südlibanon aus nicht länger Angriffe auf Israel erfolgen. Es habe seine Truppen im Mai 2000 aus dem Libanon zurückgezogen und biete seither keinen Anlass mehr zu Angriffen auf sein Territorium. Die israelische Regierung sieht sich in ihrer Auffassung durch die UNO bestätigt, die festgestellt hat, dass Israel sich von libanesischem Territorium vollständig zurückgezogen und damit die Resolution 425 (1978) des UN-Sicherheitsrates, die Israel bereits anlässlich der „Operation Litani“ zum Abzug seiner Truppen aus dem Libanon aufforderte, erfüllt habe.

Der Libanon hält dagegen, dass Israel weiterhin libanesisches Territorium besetzt halte, weil es ein 25 Quadratkilometer großes Gebiet am Fuße des Berges Hermon im Golan nicht geräumt habe. Israel hatte diese so genannten Schebaa-Farmen 1967 bei der Eroberung der Golan-Höhen im Sechstage-Krieg ebenfalls besetzt und betrachtet sie als syrisches Territorium. Die libanesische Regierung wirft der UNO vor, falsche Karten benutzt zu haben; die UNO spricht von „Unklarheiten“. Syrien bestätigt die libanesische Auffassung, dass dieses Gebiet libanesisch sei, hat seinen Verzicht aber bisher nicht völkerrechtlich verbindlich erklärt. Die libanesische Regierung verlangt darüber hinaus von Israel, die seit 2000 andauernden vielfachen Verletzungen des libanesischen Luftraums durch israelische Kampfflugzeuge einzustellen und ihr eine Karte mit den Minenfeldern auszuhändigen, die Israel im Lande hinterlassen hat. Und schließlich fordert der Libanon die Freilassung aller libanesischen Gefangenen aus israelischer Haft.

Aus diesen ungelösten Streitfragen leitet die Hisbollah ihren Sonderstatus als Widerstandsorganisation des Libanon gegen Israel ab und nimmt weiterhin das Recht für sich in Anspruch, Waffen zu tragen. Unter Missachtung der Resolution 1559 (2004) des UN-Sicherheitsrates, die neben dem Rückzug aller ausländischen Truppen aus dem Libanon auch die Entwaffnung und Auflösung aller im Libanon aktiven Milizen verlangt, präsentierte sich die Hisbollah als nationale Abschreckungsmacht gegen Israel. Außerdem begründete sie ihre militärischen Aktionen gegen Israel, wie das den letzten Krieg auslösende Kommandounternehmen gegen eine israelische Grenzpatrouille, mit der Solidarität, die sie den bedrängten Palästinensern schulde.

Israel verlangt seit seinem Abzug von der libanesischen Regierung die Entwaffnung der Hisbollah. Die Auflösung und Entwaffnung aller Milizen war bereits 1989 im Frieden von Taif unter den Parteien des libanesischen Bürgerkrieges einschließlich der Hisbollah vereinbart worden, mit der Resolution 1559 stellte sich auch der UN-Sicherheitsrat hinter diese Forderung. Der libanesischen Regierung, in der seit Juni 2005 auch die Hisbollah vertreten ist, gelang die Aushandlung der Entwaffnungsmodalitäten und die Stationierung regulärer libanesischer Truppen südlich des Litani aber nicht.

Im seit März 2006 geführten „Nationalen Dialog“ einigte man sich bisher darauf, die bewaffnete Präsenz palästinensischer Milizen außerhalb der Flüchtlingslager zu beenden. Die Frage der Entwaffnung der Hisbollah- Miliz wurde bisher vor allem im Kontext von Überlegungen diskutiert, sie den regulären Streitkräften anzugliedern.

Israelisch-syrische Streitfragen

Auch Syrien und Israel sind formell Feindstaaten, deren Territorien voneinander lediglich durch Waffenstillstandslinien abgegrenzt sind. Überdies hat der dritte Nahost-Krieg 1967 einen bis heute ungelösten Territorialkonflikt hinterlassen. Israel eroberte die syrischen Golan-Höhen und annektierte sie 1981. Heute leben auf dem Höhenzug 17.000 israelische Siedler. Völkerrechtlich handelt es sich um besetztes Gebiet. Unter Berufung auf Resolution 242 (1967) des UN-Sicherheitsrates verlangt Syrien von Israel die vollständige Rückgabe der Golan-Höhen als Voraussetzung für eine Beendigung des formellen Kriegszustandes.

Mit dem Golan verbinden sich militärische und wasserpolitische Sicherheitsinteressen. Durch die Besetzung des Höhenzugs ist der Abstand zwischen Stellungen der israelischen Armee und der syrischen Hauptstadt auf 35 km geschrumpft. Damaskus liegt seither in Reichweite israelischer Artillerie-Geschütze. Israel betrachtet den Golan als eine Pufferzone, die das Vorrücken gepanzerter Verbände auf das israelische Kernland erschwert. Die Kontrolle der Berghöhen bietet Sicherheit gegen Beschuss der im nördlichen Galiläa gelegenen Ortschaften. Die unmittelbar an der Grenze zum Libanon auf dem Berg Hermon installierte Frühwarnstation erlaubt es, einen großen Teil Syriens sowie den Süden des Libanon und die Bekaa-Ebene auszuspähen.

Wie die irakischen Raketenangriffe auf Israel während des Golfkrieges 1991 demonstrierten, nimmt die militärische Bedeutung der Höhenzüge ab. Anders verhält es sich mit ihrer wasserpolitischen Bedeutung. Im Lichte des wachsenden Bedarfs an Wasser in allen Anrainerstaaten des Jordanbeckens geht es im Streit um den Golan auch, vielleicht sogar vordringlich, um die Kontrolle über die dortigen Wasservorkommen. Die andauernde Besetzung und völkerrechtswidrige Annexion des Golan steht in der syrischen Interpretation außerdem in der Tradition kriegerischer Landnahme durch Israel, die bei nicht vollständig festgelegten völkerrechtlichen Grenzen auf die Schaffung vollendeter Tatsachen auf gewaltsamem Wege zielt.

Aus diesem Zusammenhang ergibt sich die Bedeutung der unterschiedlichen Interpretation dessen, was ein „vollständiger Rückzug“ Israels vom Golan wäre. Syrien fordert Israels Rückzug auf dessen De-facto- Besitzstand am Vorabend des Krieges von 1967. Syrien hätte dann wieder Zugang zum See Genezareth und zum Oberlauf des Jordan. Vorteilhafter für Israel wäre ein Rückzug nur zur „internationalen Grenze“, das heißt zu der zwischen Frankreich und Großbritannien vereinbarten Grenze zwischen den Mandatsgebieten, die einige Meter östlich des Sees Genezareth verläuft. Es geht bei dieser Differenz also nicht um einige Quadratkilometer mehr oder weniger. Für Syrien geht es um die vollständige Beendigung der Besatzung durch Wiederherstellung des Status quo am 4. Juni 1967, für Israel geht es um die Kontrolle wichtiger Wasserressourcen.

Der Versuch Syriens, die Golan-Höhen zurückzuerobern, scheiterte 1973. Auf dem Golan wurde eine von UN-Beobachtern kontrollierte Pufferzone eingerichtet. Seither ist die syrisch-israelische Grenze die ruhigste im ganzen Nahen Osten. Der Schauplatz, auf dem der syrisch- israelische Territorialkonflikt seither ausgetragen wird, ist der benachbarte Libanon. Syrien unterstützte die libanesische Hisbollah. Mit der schiitischen Miliz ist das säkulare Regime in Damaskus nicht ideologisch alliiert. Aber Syrien konnte Israel mit Hilfe der militärischen Nadelstiche der Hisbollah einen Preis für die andauernde Okkupation des Golan abverlangen, bei begrenztem eigenem militärischen Risiko.

Erst mit der Madrider Nahostkonferenz 1991 wurde der Golan zum Verhandlungsgegenstand. 1995 führten die Militärs beider Seiten im Vorgriff auf eine Einigung über Umfang und Fristen eines israelischen Rückzugs Gespräche über Sicherheitsarrangements. 1999 erklärte sich Syrien bereit, einer Reihe von Sicherheitsmaßnahmen wie der Installation einer von amerikanischen und französischen Truppen bemannten Frühwarnstation auf syrischem Territorium sowie der Einrichtung einer gemeinsamen Wasserbehörde zuzustimmen. Doch die Verhandlungen scheiterten, weil Syrien auf einem vollständigen israelischen Rückzug vom Golan bestand, der israelische Ministerpräsident Ehud Barak dieser Forderung aber nicht zuzustimmen wagte, weil es dafür laut Meinungsumfragen keine Mehrheit in der Bevölkerung gab und er ein Auseinanderbrechen seiner Koalition befürchtete. Schließlich scheiterten die Verhandlungen 2000 an der Frage der Rückgabe von weniger als zwanzig Quadratkilometer Land am nordöstlichen Uferstreifen des Sees Genezareth. Lösungen, bei denen beide Seiten ihre Interessen wahren, wären möglich. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die Kontrahenten das in der Region verbreitete Nullsummendenken, nach dem der Vorteil des einen der Nachteil des anderen ist, ablegen.

Israelisch-palästinensische Streitfragen

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist der Kernkonflikt des Nahen Ostens. Er begann im späten 19. Jahrhundert als Konkurrenz zwischen palästinensischen Arabern und zionistischen Juden um das Land zwischen dem Jordanfluss und der östlichen Mittelmeerküste, weitete sich nach der Proklamation des Staates Israel 1948 zum arabisch-israelischen Konflikt aus und führte 1967 zur Eroberung und Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens durch das siegreiche Israel, gegen die sich die Palästinenser 1987 in der ersten Intifada erhoben. Der Konflikt manifestiert sich seit sechs Jahren als Kräftemessen, bei dem weder die palästinensischen Guerillaorganisationen noch die militärische Supermacht des Nahen Ostens Zivilisten schonen, ohne dass ein „Sieg“ der einen oder anderen Seite möglich erscheint.

Im Kern geht es heute in diesem Konflikt um den Anspruch der Palästinenser auf nationale Selbstbestimmung in einem eigenen souveränen und entwicklungsfähigen Staat auf arabisch/palästinensischem Territorium, das Israel 1967 im Krieg eroberte, seither besetzt hält und mit einem Netz von Siedlungen und Siedlerstraßen überzog. Das Recht auf einen eigenen Staat wird den Palästinensern nicht mehr ernstlich bestritten. Zwar gibt es in Israel auch heute noch politische Strömungen, die den Palästinensern Jordanien als Heimatstaat anbieten. Aber in ihrer Mehrheit glaubt sowohl die politische Klasse in Israel als auch die Bevölkerung, dass ein Staat Palästina westlich des Jordan unumgänglich ist, wenn es eine Chance auf Beendigung des Jahrhundertkonflikts geben soll. Auch die Staatengemeinschaft unterstützt grundsätzlich das Konzept zweier Staaten auf dem Territorium des ehemaligen britischen Mandatsgebietes – Palästina und Israel, beide in sicheren Grenzen.

Territorium: Strittig ist allerdings die endgültige Gestalt des palästinensischen Staates und damit naturgemäß auch die Ausdehnung des Staates Israel bzw. die Frage, über welches Territorium Israel legitime Kontrolle ausüben soll. Die PLO, die für die Palästinenser in der Vergangenheit die Verhandlungen mit Israel führte, verlangt für den Staat Palästina das Westjordanland und den Gazastreifen in den bis 1967 de facto geltenden Grenzen. Bisher üben die Palästinenser lediglich eine begrenzte Selbstverwaltung im Gazastreifen und in Teilen des Westjordanlandes gemäß den Oslo- Abkommen aus. Im Gazastreifen und auf 17,1 Prozent des Westjordanlandes besitzt die palästinensische Autonomiebehörde die Verwaltungshoheit und die Zuständigkeit für Sicherheitsfragen. Außerdem ist sie auf weiteren 23,9 Prozent des Westjordanlandes für zivile Angelegenheiten zuständig, während das israelische Militär hier in letzter Instanz die Entscheidungskompetenz in Sicherheitsfragen hat. Damit unterstehen der Autonomiebehörde zwar 98 Prozent der palästinensischen Bevölkerung. Aber in territorialer Hinsicht verblieben 59 Prozent des Westjordanlandes unter ausschließlicher israelischer Kontrolle. Den Gazastreifen kontrolliert Israel seit der 2005 erfolgten Auflösung der Siedlungen und Militäreinrichtungen nunmehr von außen an den Landgrenzen, im Luftraum und in den Küstengewässern. Dies ist die Situation auf dem Papier. Die Wirklichkeit aber ist nicht mit Prozentangaben zu erfassen, sondern durch verschiedene Formen der Gewalt und Gegengewalt geprägt.

Gewaltkontrolle: Die Krise, in der sich der Friedensprozess seit der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Itzhak Rabin im November 1995 befand, führte nach fünf Jahren schleppender Verhandlungen in die Al-Aqsa-Intifada. Dieser zweite Aufstand der Palästinenser gegen die Besatzung wurzelt in ihrer Enttäuschung über den wirtschaftlichen Niedergang in den Palästinensergebieten und die mageren Ergebnisse des Friedensprozesses, der seit dem Abbruch der Camp David-Verhandlungen im Juli 2000 für gescheitert galt. Israel verlangt von der Autonomiebehörde, dass sie, wie es heißt, die „Infrastruktur des Terrors“ zerschlägt. Da die Autonomiebehörde zur Entwaffnung der Milizen nicht willens oder in der Lage war, griff Israel zur Selbsthilfe. Die militärischen Operationen zur Niederschlagung des Aufstandes führten dazu, dass die Institutionen der Autonomiebehörde einschließlich derer des Sicherheitssektors weitgehend zerstört wurden. Im Gazastreifen breitete sich nach dessen einseitig, d.h. ohne vertragliche Übereinkunft zwischen den Konfliktparteien erfolgten Räumung im August 2005 Anarchie aus. Der Regierungswechsel in den Palästinensergebieten im März 2006 führte nicht zur Wiederherstellung der Ordnung, unter anderem weil Israel, die USA und die Europäische Union die neue von der Islamischen Widerstandsbewegung Hamas geführte Regierung boykottierten und ihr den Geldhahn zudrehten. Sie konnte die Angestellten der Autonomiebehörde, auch die von der Fatah dominierten Sicherheitskräfte, nicht bezahlen und zeigte sich außerstande, den irregulär Bewaffneten Einhalt zu gebieten.

Nicht länger hinnehmen will Israel vor allem den Beschuss mit Qassam-Raketen aus dem Gazastreifen, den die Milizen mit der anhaltenden Besetzung des Westjordanlandes begründen. Seit palästinensische Extremisten am 25. Juni 2006 bei einem Überfall auf einen Militärposten einen israelischen Soldaten in ihre Gewalt brachten, ist die Lage weiter eskaliert. Im Gazastreifen nahm Israel die Provokation zum Anlass, die „Operation Sommerregen“ zu starten, an der neben der Luftwaffe auch 3.000 Mann der Bodentruppen beteiligt waren, und bombardierte unter anderem den Amtssitz des Ministerpräsidenten. Im Westjordanland verhafteten israelische Soldaten Dutzende von Abgeordneten, Ministern und Bürgermeistern der Hamas.

Über der Gewalteskalation im Gazastreifen, bei der allein im Juli 183 Palästinenser starben, unter ihnen 78 Unbeteiligte, gerieten die anderen Streitfragen zwischen Israelis und Palästinensern aus dem Blick. Ihr Ziel, einen eigenen Staat, haben die Palästinenser bisher nicht erreicht. Neben dem territorialen Streit geht es im Wesentlichen um folgende Fragen:

Jerusalem: Das 1980 von der Knesset verabschiedete Jerusalemgesetz erklärt das „vereinte Jerusalem“ (d.h. West- und Ost-Jerusalem) zur „ewigen und unteilbaren Hauptstadt“ Israels. Der UN-Sicherheitsrat verurteilte in Resolution 478 die mit diesem Gesetz verbundene Annexion Ost-Jerusalems. Die Palästinenser beanspruchen das vormals arabische Jerusalem (d.h. Ost-Jerusalem), nach wie vor die größte und bedeutendste Stadt des Westjordanlandes, als Hauptstadt ihres künftigen Staates. Ohne eine Regelung der Jerusalemfrage scheint der israelisch-palästinensische Gesamtkonflikt unlösbar, denn keine Seite kann die Bedeutung der Stadt in der Geschichte, den Erinnerungen und dem Alltag der beiden Völker ignorieren.

Siedlungen: Zu klären ist weiterhin die Zukunft der nach Völkerrecht illegalen israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten. In Ost-Jerusalem leben ca. 200.000, im Westjordanland ca. 250.000 jüdische Siedler, die Mehrzahl von ihnen in großen Siedlungsblöcken. Nach den Vorstellungen der israelischen Regierung sollen nur die kleinen Siedlungen mitten im Westjordanland aufgelöst werden. Die Palästinenser bestehen auf einem zusammenhängenden Staatsgebiet. Siedlungsblöcke wie Maale Adumin östlich von Jerusalem und Ariel östlich von Tel Aviv, beide tief im Westjordanland gelegen, wären damit nicht vereinbar.

Flüchtlinge: Eine weitere Hürde liegt im Flüchtlingsproblem. Von den weltweit neun bis zehn Millionen Palästinensern sind über zwei Drittel Flüchtlinge, die meisten Staatenlose. Das UN-Hilfswerk für die Palästinaflüchtlinge betreut im Nahen Osten 4,3 Millionen Flüchtlinge, ein Drittel von ihnen lebt in Lagern. Die Palästinenser bestehen auf dem Rückkehrrecht der Flüchtlinge. Sie begründen dies mit völkerrechtlichen Prinzipien und Resolution 1948 der UN-Vollversammlung, wonach die Flüchtlinge grundsätzlich die Wahl zwischen Rückkehr, Verbleib im Gastland oder Ansiedlung in einem Drittstaat haben sowie Anspruch auf Rückgabe von Eigentum bzw. Entschädigung für erlittene Verluste durch den Staat, der die Flüchtlingssituation verursacht hat. Israel lehnt die Übernahme der Verantwortung für die Flüchtlingssituation mit dem Argument ab, die Flüchtlinge seien Opfer arabischer Aggression unmittelbar vor und nach der Staatsproklamation. Überdies verbiete das Konzept Israels als jüdischer Staat, eine Rückkehr der überwiegend muslimischen Palästinenser in relevanten Größenordnungen (z.B. der rund 650.000 Flüchtlinge in den jordanischen, libanesischen und syrischen Camps) zuzulassen.

Statt Verhandlungen: Spiel mit dem Feuer

Die Hoffnung, die Konflikte würden sich von alleine erledigen, hat sich als Spiel mit dem Feuer erwiesen. Versuche, die eine oder andere Streitfrage isoliert und ohne Übereinkunft mit dem Kontrahenten erledigen zu wollen, sind auf allen drei Schauplätzen gescheitert.

Der israelisch-libanesische Schauplatz

Seit dem Rückzug der israelischen Truppen aus dem Süden des Libanon engagierten sich die Konfliktparteien in einem Wechselspiel von Grenzverletzungen nach Art eines tit-for-tat (etwa: wie du mir so ich dir) – die einen am Boden, die anderen im Luftraum und in den Küstengewässern. In einer stillschweigenden Übereinkunft betrachteten die Hisbollah und Israel die umstrittenen Schebaa-Farmen als einen legitimen Schauplatz begrenzter Gewaltakte. Diese Art von „Kommunikation“ birgt ein erhebliches Eskalationsrisiko. Wer die Waffen sprechen lässt anstatt miteinander zu reden, läuft Gefahr, die „Schmerzgrenze“ des Gegners falsch einzuschätzen.

Aufschlussreicher im Sinne der Konfliktprävention als die Schuldfrage ist die Dynamik derartiger Prozesse. Es gibt in Vergeltungszyklen keine klaren Regeln und keinen Schiedsrichter. Sie können darum leicht der Kontrolle entgleiten. Der vorliegende Fall kann das illustrieren. Das Gewaltniveau war in diesem low intensity conflict bereits so hoch, dass eine weitere kleine Drehung an der Schraube der Gewalt zum Auslöser eines Krieges wurde, an dessen Ende weit mehr als tausend Tote, eineinhalb Millionen Flüchtlinge und Schäden in Höhe von zehn Milliarden US-Dollar standen. Natürlich liegt hier weder ein Automatismus vor noch sind die Konfliktparteien in diesen Krieg „hineingeschlittert“. Doch es ist ebenso wenig plausibel, dass es die Hisbollah darauf angelegt hat, einen regelrechten Feldzug Israels gegen den Libanon zu provozieren. Gut möglich, dass ihr nicht klar war, was für die andere Seite auf dem Spiel stand.

Für den israelischen Ministerpräsidenten zielte der Feldzug auf die Absicherung des von ihm getragenen Projektes der einseitig vorgenommenen „Trennung“ von den Palästinensern vermittels der Wiederherstellung der israelischen Abschreckung. Die Entführung an der Grenze zum Gazastreifen, wenig später dann die Entführung an der Grenze zum Libanon lieferten den Kritikern dieses Projektes in Israel Munition: Israel habe nicht Sicherheit erhalten, sondern nur Gewalt geerntet. Derart bedrängt entschied sich die Regierung, die Lage zu „bereinigen“ und schlug im Vertrauen auf die eigene militärische Stärke mit Übermaß zurück. Dass die Hisbollah diese Reaktion kalkuliert hatte, ist mehr als zweifelhaft. Sie hatte eine ganz andere Agenda. Um bei der eigenen Klientel und der „arabischen Öffentlichkeit“, an deren Adresse die Solidaritätsrhetorik von Hisbollah-Führer Nasrallah gerichtet war, zu punkten, hätte ihr ein Gefangenenaustausch wie z.B. 2004 vollauf genügt. Sie hatte seit längerem damit gedroht, die in Israel einsitzenden libanesischen Häftlinge zu „befreien“. Es ist anzunehmen, dass die Hisbollah- Führung sich schlicht verkalkuliert hat.

Der israelisch-syrische Schauplatz

Seit 1990, als Syrien den libanesischen Bürgerkrieg beenden half, danach seine Soldaten im Lande beließ und in der libanesischen Politik den Ton angab, sicherten syrische Truppen den Nachschub aus Iran für die im Grenzgebiet kämpfende Hisbollah-Miliz. Syrien förderte die Schiitenmiliz, um von Israel Konzessionen in der Golan-Frage zu erlangen.

Seit dem Abbruch der Verhandlungen im Jahre 2000 herrscht zwischen Israel und Syrien so etwas wie Funkstille. Wie bereits die Likud-Regierung unter Benjamin Netanjahu hielt auch die unter Ariel Scharon eine Beilegung des Territorialkonflikts mit Syrien nicht für dringlich – im Gegensatz zu den Regierungen unter der Führung der Arbeiterpartei in den 1990er Jahren. Die USA investierten bis 2000 zwar in die Vermittlung einer Verhandlungslösung, weil Syrien lange Zeit als ein Schlüsselstaat für Frieden im Nahen Osten galt – z.B. wird Henry Kissinger die Einschätzung zugeschrieben, dass es ohne Ägypten keinen Krieg, ohne Syrien keinen Frieden geben könne. Aber mit seiner distanzlosen Übernahme der israelischen Position in der Golan-Frage trug das US-Vermittlerteam unter Präsident Clinton nicht unerheblich zum Scheitern der Verhandlungen bei. Die Administration George W. Bushs schließlich sah Syrien nur noch durch die Brille des Krieges gegen den Terror und setzte auf Isolierung. Solchermaßen gestärkt konnte es sich auch Scharons Amtsnachfolger Ehud Olmert von der Kadima-Partei leisten, syrische Verhandlungsofferten wie zuletzt im April 2006 ohne nähere Prüfung auszuschlagen.

Der israelisch-palästinensische Schauplatz

Nach dem gescheiterten Gipfeltreffen in Camp David im Juli 2000 unternahmen die Konfliktparteien Ende Januar 2001 einen letzten Versuch, die schwierigen Endstatusfragen im Palästina-Konflikt zu lösen. Die Rahmenbedingungen waren denkbar ungünstig: Die Al- Aqsa-Intifada war seit drei Monaten im Gange, der israelische Regierungschef hatte seinen Rücktritt eingereicht und befand sich im Wahlkampf, die Meinungsforscher prognostizierten einen Erdrutschsieg für den Kandidaten der Opposition, und die neue USAdministration von George W. Bush blieb dem Treffen fern.

Wie die Beteiligten und der Nahost-Sondergesandte der Europäischen Union Miguel Moratinos bezeugten, arbeiteten die Teilnehmer auf der Basis von Vorschlägen Präsident Clintons für eine Reihe von Streitfragen – Grenzen/Territorium, Jerusalem und Flüchtlinge – Lösungswege heraus, die eine Einigung nicht mehr aussichtslos erscheinen ließen. Am Ende fehlte die Zeit. Der israelische Regierungschef, der keine parlamentarische Mehrheit mehr besaß, brach die Gespräche schließlich ab. Die Neuwahlen gewann Ariel Scharon.

Seither wird nicht mehr verhandelt. Für die israelische Regierung gibt es „keinen Partner“ auf der anderen Seite – eine Schuldzuweisung, die einem Mantra gleich den israelischen Diskurs durchzieht und eine konstruktive Verarbeitung der Erfahrungen und Ergebnisse des Friedensprozesses blockiert. Der 1996 zum Präsidenten gewählte Yassir Arafat war für Scharon kein Partner, weil er die Intifada „angezettelt“ und den Terror finanziert habe. Arafats 2005 gewählter Nachfolger Mahmoud Abbas war für ihn kein Partner, weil er zwar die Intifada kritisierte, aber zu schwach war, um eine Zerschlagung der Milizen zu riskieren. Die in den Parlamentswahlen 2006 siegreiche Hamas ist für Olmert kein Partner, weil sie auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit besteht bzw. keine „Vorleistungen“ zu erbringen bereit ist: Sie schwört der Gewalt nicht ab, erkennt Israel nicht an und lässt sich nicht auf die zwischen Israel und der PLO getroffenen Vereinbarungen verpflichten. Die am Vorabend von „Operation Sommerregen“ zwischen Hamas und Fatah getroffene Vereinbarung über die Errichtung des palästinensischen Staates auf den 1967 besetzten Gebieten, die sich als Annäherung der Hamas an die Zwei-Staaten-Lösung werten ließe, wertete der israelische Regierungschef als irrelevant.

Mit der Begründung, „keinen Partner“ für Verhandlungen zu haben, entschied Israel sich für eine einseitige „Trennung“ von den Palästinensern. Im Gazastreifen wurde sie bereits vollzogen. Israel entledigte sich mit der Räumung eines Gebietes so groß wie das Land Bremen auf einen Schlag aus seiner Sicht jeglicher Verantwortung für 1,4 Millionen Palästinenser unter Beibehaltung der faktischen Oberhoheit. Im Westjordanland dient dem Trennungsprojekt der Bau der Sperranlage, mit Hilfe derer Israel die Annexion der großen Siedlungsblöcke vorbereitet. In den Augen der Palästinenser sind Gazastreifen und Westjordanland aber nicht zwei separate Territorien, sondern untrennbare Teile ihres künftigen Staates Palästina. Der Gazastreifen ist nun zwar „befreit“ (wenn auch von der Außenwelt abgeschnürt), aber das Westjordanland (und mit ihm Jerusalem) ist es nicht – und in den Augen der Militanten legitimieren die israelischen Annexionspläne die Fortsetzung des „Befreiungskampfes“.

Die internationale Gemeinschaft, vertreten durch das 2002 gebildete „Nahost-Quartett“ (EU, Russland, UNO, USA), sah der Eskalation der Gewalt mehr oder weniger tatenlos zu. Das Quartett legte mit der Road Map zwar einen Stufenplan zur Beilegung des Konflikts vor, der ausdrücklich die Zwei-Staaten-Lösung, d.h. einen souveränen Staat Palästina „Seite an Seite“ Israels, als Ziel nennt. Aber die Road Map enthält weder einen verbindlichen Zeitrahmen für die Konfliktlösung, noch sieht sie einen Mechanismus vor, Sabotageversuche zu vereiteln. Auf die Gewalteskalation nach dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen wusste das Nahost- Quartett keine Antwort. Die palästinensischen Wahlen, von denen eine Erneuerung des politischen Systems ausgehen sollte, führten nicht zur Einbindung der militanten Opposition und Durchsetzung des Gewaltmonopols der Autonomiebehörde, sondern zu einem Machtkampf zwischen dem Verlierer der Wahl (Fatah) und dem Wahlsieger (Hamas). Den Milizen war unter diesen Umständen nicht beizukommen.

In dieser Lage scheint das Nahost-Quartett auf zwei Wege gesetzt zu haben, den Radikalisierungsprozess bei den Palästinensern umzukehren. Die gewählte palästinensische Regierung sollte durch diplomatische Isolation und finanzielle Strangulierung zur Erfüllung der drei Forderungen Israels und des Quartetts gezwungen oder zu Fall gebracht werden und derweil die israelische Armee die Dezimierung der Milizen betreiben. Damit nahm das Quartett in Kauf, dass sich die Kontrahenten immer tiefer in ihren Gewaltzirkeln verstrickten.

Grundrisse einer Konfliktlösung

Die Verantwortung der Staatengemeinschaft

Es fehlt nicht an Vorschlägen für die Regelung der Streitfragen zwischen Israel, Syrien, dem Libanon und den Palästinensern, erarbeitet sowohl von Experten der Streitparteien als auch von Seiten Dritter. Die folgenden Elemente einer umfassenden Konfliktlösung sind nicht neu. Gemangelt hat es bisher aber an dem politischen Mut der Konfliktparteien bzw. ihrer Regierungen, die gewohnten Frontlinien zu verlassen und dies innenpolitisch hinreichend zu kommunizieren, sowie an der Bereitschaft einflussreicher Dritter, sie dazu zu drängen und dafür auch Druckmittel einzusetzen. Fatal hat sich insbesondere ausgewirkt, dass das Nahost-Quartett, namentlich die USA und die EU, darauf verzichtet haben, auf Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien zur Beilegung aller ihrer Streitfragen zu bestehen. Vielleicht war man der Ansicht, dass der low intensity war an den beiden unruhigen Fronten des Nahost-Konflikts einen solchen Einsatz politischen Kapitals nicht rechtfertige. In diesem Fall hat man die Risikobereitschaft der im Gazastreifen und Südlibanon operierenden Guerillaorganisationen unterschätzt und Israels Bereitschaft, mit Augenmaß zu operieren, überschätzt. Das muss erstaunen. Denn die Spannungen, die sich in derartigen Grenzscharmützeln aufbauen, haben sich im Nahen Osten schon wiederholt kriegerisch entladen und es war nicht das erste Mal, dass der Auslöser angesichts der vielen Toten und Verletzten sowie des Ausmaßes an Zerstörungen relativ nichtig erscheint.

Das Nahost-Quartett muss erkennen, dass es, vielleicht durch den einen oder anderen Regionalstaat (z.B. Saudi- Arabien, Ägypten und die Türkei) verstärkt, die Rahmenbedingungen für Verhandlungen positiv beeinflussen und sich für Verhandlungen mit dem Ziel einer Beilegung aller Streitfragen im Sinne einer Gesamtlösung engagieren muss, soll eine erneute militärische Eskalation der Konflikte ausgeschlossen werden. Elemente einer Beilegung der israelischlibanesischen Streitfragen:

Militärische Sicherheit: Libanesische Einheiten, unterstützt von einer internationalen Truppe mit einem UNO-Mandat, übernehmen die Kontrolle im Grenzgebiet. Syrien stellt seine Waffenlieferungen an die Hisbollah ein. Israel zieht seine Truppen aus dem Südlibanon ab. Der Libanon nimmt den „Nationalen Dialog“ wieder auf, in dem eine Entscheidung über die Zukunft der Hisbollah-Miliz zu treffen ist, mit dem Ziel, Resolution 1559 des UN-Sicherheitsrates zu implementieren, die eine vollständige Entwaffnung aller Milizen im Libanon verlangt. Eine mögliche Option für die Entwaffnung der Hisbollah-Miliz ist ihre Eingliederung in die reguläre libanesische Armee.

Territoriale Fragen: Israel zieht seine Truppen von den Schebaa-Farmen ab und übergibt das Gebiet der UNO. Unter Beteiligung der UNO schließen der Libanon und Syrien eine völkerrechtlich verbindliche Übereinkunft, wonach der Libanon die Hoheitsrechte über das Gebiet der Schebaa-Farmen erhält.

Vertrauensbildende Maßnahmen: Israel und der Libanon vereinbaren einen Gefangenenaustausch, bei dem alle Soldaten, irregulären Kämpfer und Zivilisten der Gegenseite übergeben werden. Israel händigt der libanesischen Regierung Karten mit den von den israelischen Truppen im Libanon verlegten Landminen aus und bietet seine Hilfe bei der Minenräumung an.

Humanitäre und wirtschaftliche Maßnahmen: Mit internationaler Hilfe beginnt der Wiederaufbau der zerstörten Wohngebiete und Infrastruktur des Libanon. Die aus dem Südlibanon Geflohenen kehren so rasch wie möglich in ihre Wohnorte zurück.

Elemente einer Beilegung der israelisch-syrischen Streitfragen

Territoriale Fragen: Syrien und Israel nehmen Verhandlungen über die Golan-Höhen auf. Auf Ersuchen beider ermittelt die UNO die Frontlinie, die am 4. Juni 1967 das syrisch kontrollierte von dem israelisch kontrollierten Gebiet trennte. Ziel der Verhandlungen ist die Implementierung von Resolution 242 des UN-Sicherheitsrates, wonach der territoriale Besitzstand vor Ausbruch des Sechstage-Krieges wiederherzustellen ist.

Militärische Sicherheit: Syrien willigt in die Beschränkung seiner Truppenstärke auf dem Golan ein und verzichtet hier auf die Dislozierung schwerer Waffen. Auf dem Höhenzug werden für Israelis zugängliche Frühwarneinrichtungen installiert. Zusätzlich werden internationale Militärbeobachter stationiert, deren Nationalität Syrien und Israel je zur Hälfte bestimmen. Syrien stimmt auch der Entsendung israelischer Militärbeobachter zu, falls dies von Israel gewünscht wird. Die USA und die EU bieten beiden Seiten Satellitenaufnahmen für Verifikationszwecke bzw. zur frühzeitigen Entdeckung eventueller Kriegsvorbereitungen an.

Wasserrechte: Unabhängig von der Grenzziehung erhalten beide Seiten Zugang zum östlichen Ufer des Sees Genezareth; Israel außerdem das Recht auf ungeschmälerte Wasserversorgung aus dem See. Syrien verpflichtet sich, alles zu unterlassen, was den Wasserzufluss zum See beeinträchtigt. Um die umweltverträgliche Nutzung des östlichen Seeufers zu gewährleisten, wird dort ein Naturpark mit Nutzungsbeschränkungen (z.B. für Kraftfahrzeuge oder Wassersport) errichtet.

Elemente einer Beilegung der israelisch-palästinensischen Streitfragen

Vertrauensbildende Maßnahmen: Israel und die PLO vereinbaren einen Gefangenenaustausch. Vordringlich sind folgende Maßnahmen: Die Palästinenser übergeben den im Juni 2006 verschleppten israelischen Soldaten den israelischen Behörden, und Israel entlässt die Ende Juni 2006 verhafteten Abgeordneten und Minister von der Hamas sowie alle Frauen und Minderjährigen aus der Haft. Parallel zu israelisch-palästinensischen Verhandlungen über ein Endstatusabkommen entlässt Israel alle politischen Gefangenen aus der Haft, die vor dem 13. September 1993 gegen Israel gerichtete Straftaten begingen. Im Endstatusabkommen wird die Übergabe aller Häftlinge an die palästinensische Regierung vereinbart.

Militärische Sicherheit: Israel stellt alle militärischen Operationen im Gazastreifen ein und beendet hier sowie im Westjordanland die Politik des gezielten Tötens bekannter oder vermeintlicher Führungspersonen und Aktivisten. Die palästinensische Regierung löst die Milizen auf. Ihre Waffen werden konfisziert und ihre Kämpfer in die palästinensischen Sicherheitskräfte integriert oder demobilisiert. Der palästinensische Staat besitzt nur Streitkräfte mit leichter Bewaffnung. Eine multinationale Truppe wird im Gazastreifen und Westjordanland stationiert. Sie überwacht die Auflösung und Entwaffnung der Milizen, sichert die Grenzen und gewährleistet die territoriale Integrität des Staates. Für Recht und Ordnung sind palästinensische Sicherheitskräfte verantwortlich.

Territoriale Fragen: Israel und die um Hamas erweiterte PLO nehmen Verhandlungen über die Demarkierung der künftigen Grenze zwischen dem Staat Israel und dem Staat Palästina auf. Die Grenze orientiert sich an der Waffenstillstandslinie von 1949, die bis 1967 das von Israel kontrollierte Territorium von dem jordanisch kontrollierten Westjordanland bzw. dem ägyptisch verwalteten Gazastreifen trennte. Grenzkorrekturen sind im Einvernehmen möglich. In Jerusalem fallen die von Juden bewohnten Stadtbezirke unter israelische, die von Palästinensern bewohnten Stadtbezirke unter palästinensische Souveränität. Zwei Korridore verbinden das Westjordanland mit dem Gazastreifen.

Israelische Siedler und palästinensische Flüchtlinge: Die israelischen Siedler außerhalb der staatlichen Grenzen Israels werden nach Israel umgesiedelt. Jeder palästinensische Flüchtling hat das Recht auf einen ständigen Wohnsitz im palästinensischen Staat. Nimmt er es nicht in Anspruch, kann er sich für einen Wohnsitz im derzeitigen Aufnahmestaat, in Israel oder einem Drittstaat entscheiden, ohne dass dies einen Rechtsanspruch konstituiert. Jedes potenzielle Aufnahmeland, mit Ausnahme Palästinas, legt fest, wie viele Flüchtlinge es in welchen Zeiträumen aufzunehmen bereit ist, d.h. die permanente Ansiedlung in Israel wie auch in anderen Aufnahmestaaten liegt in deren souveräner Entscheidung.

Die Staatengemeinschaft unterstützt diese Form der „Rückkehr“, indem sie Wohnungsbauprogramme und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Palästina finanziert. Die wohlhabenden arabischen Staaten, die früher den palästinensischen Befreiungskampf subventioniert haben, fördern die Bereitschaft für die Aufnahme von Flüchtlingen und die Gewährung voller Bürgerrechte seitens weniger wohlhabender Staaten wie der Libanon und Syrien durch großzügige Finanzhilfen.

Patentlösungen gibt es nicht

Das Schwert Alexanders, das man sich mitunter herbeiwünschen möchte, um den Knoten dieses hochkomplexen Konfliktes zu durchhauen, ist Geschichte und ohnehin ein historischer Mythos. Die diplomatische Kunst muss darin bestehen, den Knoten aufzuknüpfen, die Teilkonflikte parallel mit gleicher Dringlichkeit zu bearbeiten und dabei ihren Besonderheiten gerecht zu werden, ohne eine Gesamtlösung aus dem Auge zu verlieren.

Weiterführende Literatur
  • Muriel Asseburg, Blockierte Selbstbestimmung: Palästinensische Staats- und Nationenbildung während der Interimsperiode, Baden-Baden 2002.
  • Helga Baumgarten, Hamas. Der politische Islam in Palästina, München 2006.
  • International Crisis Group, Middle East Endgame I: Getting To A Comprehensive Arab-Israeli Peace Settlement, Middle East Report Nr. 2, 16. Juli 2002.
  • International Crisis Group, Middle East Endgame II: How A Comprehensive Israeli-Palestinian Peace Settlement Would Look, Middle East Report Nr. 3, 16. Juli 2002.
  • International Crisis Group, Middle East Endgame III: Israel, Syria and Lebanon – How Comprehensive Peace Settlements Would Look, Middle East Report Nr. 4, 16. Juli 2002.
  • Margret Johannsen, Israel im Konflikt. Zur Friedensfähigkeit einer tief gespaltenen Gesellschaft, Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 142, Februar 2006.
  • Margret Johannsen, Lehren aus „Oslo“: Der israelisch- palästinensische Friedensprozess, in: Corinna Hauswedell (Hrsg.), Deeskalation von Gewaltkonflikten seit 1945, Essen 2006, S. 189-207 (i.E.).
  • Margret Johannsen, Der Nahost-Konflikt, Wiesbaden 2006 (i.E.).
  • Gudrun Krämer, Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel, München 2002.
  • Gernot Rotter/Schirin Fathi (Hg.), Nahostlexikon. Der israelisch-palästinensische Konflikt von A-Z, Heidelberg 2001.
  • Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2005.
  • Clayton E. Swisher, The Truth about Camp David. The Untold Story About the Collapse of the Middle East Peace Process, New York 2004.
  • Bernard Wasserstein, Israel und Palästina. Warum kämpfen sie und wie können sie aufhören? München 2003.
Quelle: www.ifsh.de


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