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Land der Widersprüche

Wirtschaft des Libanon wächst gegen den weltweiten Trend. Doch immense Staatsverschuldung, Korruption und die Kluft zwischen arm und reich bergen sozialen Sprengstoff

Von Raoul Rigault *

Decoupling, Abkopplung von der Krise, hieß seit ihrem Ausbruch im Sommer 2007 die große Hoffnung von Analysten, Unternehmern und Politikern in aller Welt. Überall entpuppte sie sich als Illusion. USA und EU rutschten tief in die roten Zahlen, und selbst weltwirtschaftliche Shootingstars wie China und Indien mußten deutliche Wachstumsdellen hinnehmen. Ausgerechnet der kleine, rohstoffarme, von Bürgerkrieg und Invasionen gezeichnete Libanon trotzt der Krise in erstaunlicher Weise.

Während anderswo Experten aller Art ihre Vorhersagen nach unten korrigierten, sahen sich die Statistiker der Banque du Liban Ende April veranlaßt, ihre Wachstumsprognose für 2008 von 7,5 auf neun Prozent heraufzusetzen. Auch andere Zahlen können sich sehen lassen: Die Einlagen bei den libanesischen Geschäftsbanken stiegen im letzten Jahr um 15 Prozent auf stattliche 94 Milliarden US-Dollar, was 327 Prozent des Bruttoinlandsproduktes entspricht. Die industriellen Exporte (Maschinen, Anlagen, Textilien und Chemieprodukte) wuchsen um 24 Prozent. Steuereinnahmen, Bankgewinne und Bauaufträge legten jeweils um mindestens ein Drittel zu. Der Nettokapitalzufluß aus dem Ausland stieg gar um 46 Prozent. Das verhalf dem Zedernstaat nicht nur zu einem Rekordüberschuß in der Zahlungsbilanz von 3,5 Milliarden, sondern sorgte auch für eine Verdopplung der Devisenreserven auf 22 Milliarden Dollar.

Ein Ende dieser Erfolgsgeschichte, die nicht wenig zum Wahlerfolg der prowestlichen Hariri-Koalition beigetragen hat, ist nicht absehbar. So stiegen die Neuwagenverkäufe ganz ohne Abwrackprämie um 19 Prozent, und die Zahl der ausländischen Touristen nahm von Januar bis April im Vergleich zum Vorjahr um 57 Prozent zu. Eine nochmalige Beschleunigung, denn für 2008 insgesamt hatte das Plus »nur« 31 Prozent betragen. Auch der seit einigen Jahren zu beobachtende Anstieg der Immobilienpreise ist ungebrochen, und Befürchtungen, daß die weltweite Rezession viele der libanesischen Gastarbeiter arbeitslos machen und damit auch ihre Geldüberweisungen versiegen könnten, waren bislang unbegründet.

Auf den ersten Blick eine paradoxe Situation in einem Land, das einen der geopolitischen Brennpunkte bildet, in 17 Religionsgemeinschaften gespalten ist und angesichts des militärischen Potentials der (nicht nur schiitischen) Armenpartei Hisbollah eine wenig kapitalfreundliche Doppelmacht aufweist. Doch genau diese Konstellation hat sich als durchaus vorteilhaft erwiesen. Die politische Dauerkrise hat das einheimische Kapital sensibilisiert. So lobt der britische Economist die libanesischen Banker als »ungewöhnlich einfallsreich und vorsichtig«. Bereits vor vier Jahren, also lange vor Ausbruch der Finanzkrise, verbot Zentralbankchef Riad Salameh den Handel mit Subprime-Derivaten und ähnlich fragwürdigen Produkten an der Beiruter Börse. Ein wichtiger Grund, warum der dortige Kurseinbruch mit 19 Prozent weniger stark ausfiel als in London (28 Prozent) oder New York (S&P 500: 34 Prozent).

Die günstige Liquiditätsentwicklung hat noch andere Gründe: Washington unterstützte den Libanon seit 2006 mit einer Milliarde Dollar. Davon waren allein 410 Millionen »Hilfen« für Polizei und Militär. Von der EU kommen pro Jahr 84 Millionen und vom Internationalen Währungsfonds 114 Millionen Dollar. Eine weitere Milliarde Dollar ließ Teheran der Hisbollah für den Wiederaufbau der im Sommer 2006 von der israelischen Armee zerstörten Dörfer und Stadtteile zukommen. Inklusive der Leistungen von Saudi-Arabien und den diversen Ölemiraten flossen allein 2007 Beihilfen und Kredite zu Vorzugsbedingungen in Höhe von 7,5 Milliarden Dollar ins Land. Zugleich erweist sich die ehemalige »Schweiz des Mittleren Ostens« im Vergleich zur angeschlagenen Konkurrenz in Dubai zunehmend als sicherer Hafen für Petrodollars und Renditen.

Dabei hat auch das Libanesische Pfund Probleme. Das größte ist die exorbitante Staatsverschuldung von 162 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die Nettoneuverschuldung wird in diesem Jahr 9,4 Prozent betragen. Zinszahlungen und Tilgungen werden ein Drittel der Staatsausgaben verschlingen. Erheblichen Anteil an diesem Schuldenberg hat der im Februar 2005 ermordete Bauunternehmer, Multimilliardär und Ministerpräsident Rafik Hariri, der während seiner Amtszeit zusammen mit den Banken auf Kosten der öffentlichen Hand enorme Profite mit Dollarspekulationen machte und sich auch am Wiederaufbau der durch den Bürgerkrieg zerstörten Städte bereicherte, wie sein Gegenspieler, der ehemalige General Michel Aoun nicht müde wird zu betonen.

Tatsächlich könnten die Gegensätze zwischen arm und reich größer kaum sein. Während 60 Prozent der vier Millionen Libanesen unterhalb der offiziellen Armutsgrenze von 600 Euro monatlich je Familie leben, kam der Hariri-Clan um den zweitältesten Sohn und designierten Regierungschef Saad Hariri, laut dem US-Magazin Forbes 2008 auf 13,6 Milliarden Dollar. Die Familie Mikati mit 5,2 Milliarden sowie Said Khoury und Hasib Sabbagh mit je einer Milliarde Dollar sind weitere Belege dafür, daß genug Geld da ist. Dennoch brauchte es für die Anhebung des Mindestlohnes auf 500000 Libanesische Pfund (246 Euro) im September 2008 zwölf Jahre und mehrere militante Generalstreiks. Der Gewerkschaftsbund CGTL hatte nicht ohne Grund das Doppelte gefordert. Wenig geändert hat sich, neben der systematischen Vernachlässigung der Armenviertel und des Südlibanon, auch am Elend der 200000 Behinderten und Kriegsversehrten, unter denen die Erwerbslosigkeit 80 Prozent beträgt (allgemein: 20 Prozent). Diese sozialen und ökonomischen Probleme dürften die Grundlage der kommenden Konflikte zwischen den beiden politischen Lagern sein.

* Aus: junge Welt, 16. Juni 2009


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