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Rückkehr in den Krieg

In Libanon droht eine neue Explosion, über Syrien liegen schon deren Rauchwolken

Von Karin Leukefeld, Beirut, Damaskus *

Eine Intensivierung der Kämpfe in Syrien nahe der libanesischen Grenze hat stets erhöhte Unruhe in Libanon selbst zur Folge. So auch in diesen Tagen. Bisher war für europäische Journalisten, die nach Damaskus wollten, der Weg über Beirut meist der unkompliziertere.

Lagebesprechung am Vorabend der geplanten Abreise von Beirut nach Damaskus: Am Morgen hatte es unweit der libanesisch-syrischen Grenze eine Explosion gegeben und es war ungewiss, ob die Salafisten aus Majdal Andjar die Lebensader nach Syrien durch Kämpfe gekappt hatten.

In den Tagen zuvor hatte der salafistische Scheich Ahmad al-Assir in der südlibanesischen Hafenstadt Sidon seine bewaffneten Unterstützer auf die libanesische Armee gehetzt, die durchsetzt sei von »Iran und Hisbollah« und bekämpft werden müsse. Nach einem verlustreichen zweitägigen Kampf besetzte die Armee die Moschee, in der Assir seit zwei Jahren den Aufstand gegen Syriens Präsidenten Baschar al-Assad und die libanesische Hisbollah gepredigt hatte. Seine Helfer brachten Assir an einen anderen Ort, mittlerweile wird er mit Haftbefehl gesucht. Zuvor hatte der Prediger seine Unterstützer noch zu Straßenblockaden aufgerufen. Angesichts Tausender Salafisten und Gotteskrieger, für die Libanon zum Sprungbrett in den Krieg in Syrien geworden ist, war die Sorge groß.

Die Hetzreden salafistischer Prediger und das Anheizen des Krieges in Syrien haben die gesellschaftliche Spaltung in Libanon vertieft. Westliche Geheimdienste gehen davon aus, dass Libanon bald erneut explodieren könnte, sollten religiöse Fanatiker nicht in die Schranken gewiesen werden.

Mein Gesprächspartner in Beirut führt das auf den Krieg in Syrien zurück: »Salafisten und ihre Unterstützer bekämpfen ein Regime ungläubiger Alawiten, dabei geht es in Syrien um einen Stellvertreterkrieg für internationale und regionale Machtinteressen.« Leider greife die einfache Formel »Sunniten gegen Schiiten« und werde von Predigern wie Assir, Politikern und Medien häufig bedient. Die konfessionelle Machtverteilung in Libanon, wonach der Präsident ein maronitischer Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit und der Parlamentspräsident ein Schiit sein muss, verstärke die Identifizierung mit religiösen Gruppen. Dabei brauche Libanon das Engagement aller als »Bürgerin oder Bürger« eines säkularen, modernen Staates.

Nach der kurzen Beratung kommt Hussein, der Fahrer, zu der Einschätzung, dass die Explosion in den Morgenstunden nicht zu weiteren Gewalttaten führen werde. »Das war nichts«, ist er überzeugt, »die Straße nach Damaskus ist sicher.« Also geht es am anderen Morgen los.

Sicher lenkt Hussein den Wagen durch den morgendlichen Verkehr in Beirut, während er über die aufgeheizte Stimmung zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen in Libanon spricht. »Was soll ich machen? Mich etwa von meiner Frau trennen, weil sie Sunnitin ist?« fragt er.

Bestimmte Regionen in Libanon meide er, ansonsten halte er sich aus Diskussionen heraus. Sorgen habe er ohnehin genug. »So viele Syrer sind hierher gekommen, und alle sind hungrig und suchen Arbeit«, sagt er und zeigt auf eine Gruppe Arbeiter an einer Straßenkreuzung. Als Tagelöhner arbeiten die Syrer für ein Entgelt weit unter dem, was ein libanesischer Arbeiter verlangen kann. Immer wieder verlangsamt Hussein die Fahrt, wenn es vorbei an Kontrollpunkten der Armee geht. Eine lange Kolonne von Militärfahrzeugen ist ebenfalls in Richtung Grenze unterwegs. Panzerfahrzeuge und schweres Gerät werden transportiert, müde blicken junge Soldaten unter den Planen der Lastwagen hervor.

Am libanesischen Grenzübergang drängeln sich trotz der frühen Stunde die Menschen vor den Schaltern, die es getrennt für Libanesen, Ausländer und Diplomaten gibt. Die meisten warten vor dem Schalter für »Ausländer«. Es sind Palästinenser aus Syrien, die nach Damaskus zurückkehren, erklärt Hussein. »Seit sie ihr Lager Yarmuk in Damaskus verlassen mussten, fahren sie einmal im Monat nach Sidon am libanesischen Mittelmeer, wo sie bei der UNO als Flüchtlinge aus Syrien registriert sind. In Sidon bekommen sie 200 Dollar Unterstützung und fahren mit dem Geld nach Damaskus zurück.«

Die Einreiseformalitäten an der syrischen Grenze sind schnell überstanden. Bald rollt der Wagen über die fast leere Autobahn Richtung Damaskus. Reklameschilder werben für die beiden großen Mobilfunkanbieter des Landes. Kein Bild des Präsidenten, dafür Appelle für die Einheit des Landes. Einige Verkaufsstände am Straßenrand bieten eingelegtes Gemüse, Früchte, Marmeladen oder Saft an. Seit mehr als einem Jahr haben sie wieder geöffnet. Da es kaum Verkehr gibt, sind die acht militärischen Kontrollpunkte auf den 40 Kilometern zwischen der Grenze und Damaskus rasch passiert.

Nach einer halben Stunde breitet sich Damaskus vor uns in der Ebene unterhalb des Kassioun-Berges aus. Eine große Rauchwolke im Südwesten der Stadt lässt auf eine Explosion schließen. »Heute scheint es relativ ruhig zu sein«, meint Hussein.

Die Hauptstraße durch Mezzeh in Richtung Innenstadt ist weniger befahren als sonst. Das könnte an den Sommerferien liegen, die begonnen haben, oder auch am anhaltenden Benzinmangel und den gestiegenen Preisen. Ein Liter Benzin kostet bis zu 80 Syrische Pfund (0,62 Eurocent), Anfang des Jahres waren es 50 Pfund. Die Eingänge zu öffentlichen Gebäuden, zur iranischen Botschaft, zum daneben liegenden Krankenhaus und zu den Zentralen der beiden Mobilfunkanbieter Syriatel und MTN sind mit Betonbarrieren abgesperrt. Die Armeezentrale am Omaijadenplatz, die Ende September 2012 bei einem Angriff der Aufständischen schwer beschädigt wurde, ist fast vollständig renoviert. Die neuen Betonbarrieren leuchten in den syrischen Nationalfarben.

Um den historischen Hedjaz-Bahnhof herum staut sich der Verkehr wie eh und je, es wimmelt von Menschen. Vor dem Orient-Palast-Hotel, wo vor 100 Jahren europäische Offiziere und Diplomaten Quartier nahmen und nach der Unabhängigkeitserklärung Syriens 1946 die Politik des Landes bestimmt wurde, stehen Trauben junger Leute. Ein Teil des Hotels wurde kürzlich von privaten internationalen Fachhochschulen gemietet, die ihren Betrieb unweit der umkämpften Provinzhauptstadt Deraa einstellen mussten.

In den Konferenzräumen wird heute Unterricht abgehalten, in die Hotelzimmer wurden Studierende einquartiert, deren Familien zu weit von Damaskus entfernt wohnen. Die andere Hälfte des Orient-Palast-Hotels wird von Familien bewohnt, die vor den Kämpfen im Umland der Hauptstadt geflohen sind. Wäsche hängt auf den Balkonen. Bei der Mittagshitze von gut 40 Grad trocknet sie schnell.

Aufständische haben kürzlich die Gas- und Ölzufuhr eines wichtigen Elektrizitätswerkes angegriffen, das die Provinzen Deraa, Sweida, das Umland von Damaskus und die Hauptstadt selbst versorgt. Drei Tage lang blieben Damaskus und die Umgebung ohne Strom, dann hatten die Notfallteams des Elektrizitätsministeriums die Versorgung – wenn auch mit Unterbrechungen – zumindest für die Hauptstadt wieder hergestellt.

In fast allen kleineren Hotels im Zentrum von Damaskus leben Familien aus den umkämpften Vororten, manche schon seit Monaten. Mit drei, vier Kindern drängen sie sich in ein Zimmer, der syrische Touristenverband hat Preisnachlass für die Flüchtlinge verfügt. In den letzten Tagen seien viele palästinensische Familien aus Muhayem, dem Herzen des Flüchtlingslagers Yarmuk, gekommen, heißt es. Die wenigen, die dort geblieben seien, lebten unter unerträglichen Bedingungen, erzählt Fadi, der in einem Restaurant arbeitet. Seine Mutter und zwei Schwestern wollten ihre Wohnung in Yarmuk nicht verlassen, aus Angst, sie könne geplündert werden. So wie viele Häuser, die von ihren Bewohnern verlassen wurden. Die Kämpfer der »Freien Syrischen Armee« hätten die Häuser besetzt und sie ausgeplündert. »Ob die staatliche Armee oder diese Freie Armee, wie sie sich nennt, wir einfachen Leute verlieren alles«, sagt Fadi und zuckt mit den Schultern.

Seit einem Jahr wohnt er bei Freunden in der Nähe seiner Arbeitsstelle, zum zweiten Mal werde er nun schon den Ramadan nicht zu Hause verbringen. Zwei Mal im Monat bringt er Brot und Lebensmittel zu seiner Mutter. »Kein Strom, kein Telefon, kein Internet, kein Handyempfang, nur Wasser gibt es«, erzählt er. Neuerdings könne seine Mutter Strom bei einem Stromhändler kaufen, der einen Generator betreibt. »Vier Stunden Strom für 100 Syrische Pfund (etwa 50 Eurocent)«, sagt Fadi und fügt sarkastisch hinzu: »Das ist doch ein echtes Angebot.«

Der Student Djihad vergleicht die Flucht seiner Familie aus Yarmuk mit der Flucht seiner Großeltern aus Haifa 1948 und spricht von einer zweiten Nakba. So nennt man Flucht und Vertreibung von etwa 700 000 arabischen Palästinensern aus dem früheren britischen Mandatsgebiet Palästina im Jahre 1948. Damals wurde auch Yarmuk gegründet, das zuletzt Heimat von rund 200 000 Palästinensern und mehr als doppelt so vielen Syrern war, die in dem dicht bebauten Stadtviertel preisgünstigen Wohnraum nahe dem Zentrum gefunden hatten.

Bewaffnete Gruppen der »Freien Syrischen Armee« fielen Ende 2012 in Yarmuk ein, Zehntausende Palästinenser und Syrer flohen. Djihads Familie hat eine neue Bleibe gefunden, doch ob sie je nach Yarmuk zurückkehren kann, weiß er nicht. Da der Vater als Geschäftsmann noch ein Einkommen hat, ist die Familie nicht auf die Unterstützung des UN-Hilfswerks für die palästinensischen Flüchtlinge angewiesen.

Dessen Hilfe ist in den vergangenen Jahren aber immer spärlicher geworden, denn zugesagte Gelder bleiben – insbesondere aus den Golfstaaten – seit mehr als zwei Jahren aus. »So viele Menschen haben Hunger, da könnten Katar und Saudi-Arabien helfen«, sagt Djihad. »Stattdessen schicken sie Waffen und Munition für den Krieg.«

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. Juli 2013


Wohin, wenn nicht nach Syrien?

Frauenrunde in Beirut **

Drei Freundinnen sitzen in Beirut nach einem Yogakurs zusammen und trinken Tee: Angelika, die seit ihrer Heirat mit einem Libanesen in den 60er Jahren in Beirut lebt, Lesley, eine Touristenführerin, und Tatjana aus Moskau. Die Physiotherapeutin heiratete vor einem Vierteljahrhundert einen Syrer, den sie beim Studium in Moskau kennengelernt hatte. Zwei Söhne, in Damaskus geboren, studieren heute in Malaysia. Ihr Mann, bestätigt Tatjana, habe als selbstständiger Designer in den Jahren wirtschaftlichen Aufschwungs gute Geschäfte gemacht. Doch das »neue Syrien« unter Baschar al-Assad habe auch Schattenseiten gehabt. Mit Gleichgesinnten, die sie auch in christlichen Gemeinden fand, organisierte Tatjana Hilfe und Freizeitangebote für bedürftige Kinder. Sie engagierte sich für gesunde Ernährung und bot entsprechende Kurse an. Unweit der Stadt Kusair, die kürzlich durch die Kämpfe zwischen syrischer Armee und Hisbollah auf der einen und Aufständischen auf der anderen Seite traurige Berühmtheit erlangte, hatte ein Großgrundbesitzer Mitte der 80er Jahre Ländereien für biologischen Anbau zur Verfügung gestellt. Eine »Schule des Friedens« entstand, in der auch Kurse für zivilgesellschaftliches Verhalten angeboten wurden. Doch sie wisse gar nicht, ob die Aktivisten von damals noch leben, sagt Tatjana. Die meisten Christen haben die Region um Kusair schon vor mehr als einem Jahr verlassen.

Auch Tatjana verließ Syrien Anfang 2013 auf Bitten ihres Mannes. »Diese Politiker, die einen Krieg nach dem anderen anfangen, sollten Yoga betreiben, damit sie auf bessere Gedanken kommen«, rät sie und freut sich über die Zustimmung ihrer Freundinnen. Angelika und Lesley, die den Bürgerkrieg in Libanon erlebt haben, können der »syrischen Revolution« nichts abgewinnen. »Als Christin haben mich die Muslime in meinem Dorf früher beschützt«, erzählt Lesley, »sie kämpften zwar gegeneinander, aber jeder für irgendeine Sache.« Heute schlachteten die Männer sich gegenseitig und Unbeteiligte ab und riefen »Allah ist groß!« Lesley schüttelt den Kopf: »Für wen tun sie das, wofür?«

Deir Mar Musa, Deir Mar Elian – Tatjana schwelgt in Erinnerungen an die beiden Klöster, die ein Orden um Pater Paolo aus Italien in Stätten interreligiösen Dialogs verwandelt hatte. Im Sommer 2012 musste Pater Paolo Syrien verlassen, berichtet sie. Nie habe er ein Blatt vor den Mund genommen, zuletzt habe er wohl zu offen Partei für die Aufständischen ergriffen. Ob sie ihr geliebtes Syrien jemals wiedersehen wird, weiß Tatjana nicht. »Nirgends lebten so viele Religionen und Volksgruppen so ruhig und nah miteinander«, sagt sie. »Wenn ich nicht nach Syrien zurück kann, wohin soll ich dann gehen?«

Karin Leukefeld

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 10. Juli 2013

Bombe zum Ramadan

Anschlag in Beiruter Schiitenviertel

Zum Beginn des islamischen Fastenmonats Ramadan ist die libanesische Hauptstadt Beirut von einem schweren Bombenanschlag mit zahlreichen Verletzten erschüttert worden.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums wurden bei dem Attentat in einem schiitischen Vorort Beiruts am Dienstag 53 Menschen verletzt, zwei davon mussten notoperiert werden. Zuvor hatte es aus Armeekreisen geheißen, dass mindestens zwei Anschlagsopfer getötet worden seien.

Die gewaltige Explosion ereignete sich im dicht besiedelten Stadtviertel Bir al-Abed, einer Hochburg der islamistischen Hisbollah-Miliz. Im Fernsehen waren eine riesige Rauchwolke über dem Anschlagsort und gegen die Flammen ankämpfende Löschkräfte der Feuerwehr zu sehen. Das Attentat wurde laut einem Bericht des Hisbollah-Fernsehsenders Al-Manar mit einer Autobombe verübt. Präsident Michel Suleiman und Politiker aus allen Parteispektren verurteilten den Anschlag, bei dem es sich um den schwersten in dem Schiitenviertel seit Beginn des Bürgerkriegs im benachbarten Syrien vor mehr als zwei Jahren handelt. Einige Schiiten hatten den islamischen Fastenmonat schon am Dienstag begonnen, andere Schiiten und auch Sunniten beginnen ihn am heutigen Mittwoch oder am Donnerstag.

Die Spannungen in Libanon haben wegen des Bürgerkriegs in Syrien zuletzt deutlich zugenommen. Die Hisbollah-Miliz unterstützt dort die Truppen von Staatschef Baschar al-Assad mit Kämpfern. Die Sunniten in Libanon stehen hingegen den mit Assad verfeindeten syrischen Rebellen nahe. Offiziell nimmt Libanon eine neutrale Haltung zu dem Bürgerkrieg im Nachbarland ein, doch die Gesellschaft ist tief gespalten.

(nd, 10.07.2013)




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