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"Wir wollen nicht schwach sein"

Palästinenserinnen im Libanon

von Karin Leukefeld

Vor der Zentrale der Hilfsorganisation ’Norwegian People’s Aid“ (NPA) in Beirut, steht Ayse Kayat und wartet auf den Wagen, der sie zu ihrem Einsatzort bringen soll. Auf ihrem T-Shirt prangt das Emblem der Organisation: Ein grünes Kreuz, um das drei Menschen, die sich an den Händen halten, einen Halbkreis bilden. Die kleine, schlanke Palästinenserin wurde vor 40 Jahren im Libanon geboren, im Flüchtlingslager Schatila. Arabisch spricht Ayse Kayat noch immer mit dem palästinensischen Akzent ihres Heimatdorfes nahe am Berg Karmel, bei Haifa. Ihre Großeltern haben ihr von dem Dorf erzählt, das sie selber nie gesehen hat. Heute leben dort Israelis. „Viele meiner libanesischen Freunde sagen, du bist hier geboren und sprichst immer noch mit diesem palästinensischen Akzent, aber ich will das gar nicht ändern“, erklärt sie mit Nachdruck. „Ich kann und will das nicht ändern. Die Sprache ist Teil meiner Seele, meines Lebens, meiner Identität.“ Wie ein Stück Heimat, die ihr so sehr fehlt.

Seit 1982 arbeitet Ayse Kayat für NPA, die Organisation lernte sie in der Zeit der israelischen Invasion kennen. Als am 17. September 1982, nach dem Einmarsch der Israelis, die libanesisch-christliche Phalangistenmiliz die Lager Sabra und Schatila überfiel, wurde Ayse am Kopf verletzt, ein Bein war vorübergehend gelähmt. „Als das Massaker begann, liefen wir zunächst ins Lager“, erinnert sie sich. „Doch sie begannen, die Menschen zu ermorden, die in dem Haus vor unserem Haus wohnten. Ja, sie ermordeten die Menschen und wir flohen zu meiner Großmutter, die außerhalb des Lagers wohnte.“ Am Tag nach dem Massaker, zogen israelische Bulldozer in die abgesperrten Lager ein und machten alles, was übrig geblieben war, dem Erdboden gleich. Häuser, Gärten, Vieh, Tote und Verletzte wurden einfach untergepflügt. Die Erinnerung an die damalige Zeit hat tiefe Spuren bei Ayse Kayat hinterlassen: „Einige meiner Verwandten blieben verschwunden. Die Israelis haben sie lebendig begraben, manche wurden ermordet. Abgeschlachtet wie die Schafe, obwohl sie sich Schafen gegenüber höflicher verhalten, verglichen dazu, wie sie mit den Palästinensern umgehen.“

Ihre Verletzungen wurden damals von NPA-Helfern behandelt, erinnert sie sich. „Ich war ihre erste Patientin und habe mich dann entschlossen bei ihnen zu arbeiten.“ Viele der Patienten und Patientinnen, die sie seit mehr als 20 Jahren physiotherapeutisch betreut, stammen aus den palästinensischen Lagern, wie sie. Während des 34-Tage-Krieges im Juli und August war sie bis zu 10 Stunden täglich mit freiwilligen Helfern unterwegs, um Flüchtlingsfamilien aus dem Südlibanon, die in Schulen der Hauptstadt Zuflucht gefunden hatten, zu registrieren und mit Hilfsgütern zu versorgen.

Eine Million Menschen wurden nach dem 12. Juli zu Flüchtlingen im eigenen Land. Das ist ein Viertel der gesamten libanesischen Bevölkerung. Die Not war so groß, dass libanesische Familien sogar in Flüchtlingslagern der Palästinenser Zuflucht suchten – und fanden, wie Leila El-Ali (42), Geschäftsführerin der Hilfsorganisation Najdeh, berichtet: „Die Mehrheit der Flüchtlinge, die in die Lager kamen, waren Palästinenser. Aber es gab auch Hunderte libanesischer Familien, die zum ersten Mal in ihrem Leben in eines unserer Lager kamen. Ich bin froh, dass sie sich dort sicher und gut behandelt fühlten. Sie waren vermutlich überrascht, weil sie sich die Palästinenser völlig anders vorgestellt hatten.“

Auch Leila el-Ali ist Palästinenserin wie Ayse Kayat, auch sie wurde im Lager Schatila geboren und erlebte das Massaker 1982. An der Arabischen Universität in Beirut studierte sie Philosophie und Psychologie, arbeitete für die palästinensische Studentenorganisation GUPS und für die UNRWA, das UN-Hilfswerk für Palästinensischen Flüchtlinge. Seit 6 Jahren leitet sie Najdeh, eine libanesische Organisation, die vor allem palästinensische Frauen und Mädchen in den Flüchtlingslagern unterstützt. „Unser erstes Projekt für Frauen war eine Stickerei , das war 1978. Sie konnten mit dem Verkauf ihrer Stickereien ein monatliches Einkommen sichern. Im Laufe der Zeit wurden die Programme ausgebaut, heute haben wir fünf Hauptprogramme für Frauen.“

Nach Angaben von UNRWA gibt es im Libanon zehn große Flüchtlingslager und Dutzende von „Unterkünften“, in der die 400.000 registrierten palästinensischen Flüchtlinge leben. Libanesische und palästinensische Basisinitiativen und Hilfsorganisationen, wie Najdeh und NPA, organisieren in den Lagern Bildungs- und Ausbildungsprogramme und helfen – mit internationalen Spenden - bei der Gründung von kleinen Handwerksunternehmen. Das größte Flüchtlingslager mit 45.000 palästinensischen Flüchtlingen, ist Ain al-Hilwa bei Sidon. Intisar Abusalem leitet dort die Bildungsprogramme von Najdeh. „Wir haben Kurse für Analphabeten, unterstützen lernbehinderte Kinder, geben Englischunterricht und organisieren für die Kinder ein Sommerprogramm.“ Die Familie von Intisar Abusalem stammt aus dem Dorf Safuri, bei Nazareth. Sie selbst wurde im Lager Ain al-Hilwa geboren. Seit 1993 ist sie verwitwet. Ihr 12jähriger Sohn hat seinen Vater, der von Unbekannten im Lager getötet wurde, nie gesehen. Während des Krieges wurden alle Programme von Najdeh ausgesetzt, erzählt die 42-Jährige. Vom ersten Tag an half jeder im Lager, die 1600 palästinensischen und 300 libanesischen Flüchtlingsfamilien in Schulen und Privatwohnungen zu versorgen. Es gab Komitees für Gesundheit, Bildung, Medien, Verteilung von Hilfsgütern und Wasser, ein Komitee, das um Spenden warb. Für Intisar Abusalem war es besonders wichtig, zwei Mal am Tag Spiel- und Lernprogramme für die Kinder zu organisieren, sie hatten am meisten zu leiden. Dass die Menschen selbst im Flüchtlingslager nicht von israelischen Raketen verschont blieben, hatte sie nicht erwartet, erzählt Intissar Abusalem: „Wir waren überrascht, als wir früh am Morgen diesen Bombeneinschlag hörten. Das Gebäude, das sie trafen, war ein Kindergarten, es hatte drei Stockwerke und wurde völlig zerstört. Ich ging kurz nach dem Angriff dorthin und fand nichts mehr, kein Anzeichen deutete daraufhin, das dort mal ein Gebäude mit einem Kindergarten war. Es war völlig dem Erdboden gleichgemacht, entsetzlich.“ Der Wächter des Gebäudes starb an Herzversagen, erzählt sie weiter. Zwei Jugendliche im Alter von 14 und 17 Jahren kamen ebenfalls ums Leben. Der 14jährige war Waise und mit der Familie seines Onkels vor dem Krieg aus Tyros geflohen. 30 Wohnungen in der Umgebung des Kindergartens wurden beschädigt und 17 Flüchtlingsfamilien, die in einer nahe gelegenen Privatschule untergebracht waren, standen unter Schock. Viele wollten sofort fliehen, ohne zu wissen wohin. Intissar Abusalem kennt solche Ängste. Sie und ihre Kollegen nahmen sich Zeit und sprachen lange mit den verschreckten Menschen. Schließlich konnten sie überzeugt werden, im Lager zu bleiben und zogen in eine der UNRWA-Schulen um.

Woher nimmt sie die Kraft, trotz eigener Probleme die Ruhe zu bewahren und anderen zu helfen? „Von klein auf haben wir das in unseren Familien gelernt“, erklärt Intissar Abusalem. „Obwohl wir jung waren, mussten wir Verantwortung übernehmen und unseren Leuten helfen, unsere Rechte fordern. Vielleicht ist es auch, weil ich den Bürgerkrieg im Libanon erlebt habe, dann den Krieg 1982 und den Krieg 1996. Es gab so viele Kriege, wir mussten überleben und arbeiten. Mit jedem Mal wurden wir stärker und haben an unseren Zielen festgehalten. Wir wollen nicht schwach sein.“ Auch Leila el-Ali, die Geschäftsführerin von Najdeh, hat die Erfahrung gemacht, dass das eigene Leid und die eigene Trauer befähigen können, anderen zu helfen: „Wenn wir das Gefühl haben, helfen zu können, besonders die Frauen zu unterstützen, macht uns das stolz. Wenn wir sehen, dass unsere Arbeit positive Spuren hinterlässt, Verbesserungen, dann macht uns das glücklich und stark“, sagt sie und lacht.

Die Waffen im Libanon ruhen, der Wiederaufbau hat begonnen, bald werden die drei Frauen zu ihrem normalen Alltag zurückkehren. Kann es einen dauerhaften Frieden mit Israel geben? „Niemals, niemals“, sagt Leila el-Ali entschieden. „Außer wenn Israel sich aus den besetzten palästinensischen und arabischen Gebieten zurückzieht. Oder zumindest das Recht der palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr akzeptiert. Ohne das wird es keinen Frieden in der Region geben, nie.“ Für Ayse Kayat ist es schwer, sich eine friedliche Zukunft vorzustellen. „Dieser Krieg gegen die Libanesen war so ungerecht, sie haben das Recht in Frieden in ihrem Land zu leben, genauso wie wir Palästinenser das Recht haben, in Frieden in unserem Land zu leben und nicht überall auf der Welt verstreut. Die USA fordert Frieden für Israel, die UN fordert das gleiche, alle fordern, dass Israel geschützt werden soll. Aber was ist mit uns Palästinensern, wer schützt die Libanesen?“ Intissar Abu Salem im Flüchtlingslager Ain al-Hilwah ist überzeugt, dass es einen Frieden ohne Gerechtigkeit nie geben wird. „Mehr als 50 Jahre haben wir in unserer palästinensischen Sache nichts erreicht. Seit so vielen Jahren kämpfen wir um unsere Rechte, doch speziell die UN-Resolutionen, die uns unterstützten, wurden nie umgesetzt. Und trotzdem bleibt uns nichts, als die UN und der Sicherheitsrat. Aber die eigentliche Macht liegt bei den USA und solange es ihnen nicht nützt, werden sie gar nichts tun.“

Die Erfahrungen der vergangenen Kriege haben diese Frauen stark gemacht, aber auch skeptisch. In die politische Entwicklung fehlt Leila el-Ali das Vertrauen: “Dieses Schweigen der arabischen Staaten, die nichts getan haben, um die Gewalt gegen Zivilisten, gegen die Palästinenser und Libanesen, zu stoppen. Ich habe keine großen Hoffnungen in die Araber. Aber auch nicht in die Europäer, die warten immer ab, sie nutzen einfach nicht ihren politischen Einfluss auf Israel und auf Amerika. Und sie verschwenden auch noch ihr Geld. Israel zerstört und die Europäer kommen und bauen wieder auf. Dann kommt Israel wieder und zerstört und sie kommen und bauen wieder auf! Nein, ich habe keine sehr großen Hoffnungen.“

Wo Politik versagt und Hoffnung wenig Nahrung findet, bleibt noch immer der Traum von einer besseren Zukunft. Hätten sie einen Wunsch frei, ganz persönlich für sich, gibt es für alle drei Frauen nur eins: Gerechtigkeit und die Rückkehr in ihre palästinensische Heimat.




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