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Kein Sieger, kein Verlierer

UN-RESOLUTION 1701: Ein erstaunlich realistisches Dokument

Von Von Peter Strutynski *

Immer wenn die Kommentatoren mit dem Gemeinplatz auftrumpfen, der UN-Sicherheitsrat sei eine "Schnecke", ein "ohnmächtiger Debattierclub" oder ein höchst überflüssiges, weil handlungsunfähiges Gremium, sollte Vorsicht walten. Allzu oft verbindet sich derartige Disqualifizierung mit unzweideutigen Aufforderungen, die Weltorganisation doch endlich links liegen zu lassen und das weltpolitische Geschäft lieber entschlosseneren Institutionen zu übereignen - der NATO etwa oder gleich den USA. Bei all der aufgestauten Unduldsamkeit angesichts des sieben Wochen dauernden Nahostkrieges bleiben zwei fundamentale Erkenntnisse außer Betracht: Erstens ist der Sicherheitsrat keine neutrale Instanz, sondern allein wegen der fünf Vetomächte auf höchster Ebene institutionalisierte Interessenpolitik. Zum zweiten ist keinem Gewaltkonflikt dieser Erde mit einer einzigen Resolution beizukommen, schon gar nicht einem solch erbitterten und komplexen Konflikt wie dem im Nahen Osten.

In der nun verabschiedeten Resolution 1701 vom 11. August brechen sich denn auch wie in einem Prisma die hohen Erwartungen an einen Waffenstillstand, die höchst widerstreitenden Interessen der Kriegsparteien und das höchst konträre Verständnis des Konflikts durch die Vetomächte. Nachdem alle Versuche des derzeitigen Sicherheitsratsmitglieds Katar gescheitert waren, die israelischen Interventionen im Gazastreifen und im Libanon als völkerrechtswidrige Aggression zu verurteilen, hatte sich Frankreich zunächst seiner eigenen Verantwortung erinnert (man stellt immerhin den Kommandeur der im Südlibanon stationierten UN-Blauhelme von UNIFIL) und brachte einen Resolutionsentwurf ein, der eine sofortige Waffenruhe und die Rückkehr zum status quo ante im Libanon vorsah. Das sich abzeichnende Veto der USA führte dann am 5. August zu einer gemeinsamen französisch-amerikanischen Resolution, die freilich so eindeutig die Handschrift Washingtons trug, dass sie die Vetomächte Russland und China empörte.

Also rangen sich Franzosen und Amerikaner mit dem Dokument Nr. 1701 einen vom ursprünglichen Entwurf stark abweichenden Text ab. Gewiss: Auch hierin finden sich noch unzureichende Analysen der Kriegsursache (wenn etwa allein auf die Gefangennahme der beiden Israelis am 12. Juli verwiesen wird) und ein unausgewogener Umgang mit den Konfliktparteien (die Hisbollah muss alle Kampfhandlungen, Israel nur die "offensiven" einstellen). Andererseits wird gemäß dem "Sieben-Punkte-Plan" der Beiruter Regierung klar der Abzug der israelischen Armee aus dem Südlibanon verlangt, parallel zur Dislozierung libanesischer Truppen sowie eines 15.000-Mann-Schutzkorps der UNO. Vollkommen neu gegenüber dem ursprünglichen Entwurf ist der Verweis auf eine nachhaltige Lösung des Gesamtkonflikts, wodurch auch die uralten UN-Resolutionen 242 und 338 zu ihrem Recht kommen - jene Beschlüsse des Sicherheitsrates von 1967 beziehungsweise 1973, die den Palästinensern einen eigenen Staat zuerkennen und Israel nur die Grenzen zubilligen, die vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 bestanden. Sogar das seit langem ungelöste Problem der von Israel besetzten Shebaa-Farmen wird in Resolution 1701 angesprochen, ein rund 30 Quadratkilometer großes Gebiet, auf das sowohl Libanon als auch Syrien Rechtsansprüche erheben: Generalsekretär Annan soll dem Sicherheitsrat in einem Monat schon eine Lösungsvariante vorlegen.

Fest steht, die Kriegsziele Israels - und man kann getrost hinzufügen: der USA - wurden nicht erreicht. Im Gegenteil: Wenn am ersten Tag der Waffenruhe Hisbollah-Anhänger in Beirut wie Sieger feiern, dann haben sie zumindest zur Hälfte Recht. Die Partei Gottes hat mehr Rückhalt im arabischen Raum gewonnen. Ihr Einfluss auf die Regierung in Beirut dürfte wachsen. Der von den Israelis gewollte Regimewechsel im Libanon ist gestundet. Der Nicht-Sieg Israels und die Nicht-Niederlage der Hisbollah sollten allen Beteiligten nahe legen, es kann in dieser Region keine isolierten Lösungen geben - helfen wird nur ein umfassender politischer Ansatz. Die Resolution 1701 erlaubt eine Ahnung, dass diese Gewissheit wieder an Boden gewinnt.

* Aus: Freitag 33, 18. August 2006


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