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Libanon: Zerrissen, aber ungebändigt

Impressionen aus einem kriegsversehrten Land, das am kommenden Sonntag [7. Juni] wählt

Von Hannes Hofbauer, Beirut *

Die Fahrt vom Libanon-Gebirge hinunter in die Hauptstadt Beirut gestaltet sich als wilder Tanz hunderter Fahrzeuge auf einem spurlosen, sich in engen Kurven windenden Asphaltband. Lkw aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, Busse und Taxis aus Damaskus mischen sich mit den örtlichen Verkehrsteilnehmern zu einer wundersam unfallfreien Jagd nach dem jeweils besten Platz vor dem nächsten Verkehrsstillstand. Das vom Salz des Mittelmeeres auf den Straßen verursachte Quietschen der Reifen begleitet den Reisenden, der sich ansonsten ganz der Mischung aus arabesker Musik und der fantastisch anmutenden Vogelperspektive auf die direkt am Wasser liegende Stadt hingeben kann.

Beirut ist ein Moloch. Er leidet sichtbar unter der kruden Form des Kapitalismus, der hier, an der Schnittstelle von Asien und Europa, keine Regeln zu kennen scheint. Alles ist privatisiert, jeder kämpft um das Leben seiner Familie, der Staat versucht mit martialischen, allgegenwärtigen Panzersperren, seine Existenz zu behaupten. Die vom jüngsten israelischen Bombenkrieg im Juli 2006 zerstörte Brücke auf der Fahrt von Damaskus hierher an den östlichen Zipfel des Mittelmeeres ist noch nicht wieder aufgebaut, was den Verkehr zusätzlich behindert. Für die Einfahrt ins Zentrum der libanesischen Hauptstadt werden wir über eine Stunde brauchen.

Die Herrschaft der Clans

Der am 14. Februar 2005 ermordete frühere Ministerpräsident, Bauunternehmer und Millionär Rafiq Al-Hariri prägt überall dort, wo seine sunnitischen Glaubensbrüder wohnen, dem Stadtbild seinen Stempel auf. Auf riesigen Plakatflächen lächelt er den Vorüberfahrenden entgegen und erinnert daran, dass am 7. Juni Parlamentswahlen bevorstehen. Ein Religionsproporz bis hinunter zu den einzelnen Wahlkreisen macht die Stimmabgabe weniger zu einem nationalen Willensakt als zur Bestätigung des konfessionellen Schlüssels, wie er im Abkommen von Taif 1989 festgeschrieben worden war. Im Übrigen gilt per Verfassung: Der libanesische Ministerpräsident hat Sunnit zu sein, der Präsident christlicher Maronit, während sich die Schiiten mit dem Posten des Parlamentspräsidenten begnügen müssen.

Hariris Sohn Saad tritt mit den bevorstehenden Wahlen in die Fußstapfen seines Vaters. Dies entspricht dem in Libanon vorherrschenden Konzept von Clanherrschaft. Auf diese Weise werden sowohl die wirtschaftlichen Pfründe als auch die politische Macht aufgeteilt. Die Ausnahme bildet der Schiitenführer Sayed Hasan Nasrallah, dessen Gottespartei – die Hizbollah – die libanesische Gesellschaft umformt und auf für Europäer seltsam anmutende Weise erneuert. Nasrallah kommt aus kleinsten Verhältnissen, was für einen libanesischen Politiker seit Menschengedenken undenkbar gewesen war.

In Downtown Beirut ist indes von der schiitischen Partei Gottes nichts zu sehen. Hier dominieren die Hariri-Sunniten, nach einer Massendemonstration im Frühling 2005 auch die »Allianz des 14. März« genannt. Downtown wirkt auf den ersten Blick wie eine Geisterstadt. Die letzten Bauwunden des 15 Jahre dauernden Bürgerkrieges werden hier gerade geschlossen. Auf Ruinen wurden ein neues Stadtviertel mit Wohnungen für Betuchte und Verwaltungseinrichtungen im arabisch-neoklassischen Stil aufgebaut. Soldaten mit geschulterten Maschinenpistolen bevölkern den Hauptboulevard und weisen einen darauf hin, in welche Richtung keine Fotoaufnahmen erwünscht sind. Als strategisch gilt in einer Stadt, in der zwischenzeitlich Parlamentsabgeordnete aus Sicherheitsgründen schon mal im streng bewachten Hotel »Phoenicia« fern von ihren Familien leben müssen, jedes Parteibüro oder Wohnhaus eines Neffen vom Neffen vom Neffen vom Parteichef.

Freitagsgebet in der Hariri-Moschee

Auch das neu errichtete Gotteshaus trägt im Volksmund den Namen des Ermordeten. Unter den mehr als 1000 Betenden auch ein von Bodyguards umstellter Minister. Direkt davor parken vierradgetriebene dunkle Cherokees neben noblen Limousinen. Neben der zentralen Moschee leuchtet ein großes weißes Zelt in der Mittagssonne, in dem unter einem riesigen Rosenbeet der Sunnitenführer seine vorerst letzte Ruhestätte gefunden hat. Im Zelt nebenan liegen die beim selben Anschlag ums Leben gekommenen sechs Leibwächter.

Dayieh ist wieder aufgebaut

Der Süden der Hauptstadt, links und rechts der die ganze Gegend durchschneidenden Flughafenautobahn gelegen, ist Schiitenland. Anfangs ist es noch das Konterfei des alten Polithaudegens Nabih Berri, der von Transparenten winkt, bis dann in Dayieh klar wird, wer hier in den Vororten das Sagen hat. Überall wehen die gelben Fahnen mit dem grünen Schriftzug über der martialisch emporgestreckten Maschinenpistole. Nasrallah in allen Posen, dazwischen Plakate, die den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Khomeni sowie einen uns unbekannten Militärchef der Hizbollah zeigen. Erst nach und nach fällt auf, was hier in den ausschließlich schiitischen Vororten fehlt. Man hatte sich fast daran gewöhnt, an jeder größeren Straßensperre und auf jeder Brücke Panzern zu begegnen, bis einem auffällt, dass im Hizbollah-Land die libanesische Armee Zurückhaltung übt.

Wir wollen Abdel Halim Fadlallah, den Chef des von der Hizbollah aufgebauten Dokumentationszentrums, treffen. Für ortsunkundige Europäer kein leichtes Unterfangen. Straßennamen sagen den Menschen nichts, die Stadt ist in kleine Bezirke unterteilt. Ansonsten fragt man nach dem nächsten größeren Geschäft oder einer Moschee, dort weiß dann jemand Bescheid, wo sich dieses Büro oder jene Anlaufstelle befindet.

Die »Phantasy world« soll uns als Bezugspunkt dienen. Von dort, so hat es geheißen, wären es nur mehr 200 Meter bis ins Dokumentationszentrum. Ohne Telefon haben wir es nicht geschafft, ja, es bedurfte noch eines extra ausgesandten Fahrers, um uns an den vereinbarten Ort zu lotsen.

Der Stadtteil selbst ist weitgehend wieder aufgebaut. In 34 Bombentagen war der Süden Beiruts im Sommer 2006 von der israelischen Armee nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden. Kein Stein stand mehr auf dem anderen. In unheimlichem Tempo wurden die Trümmer weggeräumt, die damals über viele Fernsehstationen in alle Welt getragenen Schreckensbilder der israelischen Aggression sind heute nur mehr an wenigen Stellen zu sehen. Häufiger noch trifft man in christlichen und sunnitischen Vierteln auf Ruinen des libanesischen Bürgerkrieges, der zwischen 1975 und 1990, verschärft durch die israelische Invasion des Jahres 1982, das Land verheert hatte.

Seit damals anhaltende Streitigkeiten über Besitzverhältnisse haben beispielsweise das legendäre Hotel St. George, direkt am Meeresboulevard, der Corniche, gelegen, bis heute zu einem Mahnmal des Krieges gemacht.

Fahrt ins Bekaa-Tal

Die zwischen den Gebirgsketten des Libanon und des Antilibanon sich erstreckende, rund 1000 Meter über dem Meeresspiegel gelegene Bekaa-Ebene gilt als Kornkammer Libanons. Je weiter nördlich man sich begibt, desto schiitischer wird die Bevölkerung, desto häufiger begegnen einem die typischen, handgemalten Bilder Nasrallahs und der ihn umgebenden Militärchefs.

In Douris fällt zur Linken ein Bild Yasser Arafats auf. Der nähere Augenschein ergibt, dass hier eines der ältesten und größten Palästinenserlager in Libanon liegt. Arafat muss sich die Propagandaplätze mit dem von den Israelis ermordeten Scheich Ahmad Yassin sowie dem im syrischen Exil lebenden Hamas-Führer Chalid Maschal teilen.

3500 Flüchtlinge leben hier unweit der historischen Ausgrabungsstätte von Baalbek. Die drei Jungen, mit denen wir ins Gespräch kommen, wissen gut über ihr Lager Bescheid. Der unter der französischen Kolonialverwaltung als große Kaserne erbaute Komplex ist 1948, nach der Vertreibung der Palästinenser aus dem späteren Israel, in ein Flüchtlingslager umgewandelt worden. Alle drei sind hier geboren, gehen hier zur Schule. Palästina haben sie freilich noch nie gesehen.

Sie versichern uns, dass im Lagerleben keine Konflikte zwischen Fatah- und Hamas-Anhängern bestehen. Der palästinensische Wachsoldat, der unser Gespräch aus einer gewissen Distanz interessiert verfolgt, ohne Hand an seine Kalaschnikow zu legen, will dann allerdings doch nicht fotografiert werden.

Die Zelte in unmittelbarer Nähe des römischen Baalbek beherbergen Beduinen, die jeden Frühling aus der Wüste über die Berge kommen, um im fruchtbaren Bekaa-Tal ihre Schafherden zu weiden. Sie leben außerhalb der libanesischen Gesellschaft, mit deren konfessionellen und sozialen Spaltungen sie nichts zu tun haben. Ein Rest von vormodernem Dasein strahlt von ihnen aus, als ob alles, was rund um sie passiert, sie nichts angehen würde. An Panzersperren stoppen freilich auch ihre Trucks, deren Ladeflächen nach Bomben und Waffen durchsucht werden.

* Aus: Neues Deutschland, 4. Juni 2009


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