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Zerstörung eines Landes

Droht Libyen der gleiche Absturz wie dem Irak? Überlegungen über den drohenden "Preis der Freiheit"

Von Joachim Guilliard *

Seit sieben Wochen führen ­­NATO-Staaten Krieg gegen Libyen. Ein Ende der Angriffe ist nicht abzusehen. Immer wieder wird die Hauptstadt Tripolis von schweren Explosionen erschüttert. Man wolle den »Druck« auf das Regime von Muammar Al-Ghaddafi so lange aufrechterhalten, bis die Gewalt beendet ist, lautet die verquere Logik des westlichen Militärpakts. Bei den Protesten der Friedensbewegungen, etwa bei den Ostermärschen im vergangenen Monat, wird der neue Krieg der ­NATO meist mit keinem Wort erwähnt. Gingen nach den US-Angriffen auf Tripolis und Bengasi 1986 noch Tausende Menschen voller Empörung über die willkürlichen Bombardierungen auf die Straße, so bleiben die Proteste heute sehr verhalten. Viele scheuen sich, Stellung gegen den Krieg zu beziehen, avancierte Libyen doch im Westen, im Zuge der Kriegsvorbereitungen, in kurzer Zeit zur übelsten Diktatur. Auch viele Kriegsgegner übernehmen das von Politik und Medien gezeichnete Bild eines Kampfes des »Volkes« gegen den »Tyrannen Ghaddafi«. Doch hat der Revolutionsführer weiterhin viele Anhänger und treffen die Zerstörungen des Krieges weite Teile der Bevölkerung, die ihn – unabhängig davon, wie sie zu Ghaddafi stehen – mit Sicherheit nicht wollte.

Leichtfertig wird übersehen, welch einen fürchterlichen Preis Bürgerkrieg und ­NATO-Intervention von den Libyern fordern kann. Schließlich hatte Libyen bis jetzt den höchsten Lebensstandard in Afrika, und das »Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen« (UNDP) bescheinigte dem nord­afrikanischen Land beste Aussichten, die Entwicklungsziele der UNO bis 2015 zu erreichen. Diese Hoffnungen dürfte der ­NATO-Krieg bereits zerstört haben. Dem Land droht nun ein Absturz vergleichbar dem im Irak.

Wenig hat man in den vergangenen Jahren über Libyen gehört, das Verhältnis zum Westen hatte sich entspannt, europäische Regierungschefs trafen sich nun oft mit ihrem libyschen Kollegen Ghaddafi, die Geschäfte blühten. Im Zuge der Kriegsvorbereitung wurde das Land plötzlich zur übelsten Diktatur. Auch viele Kriegsgegner übernehmen die Charakterisierung und wünschen den Sturz des »Despoten«. Doch läßt sich das libysche Gesellschaftssystem tatsächlich auf Ghaddafi reduzieren, sind die Verhältnisse in Libyen tatsächlich schlimmer als in hundert anderen Ländern und gibt es nicht wesentlich mehr Faktoren, die die Lebensverhältnisse eines Landes bestimmen, als die bürgerlichen Freiheiten?

Für Richard Falk, den UN-Sonderberichterstatter für die Menschenrechte in Palästina, ist »der »Grad der Unterdrückung« in Libyen nicht »durchdringender und schwerer« als in anderen autoritär regierten Ländern. Auch nach den Länderberichten von Amnesty International unterscheidet sich die Menschenrechtssituation Libyens kaum von unzähligen anderen Staaten, bei arabischen Verbündeten in der ­NATO-Kriegsallianz wie Saudi-Ara­bien ist sie sogar wesentlich schlimmer. Der UN-Menschenrechtsrat hat das Land im Bericht zur jüngsten »allgemeinen regelmäßigen Überprüfung« Libyens, die Ende letzten Jahres vorgenommenen wurde, sogar für seine Fortschritte bei den Menschenrechten gelobt. Zahlreiche Länder – darunter Venezuela und Kuba, aber auch Australien und Kanada – hoben in ihren Erklärungen einzelne Aspekte noch besonders hervor.

Für westliche Medien ist dieser Bericht, dessen abschließende Diskussion nun kurzfristig von März auf Juni verschoben wurde, ein Skandal – für sie eine Folge der vielen, selbst noch »wenig zivilisierten« Mitglieder des Menschenrechtsrats aus dem Süden. Doch betrachtet dieser die Lebensverhältnisse nur unter einem anderen Blickwinkel und legt sehr großes Gewicht auf die Verwirklichung sozialer Rechte, d.h. auf das, was für die meisten Menschen die größte Bedeutung hat: die Befriedigung der grundlegenden Bedürfnisse, ausreichendes Einkommen, Nahrung, Wohnung, Gesundheitsversorgung und Bildung.

Auch in dieser Hinsicht ist die Situation in Libyen, angesichts von Korruption oder hoher Jugendarbeitslosigkeit, durchaus nicht befriedigend. Im Vergleich mit anderen Ländern stehen die Libyer aber dennoch recht gut da, und sie haben sehr viel durch die ­NATO-Intervention zu verlieren. Der relativ hohe Lebensstandard erklärt auch, warum Ghaddafi durchaus noch Rückhalt im Land hat – besonders, so der Libyen-Experte Andreas Dittmann von der Universität Gießen, unter den älteren Generationen, die sich noch an die früheren Zeiten erinnern.

Entwicklung gebremst

Als 1969 der von den USA und den Briten eingesetzte König Idris gestürzt wurde, war Libyen trotz der 1961 angelaufenen Erdölexporte noch ein armes, vom Kolonialismus schwer gezeichnetes, unterentwickeltes Land. Die schrittweise Nationalisierung der Ölproduktion ermöglichte eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung und rasche Verbesserungen der Lebensbedingungen. Mit dem drastischen Einbruch des Ölpreises zwischen 1985 und 2001 geriet diese Entwicklung ins Stocken. Die 1993 verhängten UN-Sanktionen verschärften die wirtschaftlichen Schwierigkeiten noch enorm. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank von 6600 Dollar pro Kopf im Jahr 1990 auf 3600 Dollar in 2002 und wuchs erst nach der Aufhebung der UN-Sanktionen im September 2003 wieder deutlich.

2008 erreichte das in Kaufkraftparität ausgedrückte BIP laut UNDP pro Kopf 16200 Dollar. Zum Vergleich: Das BIP von Ägypten betrug im selben Jahr 5900 Dollar, das Algeriens und Tunesiens ca. 8000 Dollar. Saudi-Arabien hatte ein BIP von zirka 24000, Kuwait von 51500 und Katar von 72000 Dollar.

Soziale Erfolge

Die Wirtschaftssanktionen blockierten eine Modernisierung der Infrastruktur und brachten insbesondere alle Pläne, neben dem Erdöl auch andere Industriezweige zu entwickeln, praktisch zum Erliegen. Der wirtschaftliche Niedergang bremste natürlich auch die Entwicklung in sozialen Bereichen. Libyen sackte beim »Human Development Index« (HDI), der anhand einiger Basisindikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit und Alphabetisierung das Entwicklungs- und Lebensniveau eines Landes zu messen sucht, Mitte der 90er Jahre vom 67. auf den 73. Platz ab.

Nachdem die Staatseinnahmen, unterstützt durch den Anstieg des Ölpreises, reichlicher flossen, verbesserten sich auch die Lebensbedingungen wieder deutlich. Das Land liegt mittlerweile auf HDI-Rang 53, vor allen anderen afrikanischen Ländern und auch vor dem reicheren und vom Westen unterstützten Saudi-Arabien. Mit »Regierungssubventionen in Gesundheit, Landwirtschaft und Nahrungsimport«, bei »gleichzeitiger Steigerung der Haushaltseinkommen«, konnte nun die »extreme Armut« praktisch beseitigt werden, stellt die UNDP in ihrem Monitor der UN-Millenniumentwicklungsziele fest. Die Lebenserwartung stieg auf 74,5 Jahre und ist damit die höchste in Afrika. Die Kindersterblichkeit sank auf 17 Tote pro 1000 Geburten und ist damit nicht halb so hoch wie in Algerien (41) und auch geringer als in Saudi-Arabien (21). Libyen liegt auch bei der Versorgung von Schwangeren und der Reduzierung der Müttersterblichkeit vorne. Die Malaria wurde vollständig ausgerottet.

Die Analphabetenrate sank in Libyen auf 11,6 Prozent und liegt deutlich unter der von Ägypten (33,6), Algerien (27,4), Tunesien (22) und Saudi-Arabien (14,5). Der vom UNDP ebenfalls berechnete Bildungsindex, in den neben der Alphabetisierung auch die Zahl von Schülern in höheren Schulen und Studenten eingeht, liegt sogar über dem der kleinen superreichen Scheichtümer Kuwait und Katar, die man an sich kaum mit den arabischen Flächenstaaten vergleichen kann.

Auch der Irak hatte in den 1980er Jahren einen relativ hohen Lebensstandard, höher noch als der Libyens. Dieser brach bereits unter dem mörderischen UN-Embargo massiv ein. Ihre »Befreiung« von Saddam Hussein stürzte die irakische Gesellschaft dann vollends in den Abgrund. Der Zerfall schreitet noch immer fort. Millionen Iraker hungern, und der Nahrungsmangel weitet sich sogar noch aus. Die Hälfte der knapp 30 Millionen Einwohner lebt in äußerster Armut. 55 Prozent haben kein sauberes Trinkwasser, 80 Prozent sind nicht an das Abwassersystem angeschlossen. Strom gibt es nur stundenweise, die einst vorbildlichen Gesundheits- und Bildungssysteme liegen am Boden.

Es gibt keinen Grund anzunehmen, daß ein von den ­NATO-Staaten durchgesetzter »Regime Change« in Libyen viel besser für das Land ausgehen würde, von einem langem Bürgerkrieg und einer Teilung des Landes ganz zu schweigen. Schließlich sind die angreifenden Mächte und ihre Agenda nahezu identisch und ähnelt auch die Führung der Aufständischen in vielem der der Iraker, die die USA im Zweistromland an die Regierung brachten – radikale islamische Organisationen und prowestliche, neoliberale Verfechter einer vollständigen Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft des Landes.

* Eine ausführlichere Fassung und Quellenhinweise finden sich im Internet: jghd.twoday.net

Aus: junge Welt, 5. Mai 2011


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