Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

NATO schlägt Angebot mit Bomben aus, 03.05.2011

Neue Luftangriffe am Wochenende auf Tripolis / Libysche Regierung: ein Sohn und drei Enkel Gaddafis getötet

Von Karin Leukefeld *

Mit einem massiven Luftangriff haben NATO-Kampfjets in der Nacht zum Sonntag ein Wohnhaus der Gaddafi-Familie in Tripolis zerstört. Dabei sollen der jüngste Sohn Saif al-Arab (29) und drei Enkelkinder Gaddafis getötet worden sein. Gaddafi selber und seine Frau, die sich auch in dem Haus aufhielten, überlebten nach offiziellen Angaben den Angriff.

In Tripolis stationierte ausländische Journalisten wurden am Sonntag zu dem Wohnhaus im Regierungsviertel Bab al-Aziziya gebracht und konnten sich von der massiven Zerstörung selber ein Bild machen. Ein BBC-Reporter beschrieb das von Trümmern übersäte Haus, Decken und Wände waren eingestürzt. Es sei kaum vorstellbar, »dass jemand unverletzt aus dem Haus entkommen« konnte. Man habe aber keine Leichen gesehen, daher könne man die Todesfälle nicht bestätigen.

Regierungssprecher Musa Ibrahim warf der NATO vor, einen gezielten Angriff auf Oberst Gaddafi geflogen zu haben, was weder mit der UN-Sicherheitsratsresolution 1973 noch mit dem internationalen Völkerrecht vereinbar sei. Generalleutnant Charles Bouchard, der die Operation in Libyen leitet, betonte, alle Ziele der NATO seien »militärischer Natur«. Man bedauere jeden Tod, insbesondere von unschuldigen Zivilisten.

Sowohl China als auch Russland kritisierten erneut das Vorgehen der NATO in Libyen als unvereinbar mit der UN-Resolution 1973, die vorsieht, dass Zivilisten mit einer Flugverbotszone geschützt und Waffenlieferungen an Gaddafi unterbunden werden sollen. Der britische Premierminister David Cameron sagte, die Angriffspolitik der NATO stimme mit der UN-Resolution überein.

Am Samstagmorgen (30. April) hatte sich Gaddafi erneut per Fernsehen an die NATO gewandt und Verhandlungen angeboten. Die Angriffe sollten eingestellt werden, die Libyer bräuchten die Chance, ihre internen Konflikte selber zu lösen. Wenn der Westen das Öl wolle, könne man mit ihren Ölfirmen Verträge abschließen, so Gaddafi. Es lohne sich nicht, dafür das Land zu zerstören. Die NATO und die Oppositionellen in Bengasi betonten, erst wenn alle Regierungstruppen wieder in den Kasernen seien, werde man über Verhandlungen nachdenken. Unmittelbar nach Bekanntwerden des Todes der Gaddafi-Angehörigen veranstalteten Oppositionelle in Bengasi ein Freudenfeuer. In Tripolis dagegen gingen Gaddafi-Anhänger auf die Straße und zogen vor die Botschaften Großbritanniens, der USA und Italiens. Auch UN-Gebäude sollen Ziel wütender Demonstranten geworden sein,

Mit Saif al-Arab wurde zum zweiten Mal ein Kind Gaddafis bei einem ausländischen Luftangriff getötet. Im April 1986 kam seine 15 Monate alte Adoptivtochter bei einem Angriff von US-Kampfjets ums Leben. Über 100 Menschen starben damals. Der Angriff galt als Vergeltung für die Explosion in der Berliner Diskothek La Belle.

Chronologie

Am Samstag (30. April) bot Muammar al Gaddafi einen allseitigen Waffenstillstand an und erklärte sich bereit, ohne Vorbedingungen mit den USA und Frankreich zu verhandeln. Die Ernsthaftigkeit dieses Angebots wurde seitens der NATO nicht geprüft, sie antwortete mit neuen Luftangriffen auf Tripolis. Agenturmeldungen dieses Wochenendes im Zeitraffer:
  • Samstag, 00.07 Uhr, AFP:
    Libysche Regierung bietet Aufständischen in Misrata Amnestie an – Rebellen sollen dafür Kämpfe einstellen und Waffen niederlegen
  • Samstag, 04.29 Uhr, dpa:
    Gaddafi zeigt sich offen für Verhandlungen mit NATO
  • Samstag, 16.20 Uhr, AFP:
    NATO weist Angebot Gaddafis zu Verhandlungen zurück – Regierungstruppen erobern Oasenstadt Dschalo
  • Sonntag, 00.58 Uhr, dpa:
    Gaddafi-Sohn bei NATO-Luftschlag auf Tripolis getötet
  • Sonntag, 04.15 Uhr, AFP:
    NATO bestätigt Luftangriffe auf Libyens Hauptstadt Tripolis – Militärbündnis äußert sich aber nicht zu Tod von Gaddafis Sohn


* Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2011


Strategie der Eskalation

Von Olaf Standke **

Am liebsten, so der Eindruck gestern, wäre es der NATO wohl, Gaddafis jüngster Sohn lebte noch. Der britische Premierminister David Cameron machte deutlich, warum: Er verknüpfte seine Zweifel am Tod des 29-Jährigen und dreier Enkel Gaddafis mit der Rechtfertigung der NATO-Luftangriffe durch das nach wie vor beanspruchte Ziel, in Libyen Zivilisten vor dem Tod zu retten. Tote Kinder sind da offensichtlich billigend in Kauf genommene »Kollateralschäden«, wenn man auf den Despoten selbst zielt.

Denn so interpretiert nicht nur Moskau das jüngste Vorgehen des Nordatlantik-Paktes und verlangt Antworten beim nächsten gemeinsamen Treffen des NATO-Russland-Rates. Schließlich hatte man sich im Weltsicherheitsrat ein Veto gegen die Libyen-Resolution verkniffen. Was also ist wirklich durch das verschwommene UNO-Mandat abgedeckt? Was immer man Gaddafi zu Recht zur Last legen muss, die völkerrechtliche Grundlage für Tyrannenmord bietet es nicht. Und wohin soll dieser Luftkrieg gegen Gaddafis Paläste eigentlich führen? Wenn alle Angebote zur Waffenruhe und für Verhandlungen, die aus Tripolis kommen, in Brüssel wie Bengasi per se abgeschmettert werden, bliebe ja nur eine militärische Eskalation samt Enthauptungsschlag, um den Konflikt im Sinne der NATO zu lösen. Wenn das die Strategie der Allianz nach über einem Monat Krieg in Libyen ist, sind noch viel mehr zivile Opfer zu befürchten.

** Aus: Neues Deutschland, 2. Mai 2011 (Kommentar)


Zurück zur Libyen-Seite

Zur NATO-Seite

Zurück zur Homepage