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Folter gängige Praxis

UN-Menschenrechtsbeauftragte beklagt Mißhandlung von Gefangenen in Lagern libyscher Milizen. Bewohner mehrerer Städte lehnen sich gegen Übergangsrat auf

Von Knut Mellenthin *

Das Fehlen einer zentralen staatlichen Autorität in Libyen begünstigt ein Klima, in dem Folter und Mißhandlungen praktiziert werden. Zu dieser Feststellung kam die Menschenrechtsverantwortliche der Vereinten Nationen, Navi Pillay, am Mittwoch (25. Jan.) in einem Bericht. Nach den Erkenntnissen ihrer Abteilung werden in dem von der NATO »befreiten« Land ungefähr 8500 Menschen in mehr als 60 örtlichen Haftzentren gefangengehalten. Viele dieser Einrichtungen werden von konkurrierenden Milizen betrieben, die sich immer öfter auch gegenseitig mit den reichlich vorhandenen Schußwaffen bekämpfen. Die Mehrheit der Gefangenen sind nach Angaben der südafrikanischen UN-Expertin Menschen, denen vorgeworfen wird, daß sie Anhänger des gestürzten Staatschefs Muammar Al-Ghaddafi gewesen seien. Unter ihnen sei eine große Anzahl Bürger anderer afrikanischer Staaten. Pillay rief den Nationalen Übergangsrat (NTC) der Rebellen auf, die Kontrolle über die inoffiziellen Gefängnisse zu übernehmen, alle Fälle zu überprüfen und mit den Gefangenen unter gesetzlichen Rahmenbedingungen umzugehen. Wie die Menschenrechtsorganisation Amnesty International am Donnerstag mitteilte, seien mehrere Gefangene gestorben, nachdem sie in den vergangenen Wochen in von Milizen kontrollierten Lagern gefoltert worden seien. Die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« stellte aus Protest ihre Arbeit in einem Internierungslager der Milizen ein.

Indessen hat sich die Lage in dem südlich von Tripolis gelegenen Bani Walid nach Auskunft des NTC wieder beruhigt. Die Stadt war am Montag von rund 150 schwerbewaffneten, offenbar gut ausgebildeten Kämpfern übernommen worden, nachdem sie in mehrstündigen Gefechten die dort stationierte Rebellenmiliz in die Flucht geschlagen hatten.

Der örtliche Übergangsrat der Rebellen, praktisch die Stadtverwaltung, bezeichnete die Angreifer als »Anhänger des alten Regimes«. Die Rede war von Hochrufen auf Muammar Al-Ghaddafi und von grünen Fahnen – die frühere Staatsflagge –, die auf mehreren Gebäuden gehißt worden seien. Dieser Darstellung widersprachen jedoch sowohl der NTC als auch Beobachter der UNO und die neuen Herren der Stadt. Journalisten, die am Dienstag nach Bani Walid kamen, berichteten, daß zwar an manchen Mauern Pro-Ghaddafi-Parolen zu sehen seien, aber daß die neue rot-grün-schwarze Staatsflagge vorherrschend sei.

Tatsächlich war Bani Walid eine der letzten Städte gewesen, deren Verteidiger sich im Oktober vorigen Jahres den Rebellen ergaben – und auch das erst nach einer sechswöchigen Belagerung. Die Mehrheit der Bewohner gehört den Warfalla, dem größten Stamm des Landes, an. Viele Warfallas hatten tatsächlich Ghaddafi unterstützt. Bei der aktuellen Auseinandersetzung scheint es aber nicht darum zu gehen, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, sondern lokale Autonomie gegen die aus anderen Landesteilen zusammengekommenen Rebellenmilizen durchzusetzen.

Am Mittwoch (25. Jan.) kam der Verteidigungsminister der Rebellenregierung, Osama Al-Dschuwali, nach Bani Walid, um mit den Stammesältesten der Stadt und ihrer Umgebung über eine politische Lösung zu verhandeln. Er soll dabei, so jedenfalls die Darstellung der Warfalla, den am Dienstag gebildeten neuen Stadtrat anerkannt haben. »Wir haben ihm gesagt, daß wir den Frieden im gesamten Land erhalten wollen und daß die nationale Einheit unsere Priorität ist«, erläuterte ein Vertreter des Ältestenrats des Stammes. Ein Vertreter des Verteidigungsministeriums bestätigte grundsätzlich, daß Dschuwali die neue Stadtverwaltung anerkannt habe, wollte die Vorgänge aber nicht näher kommentieren.

Ob diese Einigung aber auch von allen Rebellenmilizen akzeptiert wird, erscheint noch ungewiß. Berichten zufolge haben die von den Warfalla aus Bani Walid vertriebenen Rebellen inzwischen Verstärkung durch mehrere hundert Kämpfer aus anderen Landesteilen erhalten. Sie sollen einen Belagerungsring um die Stadt gezogen und bewaffnete Kontrollposten in deren Umgebung eingerichtet haben.

Ein angespannter Waffenstillstand herrscht derzeit auch zwischen den rund 70 Kilometer südlich von Tripolis gelegenen Städten Assabia und Gha­ryan am Rande der Nafusa-Berge. Zuvor hatten sich örtliche Milizen drei Tage lang unter Einsatz von Mörsern und Raketenwerfern erbittert bekämpft. Der Militärrat von Gharyan behauptete, die verfeindete Stadt werde von über 1000 Ghaddafi-Anhängern beherrscht. In Assabia wurde diese Darstellung entschieden bestritten. Dafür warf man der Gegenseitige willkürliche Festnahmen und brutale Folterungen vor. Der Streit wurde durch Vermittlung führender Mitglieder des NTC und der Rebellenregierung vorläufig geschlichtet, kann aber nach Einschätzung von Beobachtern jederzeit erneut entbrennen.

* Aus: junge Welt, 27. Januar 2012

Libyen: Häftlinge werden gefoltert und erhalten keine medizinische Hilfe - Ärzte ohne Grenzen beendet die Arbeit in Internierungszentren in Misrata

Pressemitteilung

Tripolis/Berlin, 26. Januar 2012. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen beendet die Arbeit in den Internierungszentren der libyschen Stadt Misrata. Mitarbeiter haben festgestellt, dass Gefangene gefoltert werden und ihnen medizinische Hilfe vorenthalten wird.

Teams von Ärzte ohne Grenzen arbeiten seit August 2011 in den Internierungszentren in Misrata, um kriegsverletzte Gefangene zu behandeln. Die Mitarbeiter waren immer öfter mit Patienten konfrontiert, die Verletzungen als Folge von Folter während Verhören aufwiesen. Diese Befragungen wurden außerhalb der Internierungszentren durchgeführt. Ärzte ohne Grenzen hat insgesamt 115 Patienten behandelt, die Verletzungen durch Folter aufwiesen, und hat alle Fälle an die zuständigen Behörden in Misrata gemeldet. Seit Januar wurden Patienten, die in die Verhörzentren zurückgebracht wurden, sogar erneut gefoltert. Die medizinischen Teams von Ärzte ohne Grenzen wurden außerdem gebeten, Patienten direkt in den Verhörzentren zu behandeln, was die Organisation kategorisch abgelehnt hat.

„Einige Behördenvertreter haben versucht, die medizinische Arbeit von Ärzte ohne Grenzen zu instrumentalisieren oder zu behindern“, erklärt Christopher Stokes, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen in Belgien. „Patienten wurden während der Verhöre zur Behandlung zu uns gebracht, um sie wieder fit zu machen für die Fortsetzung der Befragung. Das ist vollkommen inakzeptabel. Wir sind in Misrata, um Kriegsverletzte und kranke Gefangene medizinisch zu versorgen – aber sicher nicht, um wiederholt dieselben Patienten zwischen Verhörsitzungen zu behandeln.“

Der alarmierendste Zwischenfall geschah am 3. Januar, als die Mediziner eine Gruppe von 14 Gefangenen behandelten, die von einem Verhörzentrum außerhalb der Internierungslager zurückkehrten. Trotz der vorherigen eindringlichen Mahnung von Ärzte ohne Grenzen, die Folterpraktiken mit sofortiger Wirkung einzustellen, wiesen neun der 14 Gefangenen mehrere Verletzungen auf, die offensichtlich auf Folter zurückzuführen waren. Das Team von Ärzte ohne Grenzen informierte den Sicherheitsdienst der Armee, der für die Verhöre zuständig ist, dass mehrere Patienten in Krankenhäuser verlegt werden müssen, da sie dringend spezielle medizinische Hilfe benötigten. Allen Gefangenen – bis auf einen – wurde medizinische Hilfe vorenthalten, und sie wurden zu weiteren Verhören außerhalb des Gefangenlagers gezwungen, wo sie erneut Folter ausgesetzt waren.

Ärzte ohne Grenzen hat mehrere Regierungsvertreter in persönlichen Gesprächen über die Vorgänge informiert. Am 9. Januar hat die Organisation einen offiziellen Brief an den Militärrat von Misrata, an das Sicherheitskomitee in Misrata, an den Sicherheitsdienst der Armee und an den zivilen Stadtrat von Misrata geschickt. Darin hat die Organisation eine sofortige Beendigung jeglicher Misshandlung von Gefangenen gefordert. „Es folgten keinerlei konkrete Maßnahmen“, sagt Stokes. „Stattdessen hat unser Team vier neue Fälle von Folter beobachtet. Deshalb haben wir die Entscheidung getroffen, unsere medizinische Hilfe in den Gefängnissen einzustellen.“

Ärzte ohne Grenzen ist seit April 2011 in Misrata tätig. Seit August 2011 arbeitet die Organisation in den Internierungszentren und behandelt Kriegsverletzte, führt chirurgische Eingriffe sowie orthopädische Nachbehandlungen für Patienten mit Knochenbrüchen durch. Die medizinischen Teams der Organisation haben 2.600 Konsultationen abgehalten. Darunter befanden sich 311 Behandlungen von Gewaltopfern.

Ärzte ohne Grenzen wird seine psychosozialen Aktivitäten in Schulen und Gesundheitseinrichtungen in Misrata weiterführen, ebenso die Hilfe für 3.000 afrikanische Migranten und Vertriebene in Tripolis und Umgebung. Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit dem 25. Februar 2011 in Libyen. Um die Unabhängigkeit der medizinischen Arbeit zu garantieren, verwendet Ärzte ohne Grenzen zur Finanzierung der Projekte in Libyen ausschließlich private Spenden. Die Organisation akzeptiert für die Arbeit dort keinerlei Gelder von Regierungen, Organisationen, militärischen oder politischen Gruppen.

Quelle: Website der "Ärzte ohne Grenzen"; http://www.aerzte-ohne-grenzen.de




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