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Libyen-Front bröckelt

Französischer Minister ruft Rebellen zu Verhandlungen auf. Berlusconi nennt Intervention einen Fehler. Bereits Gespräche zwischen Paris und Tripolis

Von André Scheer *

Am heutigen Dienstag (12. Juli) entscheidet die französische Nationalversammlung in Paris über eine Fortsetzung der französischen Beteiligung am Krieg gegen Libyen. Eine Überraschung ist dabei nicht zu erwarten, denn sowohl die UMP von Staatschef Nicolas Sarkozy als auch die oppositionellen Sozialisten unterstützen weiterhin die Bombenangriffe auf das nordafrikanische Land. Einem Bericht der französischen Wochenzeitung Le Canard Enchaine zufolge soll Sarkozy in der vergangenen Woche sogar von seinen Generälen gefordert haben, Ghaddafi müsse bis zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli gestürzt werden.

Letzte Meldung: Frankreichs Parlament beschließt Fortsetzung des Krieges

Am 12. Juli hat die französische Nationalversammlung die Fortführung der Luftangriffe beschlossen. 482 Abgeordnete stimmten für die Verlängerung, 27 votierten dagegen, die Abstimmung im Senat stand noch aus. In dem nordafrikanischen Land beginne sich nun eine politische Lösung abzuzeichnen, sagte Frankreichs Premierminister François Fillon.
Über die Notwendigkeit waren sich die regierenden Konservativen und die oppositionellen Sozialisten zuvor im Wesentlichen einig gewesen. Gegen die Verlängerung stimmten die Kommunisten und die Mehrheit der Grünen.



Doch hinter den Kulissen brodelt es. Während die Rebellen tapfer Fortschritte melden, kommt die Nachrichtenagentur Reuters zu dem Schluß, trotz der seit mehr als drei Monaten anhaltenden NATO-Luftangriffe hätten die Rebellen »noch keinen Durchbruch« bei ihrem Kampf zum Sturz Ghaddafis erzielt.

Vor diesem Hintergrund werden innerhalb der NATO zunehmend Risse deutlich, zumal der Krieg statt des erhofften schnellen Sieges zunehmend finanzielle und politische Belastungen mit sich bringt. Nicht nur Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi präsentiert sich plötzlich als Kriegsgegner und nennt die Intervention einen »Fehler«. Auch Frankreichs Verteidigungsminister Gerard Longuet forderte am Sonntag die Aufständischen auf, mit der libyschen Regierung zu verhandeln und nicht auf einen Sturz von Staatschef Muammar Al-Ghaddafi zu warten.

Paris selbst verhandelt nach Auskunft von Ghaddafis Sohn Saif Al-Islam bereits mit dem Regime in Tripolis. Entgegen einem Dementi der französischen Regierung sagte er der algerischen Zeitung El-Khabar, ein Gesandter der libyschen Regierung habe direkt mit Sarkozy gesprochen. Dabei habe der Staatschef eingeräumt, daß Frankreich den »Nationalen Übergangsrat« der libyschen Rebellen gebildet habe: »Ohne unsere Unterstützung, unser Geld und unsere Waffen hätte er niemals existieren können.« Angesprochen auf Äußerungen seines Vaters bei einer Kundgebung am Freitag, bei der dieser die Entsendung von Selbstmordattentätern nach Europa angekündigt haben soll, erklärte Al-Islam, es sei das Recht seines Landes, »die Staaten anzugreifen, die uns angreifen«. Die NATO habe den Krieg begonnen, »und nun müsse sie die Konsequenzen tragen«, so Al-Islam.

Der päpstliche Nuntius in Libyen, Giovanni Innocenzo Martinelli, forderte erneut eine sofortige Waffenruhe. Auch Papst Benedikt XVI. habe bereits dreimal von der NATO gefordert, die Bombenangriffe einzustellen, sagte der Vertreter des Vatikans in einem am vergangenen Freitag ausgestrahlten Interview des lateinamerikanischen Fernsehsenders TeleSur. Darin bestritt er auch, daß das libysche Regime gegen die eigene Bevölkerung vorgegangen sei: »Die NATO intervenierte, weil sie gesagt hat, daß es Massaker an Zivilisten gegeben habe, aber ich glaube nicht an diese Hypothese.« Zwar habe es »einige Konflikte« gegeben, »aber Massaker an Zivilisten sind nicht begangen worden«. Im Gegensatz dazu habe die »aggressive« NATO-Intervention zu Verlusten unter der Zivilbevölkerung geführt. Angaben der libyschen Regierung zufolge sind seit Beginn der NATO-Luftangriffe über 800 Menschen ums Leben gekommen, 4700 weitere wurden verletzt.

* Aus: junge Welt, 12. Juli 2011

Aktuelle Meldungen

Pentagon-Chef Panetta: US-Verbündeten in Libyen geht die Puste aus

Einigen Waffenbrüdern der Vereinigten Staaten wird im Libyen-Einsatz in den nächsten 90 Tagen die Puste ausgehen, befürchtet Pentagon-Chef Leon Panetta.
"Das Problem in Libyen besteht heute, offen gesagt, darin, dass viele Länder in den nächsten 90 Tagen ihre Möglichkeiten ausschöpfen werden, so dass die USA verständlicherweise als ein Land wahrgenommen werden, das in die Bresche springen könnte", zitiert Reuters den neuen US-Verteidigungsminister.
Die US-Verbündeten müssten die Einsatzbereitschaft ihrer Streitkräfte erhöhen, betonte Panetta. "Sie müssen ebenfalls in diese Partnerschaft investieren", sagte er. "Wir können nicht bei allen Situationen die Finanzbürde tragen. Die anderen müssen das auch tun."
Die Westkoalition hatte am 17. März eine Militäroperation in Libyen gestartet, deren Führung einige Tage später an die Nato übertragen wurde. Das Mandat für die Operation lief zwar am 27. Juni aus, am 1. Juni verlängerte die Allianz aber die Operation um weitere 90 Tage bis Ende September.
(RIA Novosti, 12. Juli 2011)


Obama will russische Vermittlungsbemühungen in Libyen unterstützen

US-Präsident Barack Obama will russische Vermittlungsbemühungen in Libyen unter der Bedingung unterstützen, dass sie zu einem demokratischen Wandel und dem Abgang von Machthaber Muammar Gaddafi führen. Obama habe dies am 11. Juli dem russischen Präsidenten Dmitri Medwedew gesagt, teilte das Weiße Haus mit. Medwedew hat sich den westlichen Rücktrittsforderungen an Gaddafi angeschlossen. Russische Gesandte sind mehrmals mit Vertretern der libyschen Regierung zusammengetroffen.
(AP, dapd, 12. Juli 2011)


"Ärzte ohne Grenzen" fordert Schutz libyscher Flüchtlinge

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat die Bundesregierung zur Aufnahme und zum Schutz libyscher Flüchtlinge aufgefordert. "Die Rücksendung von Flüchtlingen in ein Land, das sich im Krieg befindet, verstößt gegen Völkerrecht", sagte der Geschäftsführer der Organisation, Frank Dörner, am 12. Juli bei der Vorstellung des Jahresberichts in Berlin. Es sei die Verantwortung der Bundesregierung, diesen Flüchtlingen Schutz zu gewähren. Seit Beginn des Konflikts in Libyen im Februar sind laut Ärzte ohne Grenzen mehr als eine Million Zivilisten aus dem Land geflohen.
(AFP, 12. Juli 2011


UN-Gesandter: Lösung im Libyen-Konflikt noch lange nicht in Sicht

Trotz Vermittlungsbemühungen der Vereinten Nationen ist eine politische Lösung des Libyen-Konflikts nach Einschätzung des zuständigen UN-Gesandten noch lange nicht in Sicht. "Der Verhandlungsprozess (zwischen Rebellen und libyscher Führung) hat begonnen, allerdings sind wir bedauerlicherweise noch weit davon entfernt, eine Lösung zu finden", sagte Abdul Ilah al Khatib nach einem Treffen mit dem UN-Sicherheitsrat am 11. Juli vor Journalisten. Für eine "dauerhafte Lösung" sei eine "politische Einigung" aber vonnöten, ergänzte er.
(AFP, 11. Juli 2011)



Roms Kriegsgegner

Italien kürzt Ausgaben für militärische Auslandseinsätze. Regierungspartei fordert Ende der Angriffe auf Libyen

Von Micaela Taroni, Rom **


In der italienischen Regierung wächst der Unmut wegen der hohen Kosten der NATO-Intervention in Libyen, die das Land extrem belasten. In der vergangenen Woche äußerte nun sogar Ministerpräsident Silvio Berlusconi schwere Bedenken und bezeichnete die Luftangriffe auf das nordafrikanische Land als Fehler. »Ich war und bin gegen diese Intervention, bei der keiner weiß, wie sie enden wird«, sagte Berlusconi, der in den vergangenen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu Libyens Staatschef Muammar Al-Ghaddafi unterhalten hatte. Die Regierung habe sich an der Mission beteiligt, weil ihr durch ein Votum des Parlaments die Hände gebunden gewesen seien.

Die ehemalige Kolonialmacht Italien galt bis zum Beginn des Aufstands gegen die libysche Regierung Mitte Februar als Tripolis’ engster Verbündeter und wichtigster Handelspartner in Europa. Heute jedoch werden von italienischen Luftwaffenstützpunkten viele Angriffe auf die libyschen Regierungstruppen geflogen. Doch nun soll die Beteiligung an dem Krieg reduziert werden. Das Kriegsschiff »Garibaldi«, das sich an den Operationen gegen Libyen im Mittelmeerraum beteiligt, soll abgezogen und durch ein kleineres ersetzt werden. Die Finanzierung der Libyen-Mission wurde zudem lediglich bis Ende September genehmigt. Ohnehin hat der italienische Ministerrat in der vergangenen Woche beschlossen, die Finanzierung von Militäreinsätzen im Ausland zu kürzen. Die Ausgaben für solche Auslandseinsätze sollen um etwa 50 Prozent auf 60 Millionen Euro reduziert werden. Bis Ende des Jahres will Italien zudem mehr als 2000 im Ausland stationierte Soldaten zurückziehen. Verteidigungsminister Ignazio La Russa versicherte jedoch, daß sich Italien auch weiterhin an den Einsätzen in Libyen, Afghanistan, im Libanon und im Kosovo beteiligen werde.

Italiens Präsident Giorgio Napolitano, ein früherer Kommunist, der nun der oppositionellen Demokratischen Partei angehört, überholte Berlusconi derweil rechts und warnte, daß Italien seine »Verpflichtungen im Einsatz für Frieden und internationale Sicherheit« nicht vernachlässigen dürfe. Trotz der Einsparungen solle sich Italien weiterhin im Ausland für den Schutz seiner strategischen Interessen einsetzen. Vor allem müsse das Land an seinem Engagement in Libyen festhalten, forderte der Staatschef.

Demgegenüber fordert die mit Berlusconi verbündete Lega Nord ein Ende der Angriffe auf Libyen. Das sei die Voraussetzung, um den Zustrom von Flüchtlingen aus Nordafrika stoppen zu können. Italien und Europa sollten sich ein Beispiel am US-Repräsentantenhaus nehmen, das mit einer breiten Mehrheit beschlossen habe, keine Gelder für die Operation zur Verfügung zu stellen, forderte der italienische Innenminister Roberto Maroni, nach Parteichef Umberto Bossi die »Nummer zwei« der Lega Nord. »Die italienische Regierung und die europäischen Partner sollten Geld in die Entwicklung der Demokratie und nicht für Bomben ausgeben. Solange der Angriff in Libyen fortgesetzt wird, werden Flüchtlinge ankommen, denen geholfen werden muß. Ich hoffe, daß der Krieg bald zu Ende geht, weil man nur mit einer Regierung in Libyen das Problem der Flüchtlinge bewältigen kann«, sagte Maroni.

Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa trafen am letzten Wochenende erneut mehr als 1200 Bootsflüchtlinge aus Libyen ein, seit Jahresbeginn waren es über 11000 Menschen. Zahlen darüber, wieviele Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer ertrunken sind, liegen nicht vor.

** Aus: junge Welt, 12. Juli 2011


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