Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Befreiung nicht immer Sache Gaddafis

Gespräch mit Issam Haddad über das politische System in Libyen


Issam Haddad, geboren 1939 in Tripoli (Libanon), hat über viele Jahre das Internationale Büro der »Demokratischen Front für die Befreiung Palästinas« (DFLP), einer Mitgliedorganisation der PLO, geleitet und in dieser Funktion viele Kontakte in der arabischen Welt und in Europa geknüpft. Er studierte in der Bundesrepublik Medizin und arbeitete als Arzt in Nordrhein-Westfalen, kehrte 1970 in sein Heimatland zurück, verließ es aber wieder nach dessen Besetzung durch Israel 1982. Haddad ist seit fünf Jahren im Vorstand des Arabischen Publizisten-Vereins Deutschland, er leitet das Arabische Filmfestival, das seit 2009 jeweils im November in Berlin stattfindet, wo er seit 1983 lebt. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland (ND) Jürgen Reents.

ND: Es hat überrascht, dass sich der Brennpunkt der arabischen Revolte nach Tunesien und Ägypten ausgerechnet nach Libyen verlagerte. Was verbindet diese drei Länder?

Haddad: Zwischen Tunesien und Libyen gibt es eine historisch gewachsene soziale Brücke. Zur Zeit der phönizischen Herrschaft waren Tripolis und Karthago eng liierte Städte. Bis heute gibt es viele familiäre Verbindungen. Der östliche Teil Libyens, die Cyrenaica, hat andererseits gemeinsame geschichtliche Verbindungen mit Ägypten, stand unter dem Einfluss der koptischen Kirche in Alexandria. Da gibt es also Bezüge, die weit hinter die Ausbreitung des Islam in Nordafrika reichen.

Noch während des Aufstands in Ägypten war Libyen gar nicht auf der Agenda beginnender Revolten.

Ja, aber der Aufstand in Libyen ist ein direktes Ergebnis der euphorischen Stimmung, die sich nach den erfolgreichen Volksbewegungen in Tunesien und Ägypten ausbreitete. Über die innere Situation des Landes ist jenseits seiner Grenzen, namentlich in Europa, wenig bekannt. Die Jugend in Libyen, besonders die gut ausgebildeten, städtischen Jugendlichen in Bengasi und anderswo im Osten des Landes haben dem Machthaber in Tripolis immer Schwierigkeiten bereitet. Doch entscheidend war der ägyptische Funke. In Grenznähe zu Tunesien und Ägypten ermunterte er all jene, insbesondere in der Mittelklasse, die schon sehr lange aus verschiedenen Gründen unter dem Regime gelitten haben.

Libyen ist ein eher wohlhabendes Land, in dem es den meisten Menschen ökonomisch besser geht als in der übrigen nordafrikanisch-arabischen Region.

Das ist richtig. Das Land hat ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung von rund 10 000 US-Dollar. In der arabischen Welt sind nur die Golfstaaten reicher. In Tunesien und Algerien lauten die Vergleichszahlen 4000, in Ägypten rund 2500 US-Dollar. Es gibt keine ernsthafte, weitreichende Armut in Libyen, auch keine Vertreibung der Menschen an den Rand der Gesellschaft. Libyen hat eine kostenlose medizinische Versorgung, gute Systeme der Alterssicherung und ein sehr entwickeltes Bildungssystem. Dennoch kennt auch Libyen ein großes Gefälle zwischen der Führungsschicht, der Mittelklasse und der übrigen Bevölkerung. Das betrifft nicht allein das Vermögen, sondern den sozialen Status und die sozialen Verhaltensweisen. Dagegen empören sich vor allem Akademiker und ihnen nahe Schichten, die in den zwei Generationen seit dem Sturz des Königs aufgewachsen und gut ausgebildet sind.

In Tunesien war der Auslöser der Revolte die Selbstverbrennung des Gemüsehändlers Mohamed Bouazizi. Ihm wurde sein Gemüsestand geschlossen und damit seine Existenz zerstört – der Aufstand rührte also aus sozialem Protest. Das ist in Libyen anders?

Die Revolten auch in Tunesien und Ägypten richteten sich sehr schnell gegen die autokratischen Führungen, deren Stütze fast überall das Militär und die Sicherheitsapparate sind. Darum geht es auch in Libyen. Nach der panarabischen Befreiung von den Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich und Italien etablierten sich überall autoritäre Machtgefüge. Dass das libysche System nach innen ein sehr autoritäres ist, wurde lange Zeit nicht nur durch eine gute soziale Versorgung verschleiert. Libyen machte auf sich aufmerksam, weil es viele Befreiungsbewegungen unterstützt und einer Konfrontation mit der Politik der USA nicht auswich. Nun steht auch dort die Frage von demokratischen Rechten und Freiheiten auf der Tagesordnung.

Woher rühren die autokratischen Strukturen in Libyen?

Die libysche Gesellschaft ist tribal ausgewachsen, sie gründete auf Stammestrukturen. Gaddafi hat daraus eine staatlich entwickelte kapitalistische Gesellschaft gemacht, deren Ökonomie von seinem Umfeld kontrolliert wird. Mit seinen früheren Weggefährten, den Offizieren, die mit ihm 1969 König Idris stürzten, ist er dabei nicht zimperlich umgegangen. Er hat sich von fast allen entledigt und die Macht seines eigenen Clans und seiner Familie ausgebaut. Das hat ihn bei vielen im eigenen Land diskreditiert.

Auch international?

Ja und nein. Internationale Unterstützung hat er seinerzeit von den sozialistischen Staaten erhalten. Gaddafi ist zwar zur früheren Kolonialmacht Großbritannien auf Distanz gegangen, hat allerdings nie die Verbindung nach Frankreich abgebrochen, das früher Kolonialmacht im südlibyschen Fezzan war. Ebensowenig zur früheren Kolonialmacht Italien und nach Deutschland. Der italienische ENI-Konzern und die Wintershall Holding von BASF verdienen viel an der Förderung von Öl und Gas in Libyen.

Das politische System in Libyen trägt die Bezeichnung Dschamahiriyya, Volksherrschaft, Basisdemokratie. Reine Fassade, oder ist etwas daran?

Es werden ab und zu Basisversammlungen organisiert. Dort wird der vorgegebenen Politik zugestimmt. Initiativen aus den Volksmassen oder von Gruppen, die in einem freien Raum agieren, bestimmen aber nicht das Handeln auf der obersten Ebene. Eine solche Demokratie hat sich in Libyen nicht gezeigt. Das System der Dschamahiriyya dient dazu, Propaganda zu verbreiten, Anhänger und Zustimmung zu organisieren.

Gibt es politische Organisationen, die nicht in dieses System integriert sind?

Außer der Muslimbruderschaft bislang kaum. Bevor Gaddafi an die Macht kam, gab es kleine Organisationen, panarabische Parteien wie die Baath-Partei und das Mouvement Nationaliste Arabe. Auch einige Offiziere, die zusammen mit Gaddafi putschten, gehörten solchen Organisationen an. Omar El-Hariri ist ein Beispiel: Er war ein Mitstreiter von Gaddafi, Panarabist, legte sich mit Gaddafi an, kam ins Gefängnis. Jetzt ist er Militärchef des Nationalrats für eine Übergangsregierung in Bengasi. Ebenso Abdel Moneim el Honi, der zurückgetretene Botschafter Libyens bei der Arabischen Liga: Er gehörte 1969 zu den putschenden Offizieren, war jahrelang verantwortlich für den libyschen Geheimdienst. Ich kenne ihn persönlich – und auch die Dienste in Deutschland kennen ihn gut, sie haben mit ihm zusammengearbeitet. Aber diese früheren Organisationen sind alle in dem neuen System aufgegangen oder wurden verboten. Gaddafi hat nicht erlaubt, dass sich etwas politisch entwickelt, das nicht von oben durchgesetzt war. Darum geht es nun: um politische Teilhabe.

Gaddafi wird für den Anschlag 1981 auf die Diskothek »La Belle« in Berlin verantwortlich gemacht und für den Sprengstoffanschlag 1988 auf den PanAm-Flug bei Lockerbie mit 270 Toten. Er galt lange als Förderer des Terrorismus.

Gaddafi ist auch in den Terrorismus verwickelt, aber darauf lässt sich seine internationale Rolle nicht reduzieren. Er hat sich in antikoloniale Aufstände in Afrika eingemischt und Befreiungsbewegungen in Lateinamerika unterstützt, auch Organisationen wie die nordirische IRA. Das hat sicher ein Motiv in der britischen Kolonialherrschaft über Libyen. Und er widersetzte sich allen neokolonialen Bestrebungen, die Kontrolle über die arabischen Ressourcen zurückzuerobern. Zu seinem Verständnis, die arabische Sache zu verteidigen, gehört auch seine demonstrative Förderung der palästinensischen Nationalbewegung mit Geld, Waffen und Training. Damit gewann er Sympathie bei vielen Menschen in der arabischen Welt.

Gaddafi gilt als eine Art Vermächtnisverwalter des früheren ägyptischen Staatschefs Gamal Abdel Nasser. Warum?

Nasser war ein Vorbild für ihn, er gehörte den »Freien Offizieren« an, die 1952 den König in Kairo stürzten, und verfocht die Idee der arabischen Einheit. Er förderte Gaddafi bis zu seinem Tod Ende 1970. Ein weiterer früher Bündnispartner Gaddafis war Dschafar Muhammad an-Numeiri, zunächst Premierminister, dann Präsident des Sudan. Ihm lieferte Gaddafi die sudanesischen Offiziere Farouk Hamad-Allah und Babekr Nur aus, die 1971 einen Sturz Numeiris geplant hatten; sie wurden in Khartum zusammen mit vielen Genossen der sudanesischen KP hingerichtet, darunter der Generalsekretär Abdul Khalek Mahjub. Daher kann man nicht sagen, dass Befreiung immer die Sache Gaddafis war. Zehn Jahre später brach Numeiri mit Gaddafi, weil er ihn, Syrien und die Sowjetunion für einen neuen Putschversuch verantwortlich machte, und wandte sich den USA zu. Im Tschad machte Gaddafi sich zum Gegenspieler Frankreichs und unterstützte die Befreiungsbewegung zur Zeit des dortigen Präsidenten Hissène Habré, unterstützte später den Aufstand von Oberst Idris Déby, dem jetzigen Präsidenten. Auch in Darfour im an Libyen grenzenden westlichen Sudan mischt er sich ein, was das Baschir-Regime sehr geärgert hat.

Hatte Gaddafi ein positives Verhältnis zu Jassir Arafat?

Zwischen ihm und Arafat gab es Spannungen. Arafat hat immer vermieden, daraus einen öffentlichen Konflikt zu machen. Gaddafi hat ja auch palästinensische Organisationen wie die PFLP von George Habash und das PFLP-Generalkommando von Ahmad Dschibril unterstützt, die den von der PLO mitgestalteten Oslo-Friedensprozess ablehnten. An der palästinensischen Frage hat Gaddafi sich in der arabischen Welt zu profilieren versucht. Nach dem Abdanken von Mubarak rief er die Palästinenser auf, massenhaft Richtung Jerusalem zu demonstrieren, nicht mit Waffen und Steinen, sondern friedlich. Gaddafi ist kein offener Gegner der Hamas, aber auch nicht deren Freund. Immerhin gehört die Muslimbruderschaft zu seinen Gegnern im eigenen Land, sie wurde brutal unterdrückt.

Wie wichtig ist die Palästina-Frage für Gaddafi?

Sie ist für ihn nicht mehr als ein politisches Vehikel: Wenn er in irgendeiner Phase nicht einverstanden war, wandte er sich von dem Palästina-Problem ab und befasste sich mit dem Tschad, mit Südafrika oder anderem. Seine Politik ist es, große Illusionen zu erzeugen. Er ist auch Konflikte mit Saddam Hussein eingegangen, hat die Kurden unterstützt, ihnen Büros und Geld gegeben, auch der PKK in der Türkei. Dieser positive, breitbandige Bezug auf Befreiungsbewegungen, unabhängig von deren jeweiligem Programm, hat mit dazu beigetragen, dass er bei den ethnischen Minderheiten im eigenen Land, wie den Berbern und Touareg, Vertrauen erlangte. Einige davon siedeln ja an der Grenze zu Algerien, und es mag sein, dass ihm dies jetzt in der Auseinandersetzung mit den Aufständischen zugute kommt. Man kann von Gaddafi nicht sagen, dass er ein Chauvinist sei. Sicher wollen auch deswegen viele, die international am Rande stehen, nicht in einer Reihe mit den USA und Großbritannien Nein zu Gaddafi sagen.

Ist Gaddafi in der arabischen Welt ein strategisch denkender Politiker?

Leider nicht.

Was fehlt ihm?

Es ist bei allem keine klare politische Linie seines Handelns erkennbar. Er ist gegen jede Form von Kolonialisierung, aber nicht gegen jede Form von Unterdrückung. Wie kann man Antikolonialismus fördern, aber ihn nicht widerstandsfähig machen? Die Ressourcen, die Libyen hat, hätten Gaddafi die Möglichkeit für einen sozialökonomischen und politischen Systemaufbau gegeben, der nicht in einer Alleinherrschaft hätte enden müssen. Das hat er nicht getan. Seinem Befreiungsdenken fehlt damit ein zentrales Element.

Der Verzicht auf politische Verfolgung?

Ja. Gaddafi hat zum Beispiel die Libanesische Kommunistische Partei unterstützt, auch die Sozialistische Fortschrittspartei von Walid Dschumblat. Im eigenen Land verfolgte er alle, die er kommunistischer Gedanken verdächtigte. Ich kenne einige aus seiner Umgebung. Er hat seinem Botschafter in Moskau, al-Farjani, vorgeworfen, kommunistische Zellen in Libyen aufzubauen. Der kam aus einem Stamm, der dem Gaddafis benachbart ist, in der Region von Surt. Er musste für ein paar Jahre ins Gefängnis und heute erzählt man, dass Gaddafi 20 Offiziere seines Stamms hingerichtet hat.

Haben Sie Gaddafi mal persönlich getroffen?

Dreimal, bei Besuchen palästinensischer Delegationen.

Auch mit ihm gesprochen?

Ich habe ihm zugehört.

Welchen Eindruck machte er auf Sie?

Einen sehr ruhigen, zurückhaltenden. Es fehlte manchmal nicht an Arroganz. Aber er kann auch zuhören. Er fragte und hörte sich viel an

* Aus: Neues Deutschland, 19. März 2011


Zurück zur Libyen-Seite

Zurück zur Homepage