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Koussa – vom Agentenlenker zum Dissidenten

Der libysche Außenminister flüchtet sich zu der Macht, die ihn einst zur unerwünschten Person erklärte

Von Roland Etzel *

Der libysche Außenminister Koussa hat sich nach Großbritannien abgesetzt. Er sei aus eigenem Willen nach London gekommen und wolle nicht länger dem Regime von Gaddafi dienen – die wahrhaft perfekte Kehrtwendung eines Mannes, dem der Revolutionsführer vertraut haben soll, aber offenbar auch die Gegenseite.

Libyens Außenminister Moussa Koussa ist wieder da angekommen, wo er vor drei Jahrzehnten einmal wirkte, aber auf frostige Art zur Ausreise genötigt wurde: in London. Dort möchte man den Coup als Menetekel sehen, sieht sich ganz auf der Siegerstraße, denn wenn schon der Außenminister eines Landes aus diesem flieht, könne doch der Untergang des Regimes nicht mehr fern sein. Koussa soll noch dazu einer der engsten Vertrauten von Staatschef Muammar al-Gaddafi gewesen sein, und es gibt viele Indizien, die diese Annahme bestätigen.

Koussa wurde unmittelbar nach seinem Studienabschluss in den USA auf eine strategisch wichtige Stelle gesetzt. Gaddafi betraute den Absolventen der Michigan-Universität – da war dieser noch nicht einmal 30 – damit, die nordeuropäischen Botschaften Libyens zu »betreuen«. Das ist eine sehr rücksichtsvolle Umschreibung für koordinierende Spionagetätigkeit in Ländern, die Gaddafi sehr wichtig waren, denn nach Skandinavien gingen damals viele libysche Exilanten, die auch dort den Zorn des Revolutionsführers zu fürchten hatten. Zumindest verloren einige auf ungeklärte Weise ihr Leben.

Noch mehr libysche Dissidenten gab und gibt es bis heute in Großbritannien. Dort wurde Koussa zur selben Zeit Leiter des Volksbüros der Sozialistischen Libyschen Arabischen Volks-Jamahiriya, also Botschafter seines Landes; allerdings nur recht kurz. Schon im Juni 1980 musste er London verlassen, nachdem auch auf der Insel mehrere libysche Exilanten ermordet worden waren. Der britische Geheimdienst MI5 betrachtete Koussa daran als nicht unschuldig. Dessen diplomatische Immunität verhinderte freilich eine mögliche Strafverfolgung.

Außenminister wurde Koussa erst 2009. Zuvor war er 15 Jahre lang Geheimdienstchef. In Großbritannien gilt der Libyer bis heute als persona non grata; auch für die USA hatte er Einreiseverbot, weil er mit dem Flugzeugattentat 1988 über der britischen Ortschaft Lockerbie in Verbindung gebracht wurde, bei dem 270 Menschen starben.

Angesichts dessen fällt es schwer, daran zu glauben, dass ausgerechnet Koussa wegen der Angriffe der Gaddafi-Armee auf Zivilisten Gewissensbisse zwackten. Und warum sollte sich der aus Großbritannien Ausgewiesene, der ja nach der ersten Etappe seiner »Flucht« in Tunesien bereits in Sicherheit war, dann auch noch ausgerechnet freiwillig in jenes Land begeben, wo ihm neben Libyen und den USA unmittelbare Strafverfolgung drohen könnte, da er ja nun keine diplomatische Immunität mehr besitzt? Dennoch: Am Mittwochabend, dem Zeitpunkt der Absetzbewegung, waren sich selbst viele der gemeinhin oberkritischen britischen Medien nicht zu schade, ihren Rezipienten eine Krokodilstränen-Story reinsten Wassers überzuhelfen.

Premier David Cameron gab aber die Pose des überraschten Arglosen gestern auf und verkündete – nun wieder in bester Blair-Blendermanier – man sei bereits »seit einigen Wochen im Gespräch« gewesen. Außenminister William Hague beeilte sich hinzuzufügen, dass der gewendete Außenminister natürlich keine diplomatische Immunität genieße. Aber das wird auch kaum nötig sein.

Unabhängig davon, welche Motive Koussa tatsächlich bewogen haben, es spricht einiges dafür, dass die Entscheidung zum Überlaufen nicht erst nach der Kriegseröffnung durch Frankreich fiel. Für Gaddafi aber ist es ein Debakel. Der Außenminister und Ex-Geheimdienstchef läuft während des Krieges zum Feind über – die Morbidität seines Führungszirkels hätte ihm kaum drastischer vor Augen geführt werden können. Es ist neben einigen Militärs nun auch der dritte Minister, der ihm auf diese Art ahhanden kommt. Jetzt bleibt fast nur noch die Familie.

* Aus: Neues Deutschland, 1. April 2011


Mussa Kussa flieht nach Großbritannien

Ghaddafis Außenminister, einst einer seiner engsten Vertrauten, wechselt die Seiten

Von Karin Leukefeld **


Der libysche Außenminister Mussa Kussa ist nach Großbritannien geflohen. Das gaben britische Behörden am Donnerstag bekannt. Kussa sei überraschend und auf eigenen Wunsch nach Großbritannien gekommen, sagte der britische Außenminister William Hague. Er bestätigte, daß Kussa vom britischen Geheimdienst befragt werde. Damit hat der zweite Minister die Regierung von Muammar Al-Ghaddafi verlassen. Justizminister Mustafa Mohammed Abdul Jalil lief gleich am Anfang zu den Rebellen nach Bengasi über und gehört inzwischen der selbsternannten Nationalen Übergangsregierung an. Die Flucht Kussas zeige, daß »das Regime von Ghaddafi gespalten ist … und sich von innen her auflöst«, sagte Hague gegenüber der britischen BBC. Er forderte weitere Regierungsmitglieder und Vertraute Ghaddafis auf, diesen zu verlassen, um »die bessere Zukunft für Libyen zu wählen«. Eine Reporterin des englischen Programms von Al-Dschasira nannte weitere Politiker, die mit Kussa zusammen aus Libyen geflohen seien. Darunter sollen sich der Chef des Geheimdienstes befinden, der Ölminister, ein stellvertretender Außenminister und der Sekretär der libyschen Volksversammlung. Nach offiziellen libyschen Angaben hatte Außenminister Kussa den Auftrag, mit westlichen Staaten über einen Waffenstillstand zu verhandeln.

Unbestätigten Berichten zufolge soll Mussa Kussa am Mittwoch in einem Konvoi gepanzerter Fahrzeuge die Grenze nach Tunesien überquert haben, wo er mit französischen und russischen Diplomaten zusammengetroffen sei. Später sei Kussa in ein britisches Flugzeug gestiegen, vermutlich eine Militärmaschine. Die habe ihn zum Flughafen Farnborough, westlich von London gebracht, wo Kussa am Mittwoch abend vom britischen Geheimdienst in Empfang genommen worden sei. Die britische Regierung erhoffe sich von ihm interne Informationen über die Situation und den Aufenthalt Ghaddafis, um das Regime schneller stürzen zu können, hieß es in der BBC.

Der 60jährige Mussa Kussa galt 30 Jahre als einer der engsten Vertrauten von Ghaddafi. 1979 wurde er als Botschafter nach London geschickt, das ihn bald darauf auswies, nachdem er in einem Interview mit The Times der von den damaligen libyschen Revolutionsräten beschlossenen Ermordung zweier Oppositioneller zugestimmt hatte. Kussa wurde 1984 Mitglied der Mathaba (Zentrum), einem Gremium, das für die Kontakte zu nationalen antiimperialistischen Befreiungsbewegungen zuständig war, die von Gaddafi unterstützt wurden. 1994 wurde Kussa Chef des Geheimdienstes, 2009 Außenminister. Er gilt als derjenige, der den Anschlag auf die PanAm Maschine plante, die 1988 über dem britischen Lockerbie explodierte. Auch für die Explosion einer französischen Passagiermaschine 1989 soll er verantwortlich sein. Kussa war später maßgeblich an den Verhandlungen beteiligt, die zur Aufhebung internationaler Sanktionen gegen Libyen führten. Ende 2010 wurden Berichte laut, wonach Kussa nach Auseinandersetzungen mit den Söhnen Ghaddafis nicht mehr zum internen Kreis der Ghaddafi-Vertrauten zählte.

** Aus: junge Welt, 1. April 2011


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