Ein Totgesagter lebt noch immer
Lockerbie-Attentäter Megrahi kann ein Jahr Freiheit feiern – und Schottland steht blamiert da
Von Gabriel Rath, London *
Am 20. August 2009 durfte der verurteilte Lockerbie-Attentäter Megrahi nach Libyen ausreisen, weil er angeblich unheilbar erkrankt war.
Als die schottische Regierung vor genau einem Jahr Abdelbasset Megrahi in sein Heimatland Libyen ausreisen ließ, machte Justizminister Kenny MacAskill »humanitäre Gründe« geltend: Megrahi sei unheilbar an Prostatakrebs erkrankt und habe »maximal drei Monate« zu leben. An diesem Freitag darf er den ersten Jahrestag der Freilassung in seiner Villa in Tripolis feiern; angeblich will Saif al-Gaddafi für die Kosten aufkommen.
Obwohl Saifs Vater, der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi, öffentliche Feiern wie vor einem Jahr bei der Ankunft von Megrahi diesmal untersagt hat, »um die USA und Großbritannien nicht zu provozieren«, steht insbesondere die schottische Führung durch Megrahis scheinbar überraschend robuste Gesundheit blamiert da.
Mittlerweile stellte sich zudem heraus, dass die Überlebensprognose vor einem Jahr ohne Konsultation mit Spezialisten getroffen wurde. Dr. Zak Latif, der Urologe von Megrahi: »Ich war überrascht, als ich von seiner Freilassung hörte, denn mich hat keiner um meine Meinung gefragt.« Die Frist von drei Monaten oder weniger war Bedingung für die humanitäre Freilassung. MacAskill sagte vor einem Jahr: »Megrahi kehrt zum Sterben nach Libyen zurück.«
Die Indizien häufen sich, dass die meist verfeindeten Regierungen in London und Edinburgh übereinstimmend Megrahi wie eine heiße Kartoffel los werden wollten: Der Ölkonzern BP hoffte auf lukrative Förderrechte in Libyen und umgekehrt versprach der lange geächtete Ölstaat für seine Rückkehr in die Staatengemeinschaft Milliardeninvestitionen, um die insbesondere Schottland warb, wo die Nationalisten seit 2006 eine Minderheitsregierung führen und die Unabhängigkeit weiter als politisches Ziel verfolgen.
Indes bestehen bis heute ernste Zweifel an der Verurteilung Megrahis: 2001 wurde der libysche Geheimdienstmann trotz zahlreicher Ungereimtheiten als Einziger für den Lockerbie-Anschlag von 1988 mit 270 Toten zu 27 Jahren Haft in Schottland verurteilt. Megrahi, der stets seine Unschuld beteuerte, bereitete gerade eine Berufung vor, als ihm die schottische Führung plötzlich überaus verständnisvoll begegnete. Freilich bedeutete Justizminister MacAskill ihm damals auch, dass er nur in die Heimat überstellt werde, wenn er auf einen Einspruch verzichte. Derzeit versuchen Aktivisten eine Neuaufnahme des Verfahrens, doch Juristen halten dies für »praktisch unmöglich«.
In die USA, woher die Mehrzahl der Lockerbie-Opfer stammte, sorgt die Tatsache, dass Megrahi weiter am Leben ist, für Empörung. In ihrem Kreuzzug gegen den neuesten Satan BP verlangen vier Senatoren die Veröffentlichung der Krankenunterlagen von Megrahi. Britische und schottische Politiker haben Vorladungen vor den Kongress zurückgewiesen. Kardinal Keith O'Brien, Oberhaupt der katholischen Kirche in Schottland, warf den USA vor, nicht an Gerechtigkeit interessiert zu sein, sondern allein nach »Rache und Vergeltung« zu streben.
* Aus: Neues Deutschland, 20. August 2010
Totgesagter
Die Sache ist zutiefst makaber: Dieser Mann soll gefälligst sterben und
zwar von selbst so war es
»versprochen«, nicht von ihm, sondern von seinen britischen Ärzten, und
nun tut er es nicht. Der
Libyer Abdelbasset Ali Mohammed el-Megrahi war 2001 verurteilt worden,
für das Attentat auf eine
US-Passagiermaschine im Jahre 1988 verantwortlich zu sein. In dem im
britischen Luftraum
explodierenden Flugzeug und auch am Boden in dem schottischen Dorf
Lockerbie starben damals
270 Menschen; die meisten davon US-Bürger.
Fest steht, dass Megrahi die Tat, die er nie eingestanden hat, wenn
überhaupt, dann nicht allein
begangen haben kann, jedoch als einziger verurteilt wurde. Fest steht
aber auch, dass Libyen
Milliarden Dollar an Entschädigungen zahlte, was einem Eingeständnis von
Staatsterrorismus sehr
nahe kommt. Aber als aufgeklärt kann der Fall Lockerbie nicht gelten.
Megrahi kam vor genau einem Jahr frei und durfte nach Libyen
zurückkehren, weil bei ihm eine
tödliche Krebserkrankung mit nur noch drei Monaten Lebenserwartung
diagnostiziert wurde. Und
das ist nun ein Jahr her. Wie die Londoner »Times« meldete, wurde
Megrahi in Libyen erfolgreich
mit dem Krebsmittel Taxotere behandelt, was nach Aussagen von Fachleuten
ein Hinauszögern des
Todes um rund 18 Monate erlaube. Das Medikament ist auch in Britannien
bekannt, konnte aber in
Megrahis Gefängnis angeblich nicht angewendet werden. Dennoch, als ob es
des Makabren nicht
schon genug wäre, müssen sich nun die vier behandelnden Gefängnisärzte
verteidigen, weil ihr
Patient noch lebt. Vier US-Senatoren der Demokratischen Partei verlangen
allen Ernstes von den
Schotten Angaben über deren Studienabschlüsse und Spezialisierungen.
Sofortiger natürlicher Tod oder 20 weitere Jahre Haft dem 58-jährigen
Megrahi gefällt
verständlicherweise beides nicht. Er äußerte jetzt, eine Autobiografie
schreiben und darin auch seine
Unschuld beweisen zu wollen. Was die Beurteilung seines Falles betrifft,
dürfte es ihm an
Sachkunde nicht mangeln, denn er war nicht Luftterrorist, sondern im
Gegenteil Sicherheitschef von
Libyan Airlines. Studiert hatte er dafür übrigens in Großbritannien und
den USA. Roland Etzel
Aus: Neues Deutschland, 21. August 2010
Zurück zur Libyen-Seite
Zur Terrorismus-Seite
Zurück zur Homepage