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Aufstand gegen Milizen

Libyen: Regierung kündigt nach Protesten Auflösung islamistischer Einheiten an

Von Karin Leuekefeld *

Nach der Erstürmung von Stützpunkten von Milizen haben Einwohner der ostlibyschen Millionenstadt Benghasi mit einer »zweiten Revolution« gedroht. Sprecher der Demonstranten gaben der Zentralregierung in Tripolis bis kommenden Freitag Zeit, die beim Aufstand gegen das Regime von Muammar Al-Ghaddafi gegründeten Milizen aufzulösen.

Am Freitag hatten zunächst rund 30000 Menschen in Benghasi gegen die Erstürmung des US-Konsulats am 11. September demonstriert, bei der der US-Botschafter in Libyen und drei weitere Amerikaner getötet worden waren. Die Miliz Ansar Al-Scharia wird für den Anschlag verantwortlich gemacht. Diese hat jede Verantwortung zurückgewiesen. In der Nacht zu Samstag waren dann Tausende zu dem Hauptquartier der Organisation gestürmt. Berichten zufolge waren Hunderte der Männer mit Schwertern und Ästen bewaffnet und hätten Unterstützung aus den Reihen von Polizei- und Sicherheitskräften erhalten. Die Männer riefen demnach »Libyen, Libyen« und »Schluß mit Al-Qaida«. Das libanesische Onlineportal Al-Akhbar zitierte einen Demonstranten mit den Worten, die »Leute von Benghasi hatten genug von den Extremisten«. Die Milizionäre hätten zunächst auf die Menschenmenge gefeuert, hätten sich dann aber zurückgezogen. In dem Gebäude konnten die Demonstranten vier Gefangene befreien. Anschließend zogen Tausende weiter zu dem Stützpunkt der Rafallah-Sahati-Miliz, die offiziell mit der Regierung in Tripolis kooperiert. Auch die Stützpunkte weiterer bewaffneter Organisationen wurden eingenommen.

Als Reaktion auf den Volkszorn in Benghasi erklärten zwei weitere Milizen in der weiter östlichen gelegenen Stadt Derna freiwillig ihre Auflösung. Seit zehn Tagen soll es in Derna Mahnwachen gegen diese gegeben haben, nun kündigte die Abu-Slim-Brigade an, sie werde den Ort verlassen. Auch die dort stationierte örtliche Einheit von Ansar Al-Scharia erklärte ihren Abzug aus Derna. Islamistische Kämpfer aus der Stadt wurden in den letzten Jahren für die Kämpfe in Afghanistan, in zentralasiatischen Staaten und im Irak rekrutiert. Inzwischen sind sie im Auftrag von Saudi-Arabien und Katar in Syrien im Einsatz.

Nach Angaben des BBC-Reporters in Benghasi, Wyre Davies, wurden bei den Auseinandersetzungen während der vergangenen Tage zehn Menschen getötet, sechs von ihnen sollen anderen Medienberichten zufolge regelrecht »hingerichtet« worden sein. Davies hatte wenige Tage vor dem Sturm auf die Milizen den Chef von Ansar Al-Scharia, Mohammed Al-Zahawi, interviewt. Man werde niemals die Waffen abgeben, erklärte dieser, »der Kampf um Libyen ist noch nicht gewonnen«. Das System von Ghaddafi sei weiter intakt, die neue Regierung akzeptiere man nicht, weil sie »aus dem Ausland importiert« worden sei. Demokratie sei »nichts, verglichen mit dem Islam«, so Al-Zahawi.

Das Übergangskabinett in Tripolis hat inzwischen die Auflösung der Milizen angeordnet, die »nicht unter der Autorität der Regierung agieren«. Mohammed Al-Megarief, der Vorsitzende der Libyschen Nationalversammlung, erklärte am Samstag abend, das Parlament habe zudem verboten, »Waffen in der Öffentlichkeit zu tragen«. Die von der Regierung als legitim anerkannten Milizen sollten jedoch in Ruhe gelassen werden. Die libysche Armee sei schwach, sagte Omar Humidan, ein weiteres Mitglied der Libyschen Nationalversammlung. Der Staat könne »das Vakuum nicht füllen«, wenn alle Milizen vertrieben würden. In Benghasi wurde ein »Operationszentrum«, bestehend aus Vertretern der Armee, der Sicherheitskräfte des Innenministeriums und der Milizen des Verteidigungsministeriums eingerichtet.

* Aus: junge Welt, Montag, 24. September 2012


Machtwort

Libysches Regime will Milizen entwaffnen

Von Werner Pirker **


Der von den Westmächten einem »Regime Change« mit anschließendem »Nation building«-Programm unterzogene libysche Staat ist um die Durchsetzung seines Gewaltmonopols bemüht. Das dürfte freilich leichter gesagt als getan sein. Denn ginge das so einfach, wären die marodierenden Banden schon längst entwaffnet. Unter dem Eindruck der Erstürmung des US-Konsulats in Bengasi, bei der der amerikanische Botschafter getötet wurde, und den Angriffen regimetreuer Demonstranten auf Stützpunkte der islamistischen Milizen haben die Machtorgane in Tripolis ein deutliches Machtwort gesprochen. Den Freischärlern wurde eine Frist von 48 Stunden gestellt, binnen derer sie alle Kasernen, öffentliche Gebäude und Grundstücke von Mitgliedern der früheren Staatsführung in Tripolis und ihrer Umgebung räumen müßten.

Es stellt sich indes die Frage, ob sich das Problem rivalisierender Machtzentren, das ein strukturelles Problem der libyschen Gesellschaft in ihrem gegenwärtigen Zustand sein dürfte, durch eine Verordnung aus der Welt schaffen läßt. Der von Bengasi ausgegangene Aufstand gegen das Ghaddafi-Regime hatte von Beginn an eine ausgeprägt tribalistische, auf die Schwächung der gesamtlibyschen Staatlichkeit gerichtete Komponente. Ostlibyen war zudem eines der ergiebigsten Rekrutierungsfelder für Dschihadisten. Die Halsabschneider der Al Qaida-nahen »Libyan Islamic Fighting Group« bildeten dann auch die Vorhut der von der NATO-Luftwaffe zum Sieg über die libysche Volksdschamahirija gebombten Aufständischen. Doch dürften sich der NATO neueste Verbündete bei der Aufteilung der Macht etwas übergangen gefühlt haben. Bei den Parlamentswahlen gewannen nicht wie in Tunesien und Ägypten die Islamisten, sondern die säkularen, bedingungslos prowestlichen Kräfte.

Während das Marionettenregime in Tripolis seinen islamistischen Schatten zu verscheuchen versucht, läßt die Kriegsallianz dem Al Qaida-Terror in Syrien freien Lauf. Da der Sturz des Baath-Regimes oberste Priorität hat und die Dschihadisten die erfahrensten, kampfkräftigsten und brutalsten Einheiten der Rebellenarmee stellen, ist deren Beteiligung an der militärischen Erzwingung eines Regimewechsels in Damaskus für den Westen unverzichtbar. So erfolgt mitten im »Krieg gegen den Terror«, der ja in Afghanistan immer noch geführt wird und zu dem sich nun auch das Regime in Tripolis verpflichtet fühlt, der Schulterschluß mit dem Terror. Dieser Terror hat alle Aussichten auf einen friedlichen Übergang zur Demokratie zunichte gemacht. Der Einsatz islamistischer Todesschwadronen im vorgeblichen Kampf für »Demokratie und Menschenrechte« hat durchaus seine innere Logik. Sowohl die westlichen Ordnungs- als auch die islamischen Gotteskrieger sind vom Ausbruch der arabischen Aufstände eher unangenehm überrascht worden und versuchen nun, verlorenes Terrain wettzumachen. Weitere dramatische Wendungen in dieser ungleichen Beziehung sind vorprogrammiert.

** Aus: junge Welt, Montag, 24. September 2012


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