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"Erdöl ist das einzig echte Interesse des Westens"

"Gemäßigte" Kräfte haben in Libyen zwar das Sagen – Sammellager für Flüchtlinge wird es aber weiter geben. Ein Gespräch mit Angelo Del Boca *


Vor wenigen Tagen wurde die formelle Macht in Libyen vom Übergangsrat an das neugewählte Parlament, die Dschamahirija, übergeben. Wie ist es zusammengesetzt?

Mit Abstand stärkste Kraft ist die gemäßigte und laizistische Allianz der Nationalen Kräfte, die von Mahmud Dschibril geführt wird, dem ehemaligen Ministerpräsidenten der provisorischen Regierung. In gewisser Weise muß sich Libyen beim Exdiktator Muammar Al-Ghaddafi bedanken, der zweifellos Urheber des Verweltlichungsprozesses der Dschamahirija war. Dschibril ist ein Mann, der mit allen – erlaubten und unerlaubten – Mitteln das Vordringen der fundamentalistischen islamischen Kräfte in Libyen unterbunden hat.

Das schwache Ergebnis der Gerechtigkeits- und Aufbaupartei, also des politischen Arms der Moslembruderschaft, hängt auch damit zusammen, daß Ghaddafi deren Führung praktisch ausgerottet und die Organisation fast komplett entwurzelt hat. Und die Partei Al Watan (Die Nation) des ehemals Al Qaida nahe stehenden Afghanistan-Veteranen Abdelhakim Belhadsch hat überhaupt kein Mandat errungen

Ist das der einzige Grund für die Schwäche der Islamisten?

Nein. Die Moslembrüder haben im Wahlkampf auch selbst Fehler begangen, indem sie eine hochtrabende, schrille Kampagne führten, die mit erheblichen Geldern aus Saudi-Arabien und Katar finanziert wurde. Dieses Geschrei hat den meisten Libyern nicht gefallen, denen es nach dem Bürgerkrieg darauf ankam, eine stabile und moderate Regierung zu haben, die die 40jährige Ghaddafi-Diktatur, aber auch das siebenmonatige Blutvergießen vergessen läßt.

Wer ist der neue starke Mann Mahmud Dschibril?

Er ist skrupellos und sehr reich; bis kurz vor Schluß war er mit Ghaddafi und dessen Familie eng verbunden, hat allerdings wesentlich moderatere Positionen vertreten. Gemeinsam mit Ghaddafis Sohn Saif Al-Islam hat er Libyens Verfassung ausgearbeitet. Seinen unerwarteten Wahlerfolg verdankt er auch der Zugehörigkeit zum Stamm der Warfalla, der eine Million Menschen umfaßt und zu den stärksten des Landes zählt. Dschibril ist immer pragmatisch und achtet genau auf die jeweiligen Kräfteverhältnisse. Deshalb hat er den islamischen Kräften eine Koalitionsregierung angeboten, die auch bereits eingewilligt haben.

Was sind die Hauptprobleme, vor denen Dschibril steht?

Es sind eine Menge und sehr gravierende. Das beginnt mit der Entwaffnung der Milizen, die mindestens 100000 Mann umfassen und über das von Ghaddafi in 40 Jahren zusammengetragene Waffenarsenal verfügen. Hinzu kommen selbstverständlich noch die Rüstungsgüter, die während des Bürgerkrieges zwischen Aufständischen und Loyalisten vom Westen und den Golfstaaten geliefert wurden. Außerdem braucht es eine neue Verfassung. Für die entsprechende Kommission hat Dschibril eine paritätische Zusammensetzung in Form von jeweils 20 Vertretern der drei Landesteile Tripolitanien, Fezzan und der Kyrenaika akzeptiert.

Wie steht es mit der von Amnesty International angeprangerten Verletzung der Menschenrechte, der Hetzjagd auf Schwarzafrikaner und der Inhaftierung Tausender afrikanischer Flüchtlinge?

Was das anbelangt, schweigt Europa und schaut zu. In bezug auf die Wahlen hat man sich ebenfalls sehr vorsichtig verhalten. Auch Frankreich, das unter Sarkozy so beharrlich auf freie Wahlen pochte, agiert unter Hollande sehr behutsam. Italiens Innenministerin Paola Severino will bei ihrem jüngsten Besuch in Tripolis »alles für den Schutz der Menschenrechte getan« haben.

In Wirklichkeit besteht das schmutzige Interesse Italiens darin, daß die neue libysche Regierung die tragische Tradition beibehält, die das Land durchquerenden afrikanischen Migranten in Sammellager zu sperren. Was das Erdöl angeht – das einzige echte Interesse des Westens inmitten seiner globalen Krise – können wir ganz »beruhigt« sein. In puncto Bodenschätze und Sammellager für »illegale« Einwanderer wird alles weitergehen wie bisher – auch mit der Koalitionsregierung aus Gemäßigten und Islamisten.

Interview: Raoul Rigault *

* Angelo Del Boca ist Libyen-Experte und der renommierteste Historiker über den italienischen Kolonialismus. Er kämpfte als Partisan gegen deutsche und Mussolini-Faschisten

Aus: junge Welt, Dienstag, 21. August 2012


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