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Eskalation der Gewalt in Libyen

Milizen schießen Demonstration nieder und bekriegen sich gegenseitig / Dreitägiger Generalstreik in Tripolis *

Nach der Gewalteskalation in Tripolis mit blutigen Milizenangriffen hat das öffentliche Leben in der libyschen Hauptstadt am Sonntag weitgehend stillgestanden.

Tripolis. Obwohl der Sonntag in Libyen für gewöhnlich ein Arbeitstag ist, blieben die meisten Banken und Geschäfte geschlossen, auch in etlichen Schulen ruhte der Unterrichtsbetrieb. An einigen Stellen wurden aber Lebensmittel verkauft, auch Cafés waren geöffnet.

Stadtratspräsident Sadat Al-Badri kündigte eine »Kampagne des zivilen Ungehorsams« an, »bis diese Milizen abziehen«. Der Stadtrat rief zu einem dreitägigen Generalstreik auf, der am Sonntag begann. Es handele sich um ein »Zeichen der Trauer und der Solidarität« mit den Angehörigen der 43 Getöteten, hieß es in einer Erklärung. Die Bürger wurden zu »Ruhe und Besonnenheit« ermahnt, damit Vermittler sich um eine Beilegung des Konflikts kümmern könnten.

Die Gewalt war am Freitagabend nach einer zunächst friedlichen Demonstration gegen die mächtigen Milizen in Libyen eskaliert, als aus dem Hauptquartier einer Miliz Schüsse auf die Demonstranten abgefeuert worden waren. Nach Angaben des Justizministeriums wurden 43 Menschen getötet und mehr als 450 verletzt.

In einem östlichen Vorort von Tripolis gab es am Samstag neue Kämpfe zwischen bewaffneten Milizen, bei denen mindestens ein Mensch getötet wurde.

Ministerpräsident Ali Seidan forderte das sofortige Ende der Gewalt. Die »nächsten Stunden und Tage« würden über »die Geschichte Libyens und den Erfolg der Revolution entscheiden«, sagte er. Nach dem Sturz des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 waren die Milizionäre zunächst als Helden gefeiert worden. Sie weigern sich jedoch bis heute, ihre Waffen abzugeben oder sich in die neuen Sicherheitskräfte einzugliedern.

Unterdessen wurde am Sonntag der stellvertretende Leiter des libyschen Geheimdienstes, Mustafa Nuh, von Unbekannten entführt. Im Oktober hatten Milizionäre bereits den Regierungschef Ali Seidan entführt und stundenlang festgehalten, bevor sie ihn dann wieder freiließen.

* Aus: neues deutschland, Montag, 18. November 2013


Somalia als Warnung

Von Martin Ling **

Somalia dient als mahnendes Beispiel: Nach dem Sturz des Langzeitdiktators Siad Barre 1991 folgte ein bis heute andauernder Staatszerfall. Diverse Milizen geben den Ton an und die Regierung ist nicht in der Lage, eine staatliche Ordnung zu gewährleisten. Ganz so weit ist Libyen noch nicht, aber gewisse Parallelen sind offensichtlich: Nach dem Sturz von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi 2011 ist das Land einer stabilen Neuordnung noch nicht näher gekommen. Im Gegenteil: Die jüngsten Gewaltausbrüche im November sind ein alarmierendes Zeichen.

Auch zwei Jahre nach der formalen Machtübernahme ist Libyens Regierung weiterhin unfähig, die von ihnen bezahlten Milizen zu kontrollieren oder sie gar durch den Aufbau regulärer Armee und Polizeieinheiten zu ersetzen. Die Misurata-Milizen, die maßgeblich am Sturz Gaddafis beteiligt waren, können mehr oder weniger schalten, wie sie wollen. Die Macht kommt aus den Gewehrläufen. Das Interesse, die Macht abzugeben und sich waffenlos in eine neue, gar demokratische Ordnung einzufügen, geht bei diesen Milizen gegen null. Und die unverhohlene Drohung ihres Obersten Befehlshabers, noch habe Tripolis keinen Krieg erlebt, aber der werde bald kommen, weckt schlimmste Befürchtungen. Die libysche Armee wird dieser Herausforderung kaum gewachsen sein. Auch das lehrt Somalia.

** Aus: neues deutschland, Montag, 18. November 2013 (Kommentar)


Panzer in den Straßen von Tripolis ***

Nach blutigen Zusammenstößen zwischen Milizen und Demonstranten hat die libysche Regierung Armeeeinheiten in die Hauptstadt Tripolis entsandt. Dutzende Panzer und gepanzerte Fahrzeuge fuhren am Montag in den Straßen der Stadt auf. Die Regierung erklärte, »zahlreiche Einheiten der nationalen Armee« würden an den Hauptverkehrsadern in Tripolis stationiert.

Die Gewalt war am Freitagabend nach einer zunächst friedlichen Demonstration gegen die Milizen in Libyen eskaliert. Aus dem Hauptquartier einer Miliz waren dabei Schüsse auf die Demonstranten abgefeuert worden. Nach offiziellen Angaben wurden mehr als 40 Menschen bei den Unruhen getötet und über 450 weitere verletzt. Am Samstag hatten Milizionäre aus dem östlich von Tripolis gelegenen Misrata versucht, ihren Kampfgefährten in der Hauptstadt zur Hilfe zu kommen, was neue Kämpfe zwischen Milizen auslöste.

Bewaffnete haben derweil den entführten stellvertretenden libyschen Geheimdienstchef nach Angaben staatlicher Medien Stunden später wieder freigelassen. Wie die Nachrichtenagentur Lana am Montag berichtete, hatten die Angreifer Mustafa Nuh am Sonntag in der Nähe des internationalen Flughafens von Tripolis verschleppt. Der Geheimdienstfunktionär habe später gesagt, dass es sich bei den Entführern um »Kriminelle« aus der Stadt Al-Sintan handele.

*** Aus: neues deutschland, Dienstag, 19. November 2013


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