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Parlament konstituiert

Libyen: Nationalkongress hat nun formell die Macht *

Fast ein Jahr nach dem Sturz des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi hat der Übergangsrat die Macht formell an den gewählten Nationalkongress übergeben.

Mit der Zeremonie in einem neuen Konferenzzentrum der Hauptstadt Tripolis wollte Libyen in der Nacht zum Donnerstag ein Signal auf dem Weg des erdölreichen Mittelmeerlandes zu demokratischen Verhältnissen setzen.

Der Nationalkongress soll einen funktionierenden Staat aufbauen, die Milizen unter Kontrolle bringen und Sicherheit für alle Bürger schaffen. Die Abgeordneten müssen eine Regierung bestimmen, die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung vorbereiten und ein Referendum über die künftige Verfassung abhalten. Auf deren Grundlage soll dann ein neues Parlament gewählt werden.

Unter starken Sicherheitsvorkehrungen trafen kurz nach Mitternacht die 200 Mitglieder des am 7. Juli gewählten Nationalkongresses zusammen. Der Beginn der konstituierenden Sitzung war wegen des Fastenmonats Ramadan zu so später Stunde angesetzt worden. Der Präsident des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, eröffnete die Sitzung mit einer Ansprache. »Ich übergebe die verfassungsmäßigen Vollmachten dem Nationalkongress, der von nun an die legitime Vertretung des libyschen Volkes ist«, erklärte er. Zugleich räumte er ein, dass das von ihm geführte Gremium »in schwierigen Zeiten« nicht in der Lage gewesen war, für ausreichende Sicherheit und Stabilität zu sorgen. Im Anschluss daran übergab er die Staatsfahne dem Alterspräsidenten des neuen Kongresses, Mohammed Ali Selim.

* Aus: neues deutschland, Freitag, 10. August 2012


Offene Fragen in Tripolis

Von Olaf Standke **

Als am späten Mittwochabend die 200 Abgeordneten der Nationalversammlung in Tripolis ihren Eid abgelegt hatten, begann Libyen eine neue Etappe seines schwierigen Wegs der Demokratisierung. Gewählt von etwa 60 Prozent der Stimmberechtigten im Lande, die ihr Heil mehrheitlich nicht bei den Islamisten gesucht haben, soll das Parlament nun vor allem mit dem Aufbau eines funktionierenden Staates für innere Stabilität sorgen und eine neue Verfassung erarbeiten - und so auch das korrigieren, was Mustafa Abdel Dschalil, der Chef des Übergangsrates, die »Fehler« seit dem Sturz von Gaddafi nannte. Die vom Volk ersehnte Sicherheit nach den verheerenden Kriegswirren habe man jedenfalls nicht garantieren können. Nach bewaffneten Angriffen auf seine Einrichtungen musste jetzt selbst das Internationale Komitee vom Roten Kreuz die Arbeit in Bengasi und in Misrata aussetzen.

Ob dieses Parlament jedoch die Macht der bewaffneten Milizen und Clans im erdölreichen Wüstenstaat brechen kann, bleibt abzuwarten. Schon weil die Mehrheitsverhältnisse unklar sind. Zwar holte die moderate Allianz der Nationalen Kräfte von Ex-Regierungschef Mahmud Dschibril knapp die Hälfte der 80 Mandate, die über Parteilisten vergeben wurden. Doch selbst sie ist ein fragiler Zusammenschluss von 58 Parteien und politischen Bewegungen. Und wie sich die 120 individuell gewählten Abgeordneten orientieren werden, ist völlig offen. Eine Regierung der nationalen Einheit haben die Muslimbrüder, zweitstärkste Partei im Parlament, ohnehin schon abgelehnt.

** Aus: neues deutschland, Freitag, 10. August 2012


Erfolgsgeschichte?

Libyscher Übergangsrat übergibt Macht

Von Werner Pirker ***


Die in Tripolis vollzogene Machtübergabe vom Nationalen Übergangsrat an das Parlament ist von der veröffentlichten Meinung in Westen als Beginn einer neuen Ära gewürdigt worden, nachdem man schon die Parlamentswahlen als entscheidende Wende zur Demokratie zu feiern wußte. Da fielen kleinere Unregelmäßigkeiten, wie der Abschuß eines Hubschraubers mit Wahlunterlagen, nicht weiter ins Gewicht. Die von den westlichen Demokratiekommissaren stets eingeforderten demokratischen Standards hatten sich gewissermaßen von selbst erfüllt. Die Wahlen waren von den prowestlichen Siegern im libyschen Bürgerkrieg – unter Ausschluß der besiegten Seite – durchgeführt und deshalb allen Demokratievorgaben aus den imperialen Zentren gerecht geworden.

Als Wahlsieger seien die liberalen, gemäßigten Kräfte hervorgegangen, deutete die westliche Meinungsmache das Ergebnis als Sieg des Westens. Libyens »Liberale« zeichnet freilich eine starke, wenn auch konjunkturell bedingte Affinität zum Islamismus aus. Nach dem von der NATO-Luftwaffe erzwungenen Regimewechsel machte der an die Staatsspitze getragene Chef des Übergangsrates, Mustafa Dschalil, mit der Ankündigung auf sich aufmerksam, die Scharia zur Grundlage der neuen Rechtsordnung zu machen und die Polygamie »ohne Bedingungen« zuzulassen. Als Zeremonienmeister der Machtübergabe an das Parlament schloß Dschalil eine unverschleierte Moderatorin von den Feierlichkeiten aus.

Das stellt schon einmal einen gewaltigen Rückschritt gegenüber dem säkularen und die Frauenrechte achtenden Ghaddafi-Regime dar. Es ist zudem ein sehr brüchiges Bündnis, das sich zwischen den von westlichen Diensten rekrutierten Politikern einschließlich der Überläufer aus dem alten Regime auf der einen und den Islamisten auf der anderen Seite gebildet hat. Es trägt jetzt bereits die Bruchlinien für einen künftigen Bürgerkrieg in sich. Libyen erfüllt alle Voraussetzungen für einen zum Scheitern verurteilten Staat. Es ist nicht nur der Tribalismus, der die staatliche Einheit untergräbt. Noch wesentlich schwerer wiegt das Fehlen eines Gewaltmonopols. Gegenwärtig stehen einander Reste der alten, nicht demobilisierten Armee und die unzähligen Milizen, die sich ihrer Entwaffnung erbittert widersetzen, gegenüber. Unter den meisten Milizionären herrscht das Gefühl vor, um die Früchte des Aufstandes betrogen worden zu sein. Ihre Wut richtet sich vor allem gegen die Überläufer, die sich wie stets mit den Verhältnissen zu arrangieren wissen.

Die alles anderen als günstigen Voraussetzungen für eine tragfähige Ordnung in Libyen rufen natürlich die westlichen (Kolonial-)Ordnungskräfte verstärkt auf den Plan. Dem nordafrikanischen Land droht das Schicksal eines Protektorats. Die Kolonialaufseher aus der EU, den USA und von der UN-Mission in Libyen (UNSMIL) stehen schon auf der Matte. Man hat schließlich für eine demokratische Erfolgsgeschichte zu sorgen.

*** Aus: junge Welt, Freitag, 10. August 2012


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