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Neuer Premier in Libyen

Machtkämpfe zwischen prowestlichen Säkularisten und radikalen Islamisten

Von Knut Mellenthin *

Libyens Übergangsparlament, die Nationalversammlung, hat zum zweiten Mal innerhalb von nur fünf Wochen einen neuen Regierungschef gewählt. Der politisch bisher nicht besonders hervorgetretene Ali Seidan setzte sich mit 93 Stimmen knapp gegen den Minister für Kommunalangelegenheiten, Mohammed Al-Hrari, durch, für den 85 Abgeordnete stimmten. Der Nationalversammlung gehören 200 Parlamentarier an. Seidan wurde von der prowestlichen säkularen Allianz der Nationalen Kräfte von Mahmud Dschibril unterstützt, der unter Ghaddafi ein führender Wirtschaftspolitiker gewesen war und im vorigen Jahr während der Aufstands an der Spitze des Nationalen Übergangsrats stand. Al-Hrari galt als Kandidat der salafistischen Gerechtigkeits- und Aufbaupartei. Der Allianz gehören 39 Abgeordnete an, der fundamentalistischen Fraktion 17.

Der neue Premierminister muß der Nationalversammlung innerhalb von zwei Wochen seine Personalvorschläge für ein neues Kabinett zur Abstimmung präsentieren. Seidan war in den 1970er Jahren Diplomat in Indien gewesen. Sein unmittelbarer Vorgesetzter als Botschafter war Mohamed Jusef Al-Magariaf, der seit August Übergangspräsident ist. Beide Männer distanzierten sich 1980 von Ghaddafi und waren maßgeblich an der Bildung der unter westlichem Einfluß stehenden Oppositionsorganisation Nationale Front zur Rettung Libyens beteiligt. Während des Aufstands im vorigen Jahr vertrat Seidan den Übergangsrat als Europa-Beauftragter. Er soll eine Schlüsselrolle bei der Gewinnung des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy zur militärischen Unterstützung des Aufstands gespielt haben.

Die Wahl eines neuen Premierministers war erforderlich geworden, nachdem Seidans Vorgänger Mustafa Abu Schagur am 7. Oktober mit 125 gegen 44 Stimmen durch ein Mißtrauensvotum gestürzt worden war. Zuvor hatte die Nationalversammlung zweimal die Personalvorschläge Schagurs für sein Kabinett abgelehnt. Der Elektroingenieur, der den größten Teil seines Lebens als Dozent in den USA verbracht hat, war gerade erst am 12. September mit der Regierungsbildung beauftragt worden. Die entscheidende Abstimmung der Nationalversammlung hatte er mit 96 gegen 94 Stimmen äußerst knapp gegen Dschibril gewonnen.

Schagurs Personalvorstellungen waren aus unterschiedlichen Positionen als unausgewogen und unfair kritisiert worden. Die Allianz der Nationalen Kräften sah sich überhaupt nicht vertreten. Auf der anderen Seite wurde Schagur vorgeworfen, das von ihm präsentierte Kabinett enthalte zu viele Islamisten, aber auch Personen, die unter Ghaddafi eine Rolle gespielt hatten. Mehrere Mitglieder der derzeit amtierenden Übergangsregierung, insbesondere der Verteidigungsminister und der Innenminister, werden der Zusammenarbeit mit salafistischen Milizen verdächtigt.

Mehrere dieser bewaffneten Banden hatten seit März Grabdenkmäler und andere Heiligtümer der in Libyen traditionell sehr bedeutenden Sufi-Strömung des Islam systematisch zerstört. Oft rückten sie am hellen Tag unter den Augen der Sicherheitskräfte mit Preßlufthämmern, Bulldozzern und Sprengstoff an, um ihr Zerstörungswerk an jahrhundertealten Bauwerken zu verrichten. Im September kam es in Bengasi und anderen libyschen Städten zu Massendemonstrationen gegen einige Milizen und zu deren Abzug aus ihren Stützpunkten. Indessen gibt es auch bedeutende Milizen, die unter staatlichem Schutz stehen, und die Vorgänge im vorigen Monat dienten oft nur einem verschleiertem Machtkampf.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 16. Oktober 2012


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